Eine Frau treibt ihre Schafe frühmorgens durch Gaza-Stadt, um sie in der Nähe des Meeres weiden zu lassen. (Bild: Ulrich Schmid)

Eine Frau treibt ihre Schafe frühmorgens durch Gaza-Stadt, um sie in der Nähe des Meeres weiden zu lassen. (Bild: Ulrich Schmid)

Überleben im unbewohnbaren Land

In Gaza haben sich die Lebensbedingungen in den letzten Monaten dramatisch verschlechtert. Ein Frieden zwischen der Hamas und der Fatah könnte die Lage entspannen. Doch es gibt Kräfte, die ihn torpedieren.

Ulrich Schmid, Gaza-Stadt
Drucken

Zuerst melkt er. Dann versorgt er das Pferd, dann sich, und dann fährt Hamdan al-Jiberi mit seiner dreijährigen Stute allmorgendlich los nach Zahra, südlich von Gaza-Stadt, um seine Milch zu verkaufen. Bis letzten August hat er davon leidlich gut leben können. Etwa 5 Liter kaufte eine Familie damals. Heute wird er meist nur noch einen Liter los, obwohl der doch nur 3 Schekel kostet. «Es wird immer schlimmer.» Jiberi ist kein Mann der grossen Worte. Drei Kühe hat er, zusammen mit dem Pferd kosten sie ihn täglich 100 Schekel. Da muss er spitz kalkulieren. Zehn Kinder hat seine Frau geboren. Zwei sind verheiratet und unterstützen ihn, die andern aber «sind immer hungrig. Und oft ist eines krank. Meiner Frau geht's auch nicht gut.» Jiberi bittet Allah um Beistand – «Was soll ich sonst tun?»

In Abbas' Würgegriff

«Immer schlechter, immer schlimmer», sagt auch Mazen Kuhael, ein Handy-Verkäufer in Gaza-Stadt. Weder sein funkelnder Laden noch sein helles Lachen wollen so recht zum traurigen Bescheid passen, doch hier in Gaza ist es wie in China: Je verheerender die Lage, desto fröhlicher das Grinsen. Am Hungertuch nagt Kuhael nicht. Aber die Kunden kaufen kaum noch die Originale, weder iPhones noch Galaxy, sondern greifen meist zum Fake, und das spült halt weniger Geld in die Kasse. Etwa 4000 Schekel, rund 1100 Franken, kostet ein neues iPhone. Kuhael kauft seine Ware bei einem Grossisten, sie kommt aus Ägypten, durch die wenigen Tunnel, die vor zwei Jahren nicht geflutet wurden. Umgerechnet 10 000 Dollar Miete zahlt Kuhael im Jahr, er weiss nicht, wie lange er das noch durchhält. Seine drei Angestellten will er nicht entlassen.

Hamdan al-Jiberi, der Milchmann, mit seiner geduldigen Stute in Zahra. (Bild: Ulrich Schmid)

Hamdan al-Jiberi, der Milchmann, mit seiner geduldigen Stute in Zahra. (Bild: Ulrich Schmid)

Warum ist die Lage so verheerend? «Sie streiten halt», sagt nüchtern Hamdan al-Jiberi, dem das Politische etwas fremd ist. Er meint die Hamas und die Fatah, die Herrscher in Gaza und im Westjordanland, die im letzten Oktober die grosse Versöhnung verkündet haben. «Bis 2006 war alles ok», sagt der Handy-Händler Kuhael, und es ist ihm egal, dass manche diese Bemerkung gegen ihn auslegen könnten. 2005 hat Israel Gaza geräumt, danach warf die Hamas die Fatah nach einem blutigem Konflikt aus dem Streifen. Seither, so Kuhael, ist es schwierig. Aber schlimm, so richtig schlimm ist es erst geworden, seit der Präsident der Palästinenserbehörde, Mahmud Abbas, im letzten Sommer den Zwist absichtlich verschärfte, Hilfeleistungen blockierte, die Stromlieferungen um 40 Prozent reduzierte und die Löhne seiner Beamten kürzte. Natürlich wäre es hilfreich, wenn sich Hamas und Fatah versöhnten. Wird der Friede kommen? «Friede? Niemals!», sagt Kuhael. «Unmöglich.»

