Gastkommentar

Covid-19-Schock: schlafendes Kapital in Entwicklungsländern wecken

Millionen von armen Menschen in Entwicklungsländern sind durch Covid-19 besonders bedroht. Viele haben individuellen oder kollektiven Besitz, der aber nicht legal gesichert ist. Deshalb können auch keine Investitionen getätigt oder Kredite vergeben werden.

Hernando de Soto
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Blick vom San Cristobal Hügel in Lima.

Blick vom San Cristobal Hügel in Lima.

Paolo Aguilar / EPA

Zum Internationalen Tag der Arbeit am 1. Mai 2020 prognostizierte Guy Ryder, Generaldirektor der ILO, dass Covid-19 über die Hälfte der arbeitenden Weltbevölkerung – also rund zwei Milliarden Menschen – in absolute Armut fallen lasse: ohne Arbeit, ohne Kapital oder Kreditzugang. In der Tat stammen die grössten Infektionsraten aus Ländern wie Brasilien, Indien, Ecuador, Peru und vielen mehr. Megacitys wie Lagos weisen grosse Armutsquartiere auf, die eine 20-mal grössere Bevölkerungsdichte als New York haben. Für Hunderte Millionen von Menschen und Kleinstunternehmern brechen Löhne oder Umsätze und Verdienste weitgehend weg. Ihre Möglichkeiten zum Sparen oder für eine Kreditaufnahme sind eingebrochen, ihre Existenz ist stark gefährdet.

Das Eigentum im Zentrum

Thomas Piketty, der bekannte französische Ökonom, schlägt zur Bekämpfung der wachsenden Armut vor, dass die dafür notwendigen Geldtransfers zugunsten der ärmeren Bevölkerung durch eine höhere Besteuerung der Vermögenden und die Nationalisierung von Kapitalgütern zu finanzieren sei. Denn in seiner Sicht ist die Kapitalakkumulation in wenigen Händen eine zwingende Logik des Systems. Damit liegt er falsch. Denn wie bereits Thomas Jefferson 1818 –Marx wurde in diesem Jahr erst geboren – formuliert hat: Geld, auch Schulden, ohne Bezug zu Ressourcen oder produktiven Tätigkeiten ist fiktiv. Reales Kapital hingegen muss immer mit Eigentumswerten hinterlegt sein.

Arme Leute in Entwicklungsländern haben zwar nur wenig oder kein Geld, aber viele haben individuellen oder kollektiven Besitz – wie etwa ein Landstück oder ein kleines Haus. Diese Besitztümer sind aber vielfach nicht legal gesichert. Reales Kapital liegt somit brach, könnte aber durchaus monetarisiert werden. Doch zu viele administrative und legale Hindernisse behindern dies, und genau hier liegt ein strategischer Schlüssel für eine wirksame Bekämpfung der Armut gerade auch in Covid-19-Zeiten.

Unsere Untersuchungen in Peru und in vielen Entwicklungsländern zeigen folgende Erkenntnisse und Potenziale: Menschen im informellen Sektor der Wirtschaft besitzen insgesamt grosse Landflächen und verfügen damit über grosse Potenziale. Dies ist das Resultat von langjähriger massiver, meist ungeregelter Migration in unbewohnte Gebiete oder von Agrarreformen. In Peru beispielsweise besitzen ärmere Bevölkerungsgruppen Landflächen, bei denen Konzessionsrechte für unterirdisch liegende Öl-, Gas- und Mineralreserven von der Landesregierung bereits an grosse Förderfirmen vergeben wurden. Die daraus entstehenden Konflikte sind erheblich. In der Regel blockieren die ärmeren Bewohner jede Extraktion, weil sie von der Agrar- und Viehwirtschaft leben. Gemäss unseren Schätzungen werden auf diese Weise weltweit Werte blockiert, die etwa dem Fünffachen der BIP der USA und Chinas zusammen entsprechen.

Weshalb bleiben diese Ressourcen blockiert, obwohl man sie angesichts der gegenwärtigen Covid-19-Problematik aus volkswirtschaftlichen Gründen dringend benötigen würde, um eine gigantische Verschuldung zu vermeiden? Unsere Analyse der Eigentumsrechte in Peru zeigt Folgendes, was für viele andere Entwicklungsländer auch gilt: In zahlreichen Gesetzen, gerichtlichen Entscheidungen und Regierungsverordnungen wird das informale Eigentumsrecht an Landbesitz bestätigt, unter dem sich grosse Minenreserven befinden. In einem ILO-Bericht aus dem Jahre 2004 (an dem ich gemeinsam mit Joseph Stiglitz und John Sweeney mitgearbeitet habe), der von 182 Nationen zustimmend zur Kenntnis genommen wurde, mussten wir feststellen: Der informale Land- und Hausbesitz ist in den meisten Entwicklungsländern zwar enorm gross und vielfältig, er wird jedoch aufgrund fehlender Eigentumstitel zumeist nicht als Sicherheit für Kredite oder Investitionen im Markt akzeptiert. Der informalen Ökonomie fehlt somit gewissermassen die praxisrelevante legale Grundlage.

Es wäre dringend notwendig, durch gesetzliche Anpassungen eine legale Grundlage zu schaffen, damit das Eigentumspotenzial der informalen Wirtschaft genutzt werden kann. Nur so können Investitionen getätigt und Kredite gesprochen werden, damit das gerade jetzt dringend erforderliche volkswirtschaftliche Wachstum stimuliert wird. Alle entwickelten Länder und «emerging economies» haben diese Schritte unternommen und besitzen deshalb effektive und effiziente Regelwerke, basierend auf klaren Eigentumsrechten. Sie können deshalb auch internationale Wirtschafts- und Handelsabkommen eingehen, insbesondere Investitionsabkommen.

Zertifizierungen notwendig

Adam Smith und Karl Marx waren sich in diesem Punkt einig: Kapital ist der Motor für das Wachstum. Im 21. Jahrhundert müssen wir nun aber feststellen, dass weltweit rund zwei Milliarden Menschen nach wie vor in Informalität leben und arbeiten und deshalb durch Covid-19 existenziell bedroht sind: Sie haben Eigentum, oft sogar mit formalen Eigentumstiteln, können damit aber nicht viel bewegen. Dies vor allem deshalb, weil Eigentumstitel erst dann einen wirtschaftlichen Wert bekommen, wenn eine lange Kette von legalen Zertifizierungen und Dokumenten diesen Wert auch garantiert. Wir kennen diese Zertifizierungen, legalen Bestätigungen, Titel-Absicherungen usw. bestens aus den entwickelten Ländern. Sie bewirken hier Transparenz, Legalität, Handelbarkeit und Zuverlässigkeit. Nur so entsteht auch ein wachsender Wert für Eigentum.

Eigentum allein reicht also nicht, entscheidend ist, dass die formalen legalen Grundlagen geschaffen werden, um dieses Eigentum auch wirklich nutzbar zu machen. Gespräche mit amerikanischen und europäischen Investoren, mit Banken und Versicherungen zeigen denn auch ein rasch wachsendes Interesse für diese Strategie. Wir können Covid-19 nur rasch und nachhaltig bekämpfen, wenn es uns gelingt, gemeinsam und zum Nutzen der armen Bevölkerung schlafendes Kapital zu wecken und es für eine nachhaltige Entwicklung einzusetzen. Covid-19 ist in diesem Sinne hoffentlich ein heilsamer Schock, der künftig einen fairen, effizienten und transparenten Kapitalismus ermöglicht, der Wachstum und Wohlfahrt fördert.

Hernando de Soto ist Gründer und Präsident des Instituto Libertad y Democracia in Lima, Peru (Übersetzung: Ernst A. Brugger).