Kommentar

Die EU als Rechtsgemeinschaft muss den Angriff aus Polen parieren – aber sie muss sich auch verändern

Für die Verfassungsrichter in Warschau sind wichtige Teile der EU-Verträge unvereinbar mit polnischem Recht. Sie sagen, nationales Recht breche europäisches Recht. Was heisst das für eine Union, in der Milliarden verschoben werden?

Andreas Ernst 71 Kommentare
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Die EU hat bei der Verteidigung des Rechtsstaats viele polnische Verbündete.

Die EU hat bei der Verteidigung des Rechtsstaats viele polnische Verbündete.

Beata Zawrzel / Imago

Die EU entwickelt sich bekanntlich im Stolperschritt. Sie taumelt von Krise zu Krise, und es ist eigentlich erstaunlich, dass sie bisher nie so richtig auf die Nase gefallen ist. Die letzte grosse Hürde war der Brexit, an dessen Nachwehen aber vor allem Grossbritannien und seine unmittelbaren Nachbarn herumlaborieren. Die Union als ganze hat den Abgang der Briten geschlossen gemeistert. Auch die Flüchtlingskrise 2015 und die Euro-Krise nach 2008 sind überstanden. Oder genauer gesagt: Sie haben sich in reguläre Grossbaustellen verwandelt, an denen der politische Betrieb sich abarbeitet.

Jetzt steht die nächste Krise ins Haus. Das polnische Verfassungsgericht hat unter dem Einfluss der Regierung vor einer Woche einen fünfjährigen Streit mit der EU eskalieren lassen. Es hat entschieden, dass wichtige Teile der europäischen Verträge dem polnischem Recht widersprächen und deshalb nicht anwendbar seien. Mehr noch: Das Gericht bestreitet den grundsätzlichen Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht und behauptet sogar, dass Teile der europäischen Verträge «Polen als demokratischen und souveränen Staat gefährden».

Das ist dicke Post. Warschau stellt damit die Machtfrage: Bestimmen die EU-Mitgliedstaaten je für sich, wo die Grenzen zwischen Unionsrecht und nationalem Recht verlaufen, oder ist der Europäische Gerichtshof (EuGH) in letzter Instanz zuständig für die Auslegung der Verträge?

Brüssel und die Mitgliedstaaten müssen auf die Herausforderung aus Polen eine klare Antwort finden. Die Zukunft der EU als Rechtsgemeinschaft steht auf dem Spiel. Denn hinter dem polnischen Veto gegen die angebliche Einmischung der europäischen Richter steht eine Regierung, die sich die Justiz gefügig machen will.

Aber der Streit bringt – jenseits der Querele um Polen – auch ein legitimes Unbehagen zum Ausdruck. Es betrifft das Konstruktionsprinzip einer Union, die sich stark über das sogenannte Richterrecht entwickelt, also über die Rechtsprechung – im Gegensatz zur Gesetzgebung via Parlament, Rat oder Kommission. Damit verbunden ist die Frage, ob die EU in ihrer jetzigen Gestalt die Vielfalt ihrer Mitglieder angemessen repräsentiert.

Gegen die Gewaltenteilung

Doch zunächst zu Polen. Weshalb muss die EU die nationalkonservative PiS-Regierung klar in die Schranken weisen? Weil es dieser Regierung darum geht, die Gewaltenteilung aufzuheben und den Rechtsstaat auszuhebeln. Um das möglichst ungestört zu erreichen, versucht sie die Kontrolle der übergeordneten europäischen Rechtsprechung auszuschalten. Genau darauf zielt das Urteil des Verfassungsgerichts ab: Es immunisiert den Bruch des Rechtsstaats gegen den Einspruch der höheren Instanz.

Sein Entscheid, das polnische Recht grundsätzlich über das europäische zu stellen, ist der Kulminationspunkt eines fünfjährigen Projekts, das die Regierung zielstrebig unter dem Titel einer Justizreform verfolgte. Sie begann 2015 damit, dass sie das Pensionsalter von Verfassungsrichtern reduzierte, um jene loszuwerden, die ihr nicht genehm waren. Dann schuf sie 2018 eine Disziplinarkammer und beschickte sie mit loyalem Personal, um missliebige Richter zurechtweisen und versetzen zu können.

Den Richtern wurde die Möglichkeit genommen, in Streitfällen mit den Behörden die Meinung des Europäischen Gerichtshofs einzuholen. Und schliesslich nahm bei der Neubesetzung von Stellen am Verfassungsgericht die Regierung direkten Einfluss – bei jenem Gericht also, das jetzt das spektakuläre Urteil fällte. Mehrfach hatten europäische Gerichte diese Massnahmen gerügt und damit den Zorn Warschaus auf sich gezogen.

Was den Fall Polens von Deutschland unterscheidet

Es ist nicht das erste Mal, dass nationale Gerichte gegen den Vorrang europäischen Rechts rebellieren. Ab den 2010er Jahren gingen dem polnischen ein tschechisches, dann ein dänisches und im Mai 2020 ein deutsches Gericht voraus. Was das polnische Urteil aber von seinen Vorgängern unterscheidet, ist seine Unbedingtheit. Noch nie, so die Basler Europarechtlerin Christa Tobler, habe ein nationales Gericht in so grundsätzlicher Art den Vorrang europäischen Rechts zurückgewiesen.

Zwar warf 2020 auch das deutsche Bundesverfassungsgericht dem EuGH vor, die Kompetenzen zu überschreiten. Aber dies mit Blick auf einen klar begrenzten Akt: nämlich die vom EuGH erteilte Bewilligung zum Kauf von Eurobonds. In der Begründung räsonierten die deutschen Richter in Karlsruhe ausgiebig darüber, wie Abhilfe geschaffen und die Auffassungen sich annähern könnten. Der Konflikt mit Karlsruhe, glaubt der Berliner Verfassungsrechtler Alexander Thiele, könne juristisch irgendwie gelöst werden. Für den Streit mit Polen dagegen gebe es keine Lösung. Jedenfalls nicht auf dem Rechtsweg.

Finanzielle Feuerkraft Brüssels

Bleibt die Politik. Und da steht der Union und den Mitgliedstaaten ein eindrückliches Arsenal bereit, um Polen zu einer Kursänderung zu bewegen. Seine Feuerkraft ist das Geld.

Warschau möchte aus dem Corona-Aufbaufonds 36 Milliarden Euro beziehen, um Pandemieschäden zu beheben und Investitionen in Zukunftsindustrien zu tätigen. Darüber hinaus soll Polen bis 2027 zusätzlich 121 Milliarden Euro an Zahlungen aus dem Strukturfonds erhalten.

Doch seit Anfang Jahr gibt es den sogenannten Rechtstaatsmechanismus, der Zahlungen davon abhängig macht, dass in den Empfängerländern rechtsstaatliche Verhältnisse herrschen. Denn nur wenn unabhängige Gerichte ihre Arbeit tun, so die Logik, können die Steuerzahler Europas davon ausgehen, dass ihr Geld korrekt verwendet wird. Eine Transferunion ohne rechtliche Kontrollen ist unzumutbar.

Natürlich unternimmt die Regierung in Warschau alles, um diese Massnahmen als antipolnische Verschwörung von EU-Bürokraten darzustellen. In diese Falle dürfen Kommission und Hauptstädte nicht tappen. Sie müssen klar kommunizieren, wie wichtig Polen für Europa ist – und dass genau deshalb alle Europäer ein Interesse an der Verteidigung des polnischen Rechtsstaates haben. Glücklicherweise gibt es in Polen eine starke Bewegung aus Bürgern, Politikern und Richtern, die für den Rechtsstaat einstehen. Das Gerede über einen «Polexit» (den ohnehin nur das Land selber beschliessen könnte) ist da wenig hilfreich.

Für eine differenzierte Mitgliedschaft

Doch die Souveränitätsfrage, die in vielen Mitgliedstaaten gestellt wird, verdient eine ernsthafte Diskussion. Sie darf nicht den Nationalisten und EU-Gegnern überlassen werden. Vielleicht ist ja die jetzige Form der Mitgliedschaft nicht der Weisheit letzter Schluss. Ein guter Ausgangspunkt, das zu erörtern, ist Präsident Macrons Idee eines Europa der konzentrischen Kreise: mit einer stark integrierten Euro-Zone im Zentrum, um das sich ein Kreis von Vollmitgliedern im gemeinsamen Markt legt, ergänzt mit einer locker assoziierten Ländergruppe.

Eine differenzierte Mitgliedschaft würde die unterschiedlichen Bedürfnisse, Möglichkeiten und Traditionen der europäischen Staaten und Gesellschaften besser abbilden.

Das Gegenargument, ein solches Drei-Kreise-Europa sei nicht handlungsfähig, überzeugt jedenfalls nicht. Immer, wenn Europa tatkräftig ist, sind es Koalitionen von Willigen, die gemeinsam etwas zustande bringen. Und fast immer, wenn Einstimmigkeit notwendig ist, werden die Probleme verschleppt. Auch die Kohäsion gelingt in einem Verband besser, wenn jedes Mitglied einen passenden Platz findet, statt sich in ein enges Korsett zwängen zu müssen.

Schliesslich könnte auch der Erweiterungsprozess, der völlig zum Stillstand gekommen ist, durch eine mehrstufige Mitgliedschaft wiederbelebt werden. Auf dem Balkan häufen sich die Krisen, seit klar geworden ist, dass die EU keine Mitglieder mehr aufnehmen will. Warum dann nicht den Anschluss an den gemeinsamen Markt anbieten, mit der Möglichkeit, sich später vielleicht stärker zu integrieren?

Kurz: Die Krise, die Polen gerade angezettelt hat, könnte auch Anlass sein, sich grundsätzliche Gedanken zum europäischen Projekt zu machen. Es wäre allerdings ein Irrtum zu glauben, dass Warschau das im Sinn hat. Was die polnische Regierung versucht, ist nichts anderes, als bei voller Mitgliedschaft den Rechtsstaat auszuhöhlen und gleichzeitig die Milliarden-Benefits aus Brüssel einzustreichen. Für diesen Trick gibt es sicher auch eine polnische Redewendung. Sinngemäss übersetzt hiesse sie: Wir wollen «den Fünfer und das Weggli».

71 Kommentare
H. E. A.

Sorry, selten habe ich in der NZZ einen derartigen Unsinn gelesen. Es gibt kein EU-Staatsvolk, die EU Verfassungsinitative ist grandios gescheitert, das EU Prinzip der Subsidiarität erodiert immer stärker. Es gibt aber den permanenten Vertragsbruch von Maastricht bis Dublin. Und es gibt eine permanente Anmaßung der nur sekundär legitimierten EU Kommission (unterstützt von der EU Gerichtsbarkeit und dem nicht demokratisch gewählten EU Parlament) nationale Souveränitätsrechte zugunsten einer elitären Technokratie zu beschneiden. Die EU hat dann eine Zukunft, wenn sie endlich den unerträglichen Lobbyismus bekämpft, sich von ihren Allmachtsphantasien verabschiedet und der europäischen, nationalen Vielfalt endlich wieder den notwendigen Raum einräumt. Dann besteht die Chance zu mehr Innovation, mehr Wohlstand und höherer Wettbewerbsfähigkeit. Nur daraus und nicht aus dem aktuellen autoritären Gehabe kann die notwendige Stabilität und Zustimmung in der Bevölkerung erwachsen. 

Gerhard Rinker

Das Hauptproblem liegt nicht in Warschau, sondern in Brüssel. Was ist bei der EU schon demokratisch? Eine im Hinterzimmer "demokratisch ausgekungelte" Präsidentin, für die der richtige Stuhl wichtiger ist als die rechtzeitige Beschaffung von lebensrettenden Impfstoffen? Übrigens, in Deutschland existiert eine seltsame Form der Demokratie: Minister, also Angehörige der Exekutive, müssen zwingend zugleich Mitglieder des Parlaments, also der Legislative sein. Die Staatsanwaltschaften sind nicht unabhängig, sondern weisungsbefugt. Es stört offenbar niemand, dass die Verfassungsrichter bei einem trauten Dinner im Kanzleramt – im Kreise des fast vollzähligen Kabinetts – Themen von Klagen gegen die Regierung besprechen, die nur kurze Zeit später in Karlsruhe verhandelt werden. Und wer bestimmt in Deutschland die obersten Verfassungsrichter? Fazit: Wer in einem solchen Glashaus sitzt wie Deutschland, sollte sich im Fall Polen ganz ruhig verhalten.