Abgeschottet vom Rest der Welt

Die Lage in Gaza ist katastrophal, die Menschen leiden Unsägliches, und Hoffnung auf Besserung gibt es kaum. In den Strassen verrottet der Abfall. 97 Prozent des Trinkwassers sind verseucht. Die Kläranlagen funktionieren nicht richtig, da der Strom oft ausfällt, das Abwasser gelangt ins Grundwasser. 65 Prozent leben unter der Armutsgrenze. Die Wirtschaft liegt darnieder, die Arbeitslosigkeit liegt bei fast 50 Prozent. Die Uno hat schon im letzten Sommer eine drastische Sprache bemüht. In Gaza sei die «Grenze zur Unbewohnbarkeit» bereits überschritten.

Mazen Kuhael, Handy-Verkäufer in Gaza. (Bild: Ulrich Schmid)

Mazen Kuhael, Handy-Verkäufer in Gaza. (Bild: Ulrich Schmid)

Schuldige gibt es viele. Israel hält die Hamas für verantwortlich, die Hamas vor allem die Fatah, die Fatah alle ausser sich selber. International aber ist Israel für die meisten der Hauptsünder, das Gaza gemeinsam mit Ägypten blockiert. Die Welt ist für die Menschen in Gaza nun einmal nur über diese beiden Länder erreichbar, solange Häfen und Flughäfen fehlen. Jerusalem und Kairo kontrollieren den Grenzverkehr scharf und geben kaum Visa. Wenn das keine Blockade ist: Ganze 9600 Personen konnten 2017 aus Gaza ausreisen. Umgeschlagen auf die Bevölkerung von etwa 2 Millionen hiesse das, dass jeder Bewohner einmal in etwa 200 Jahren den engen Streifen verlassen dürfte. Und Ägypten blockt noch mehr als Israel. Keine Macht der Erde, weder internationales Recht noch ein Vertrag zwingen Kairo dazu, Gaza zu isolieren. Doch Präsident Sisi hat den Streifen fast komplett von der Aussenwelt abgeschnitten und versucht, alle Schmuggeltunnel zu fluten. Was ihn antreibt, ist die Sorge, die Hamas könnte mit den Terrorgruppen im Sinai, von denen viele mit dem IS affiliiert sind, kooperieren, auch wenn eine solche Zusammenarbeit zwischen den ideologisch ziemlich unterschiedlichen Organisationen wenig glaubwürdig erscheint.

Ein Defizit an Kaufkraft

Doch diese Rahmenbedingungen sind nicht neu. Sie existieren seit Jahren, und dennoch hat sich die Lage erst im letzten Herbst dramatisch verschlechtert. Warum? Maher al-Tabaa von der Industrie- und Handelskammer nimmt kein Blatt vor den Mund. «Die Lohnpolitik von Präsident Abbas.» Seit Abbas, ermutigt durch die zunehmende internationale Isolation der Hamas, den Streifen in den Würgegriff genommen hat, haben auch die Zehntausende von Fatah-Beamten im Streifen nur noch 30 bis 50 Prozent ihres Lohnes erhalten. Diese Beamten blieben nach dem Krieg von 2006/2007 in Gaza, die Palästinenserbehörde zahlt sie bis heute, obwohl sie nichts tun. Allerdings befeuern sie als Konsumenten die lokale Wirtschaft. Doch nun, von Abbas auf Schmalkost gesetzt, geben sie jeden Monat 2 Millionen Dollar weniger aus, seit dem Sommer also mindestens 160 Millionen Dollar. Das ist Kaufkraft, die Gaza fehlt. Für Maher al-Tabaa ist die Sache klar. «Dies ist der eigentliche Grund für die Notlage.»

Ismail Radwan, ein ranghoher Hamas-Führer, vor einer Fotografie Jerusalems. Den Vorschlag, im Nordsinai einen Staat Palästina einzurichten, hält er für eine Schnapsidee. (Bild: Ulrich Schmid)

Ismail Radwan, ein ranghoher Hamas-Führer, vor einer Fotografie Jerusalems. Den Vorschlag, im Nordsinai einen Staat Palästina einzurichten, hält er für eine Schnapsidee. (Bild: Ulrich Schmid)

Dass nicht mehr nachgefragt wird, das haben Hamdan al-Jiberi, der Milchmann, und Mazen Kuhael, der Handy-Verkäufer, schmerzlich zu spüren bekommen. «Halten Sie sich doch vor Augen», sagt Tabaa. «Vor Abbas' Erpressungsaktion kamen monatlich 700 bis 750 Lastwagen über die Grenze bei Kerem Shalom. Heute sind es noch 300 bis 400 Lastwagen.» Der Mann der Handelskammer, natürlich der Hamas nahestehend, bezieht sich auf die Lieferungen von Lebensmitteln, Baumaterialien und Medizin, die Tag für Tag von Israel nach Gaza gehen. Es wird fast alles importiert. Auch die Avocados, die an Strassenkreuzungen für 4 bis 5 Schekel angeboten werden, kommen aus Israel, genauso wie das in Flaschen abgefüllte Trinkwasser. Gazas Wirtschaft liegt in Ruinen, seit dem Sommerkrieg 2014 nicht nur symbolisch, sondern auch buchstäblich. Exportiert wird praktisch nichts, sieht man von den paar Lastwagen mit Altmetall, Textilien und Möbeln ab, die meist ins Westjordanland gehen. Wenn in einer so winzigen Wirtschaft 160 Millionen Dollar fehlen, wiegt das schwer.

Trumps Kugel für den Friedensprozess

Rettung bringen könnte eine Einigung zwischen der Hamas und der Fatah, meint der Ökonom Maher al-Tabaa. Wenn Abbas wieder Löhne zahle und die Stromzufuhr ganz freigebe, werde sich die Lage bessern. Schwierigkeiten sollte das dem Palästinenserchef keine bereiten. Er sitzt an den Hebeln. Er dosiert die Zuwendungen, von Strom übers Wasser bis zu den Medikamenten, und seit ein paar Wochen sitzen seine Fatah-Leute an den Grenzen, auch am Personen-Übergang bei Erez, was sich äusserst positiv ausgewirkt hat. Doch wird die Einigung kommen? Maher al-Tabaa, zuvor ganz der trockene Ökonom, lacht plötzlich schallend, als hätte man ihm einen grossartigen Witz erzählt. Nein, dazu sagt er nichts. Dies vielleicht: «Es wäre wünschenswert, denn dann wäre wenigstens das Schlimmste vorbei. Doch wahre Abhilfe wird nur die Beendigung der Blockade schaffen.»

Diese scheint aber nicht so schnell in Sicht, genauso wenig wie die innerpalästinensische Einigung. Dieser Meinung ist auch Ismail Radwan, ein ranghohes, aber noch relativ junges Hamas-Führungsmitglied. Die ganzen Verhandlungen, sagt er, hätten nichts gebracht, obwohl die Hamas «alles gegeben» habe. Schuld seien Abbas und der amerikanische Präsident Donald Trump, der dem Friedensprozess «eine Kugel in den Kopf» geschossen habe. Im Dezember anerkannte Trump Jerusalem als israelische Hauptstadt. Warum das Statement des amerikanischen Präsidenten die Palästinenser zum Streit verdammen sollte, kann Radwan irgendwie nicht erklären. Eins aber ist für ihn sonnenklar. Frieden gibt es erst, wenn Jerusalem die Hauptstadt Palästinas wird. Für Vorschläge wie den, einen künftigen Staat Palästina von Gaza aus in den Nordsinai hineinwuchern zu lassen, hat Radwan nichts übrig: «Kompletter Nonsens.» Nie werden die Palästinenser eine solche Idee akzeptieren. Und die Entwaffnung der Kassem-Brigaden, des militärischen Arms der Hamas, die Abbas ultimativ verlangt hat? Radwan winkt verächtlich ab. Darüber redet man frühestens, wenn die Besetzung vorüber ist. «Die Brigaden sind ein Instrument zur Beendigung der Besetzung. Und die dauert an.»