Gastkommentar

Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit – nicht Endlichkeit, sondern Ewigkeit ist die grosse Kränkung der Menschheit

Noch immer ist der «Tod Gottes» unbestätigt, und doch schreitet die Entgottung des öffentlichen Lebens in den modernen Gesellschaften voran. Trotzdem bleibt der rationale Mensch, wenn er die Angst vor der Leere bannen will, angewiesen auf den Gegenpol der Transzendenz.

Konstantin Sakkas 99 Kommentare 6 min
Drucken

Die grösste, erschütterndste Filmszene dieses Jahres findet sich in der finalen Staffel der Serie «The Crown». Mohamed al-Fayed lässt sich zu der Stelle fahren, an der sein Sohn Dodi und Lady Diana soeben tödlich verunglückt sind. