In Amerika steigt die Nervosität vor den Wahlen

Läden verbarrikadieren Schaufenster, Studenten in der Hauptstadt sollen Notvorräte anlegen, und die Stimmzettel von Millionen von Briefwählern sind noch nicht eingetroffen. Unzählige Berichte darüber, was alles schiefgehen könnte, verstärken die Unruhe.

Peter Winkler, Washington
Drucken
Am Samstag waren fast 59 Millionen ausgesandte Briefwahl-Stimmzettel zurückgeschickt worden. Mehr als 32 Millionen Stimmen stehen aber noch aus.

Am Samstag waren fast 59 Millionen ausgesandte Briefwahl-Stimmzettel zurückgeschickt worden. Mehr als 32 Millionen Stimmen stehen aber noch aus.

Jeff Chiu / AP

Nach acht Monaten Covid-19-Pandemie liegen die Nerven nicht nur in den Vereinigten Staaten blank. Aber hier kommen zu der Seuche und ihren wirtschaftlichen Folgen noch eine monatelange Welle von Protesten gegen Polizeigewalt an Afroamerikanern und verschiedene Horrorszenarien hinsichtlich der anstehenden Wahlen hinzu: dass Millionen von Stimmen für ungültig erklärt würden, dass es bei Wahllokalen zu Gewalt komme, dass es endlose Gerichtsklagen gegen das Resultat gebe und dass der Präsident eine allfällige Niederlage nicht akzeptieren werde. Selbst Menschen mit einem stabilen Nervenkostüm fällt es gelegentlich schwer, dem Sog der vorauseilenden Panik zu widerstehen.

Vorbereiten auf Proteste

Die Medien sind sich bewusst, dass sie mit Berichten über diese Entwicklung einerseits ein Informationsbedürfnis befriedigen, anderseits aber auch für Rückkoppelung sorgen und die Unruhe verstärken. Aus verschiedenen Städten – darunter New York, Chicago, Washington oder San Francisco – wurde übers Wochenende berichtet, dass Ladenbesitzer ihre Schaufenster mit Spanplatten sicherten, weil sie am Wahltag oder danach Proteste und Plünderungen befürchten.

Ladenbesitzer in den USA bereiten sich mit hölzernen Schutzwänden vor ihren Schaufenstern auf mögliche Ausschreitungen und Plünderungen vor. Im Bild ein verbarrikadierter Laden in der Boylston Strasse in Boston.

Ladenbesitzer in den USA bereiten sich mit hölzernen Schutzwänden vor ihren Schaufenstern auf mögliche Ausschreitungen und Plünderungen vor. Im Bild ein verbarrikadierter Laden in der Boylston Strasse in Boston.

Michael Dwyer / AP

In der Hauptstadt Washington hat eine Gruppe schon zu Protesten aufgerufen, und die Behörden haben mehrere Gesuche für Demonstrationen erhalten. Wie viel Echo die Aufrufe angesichts der Nervosität finden werden, ist unmöglich zu sagen. Immerhin wies die Leitung der renommierten George-Washington-Universität die Studierenden an, sich wie angesichts eines nahenden Hurrikans oder Blizzards mit einem Notvorrat an Lebensmitteln und Medikamenten einzudecken.

Eine Lawine von Wahlzetteln per Post

Zunehmend atemlos erscheinen die Berichte darüber, was bei der Wahl und der Stimmenauszählung alles schiefgehen könnte. Es gibt im Wesentlichen drei Hauptursachen dafür. Die erste ist, dass wegen der Corona-Seuche eine beispiellose Zahl von Wahlzetteln für die Briefwahl versandt wurde. Gemäss dem U. S. Elections Project der University of Florida waren am Samstag fast 59 Millionen ausgesandte Briefwahl-Stimmzettel zurückgeschickt worden, aber mehr als 32 Millionen noch nicht. Das «Wall Street Journal» kam daraufhin zum – nicht wirklich beruhigenden – Schluss, dass gerade in den hart umkämpften Gliedstaaten, die 2016 mit einigen zehntausend Stimmen den Ausschlag für Donald Trump gegeben hatten, «Millionen von Stimmen in Gefahr» seien.

In Tat und Wahrheit ist allerdings völlig offen, was die hohe Zahl der noch ausstehenden Briefwahl-Stimmzettel bedeutet. Vielleicht ist es Nachlässigkeit, vielleicht hatten die betroffenen Wählerinnen und Wähler nie beabsichtigt, ihre Stimmen abzugeben, vielleicht sind verbreitete Verspätungen in der Postzustellung dafür verantwortlich oder der Umstand, dass sich manche gerade wegen dieser Verspätungen entschlossen, doch lieber persönlich wählen zu gehen. Das wäre verständlich, denn vielerorts bombardieren die Behörden die Bevölkerung seit Tagen mit der Warnung, die Frist für eine garantierte Postzustellung ihrer Stimmzettel sei nun endgültig verstrichen.

Die zweite Hauptursache ist, dass Präsident Trump seit Monaten behauptet, die Abstimmung werde wegen der vielen Stimmen per Briefwahl ohne jeden Zweifel gefälscht. Beide grossen Parteien haben ein Heer von Anwälten aufgeboten, um gerichtlich auf alles zu schiessen, was sich regt. Der dritte Grund ist schliesslich, dass eine reale Gefahr droht, dass frühe Teilresultate einen anderen Ausgang nahelegen, als die spätere Auszählung der Briefwahlstimmen dann hervorbringt.

Rotes Trugbild, blaue Verschiebung

Man spricht vom «roten Trugbild» («red mirage»), das den Republikanern frühe Erfolge zuschreiben könnte, weil ihre Wähler eher persönlich an die Urne gehen als jene der Demokraten. Mit der Auszählung der Briefwahlstimmen in den Tagen danach könnte es dann aber zu einer «blauen Verschiebung» («blue shift») kommen, die das provisorische Resultat auf den Kopf stellt. Entscheidend wäre, wie sich Trump und die Republikaner im Kongress in einem solchen Fall verhalten. Für die Prognose, dass der Präsident ein Reifezeugnis ablegen würde, gibt es kaum Argumente.

Weitere Themen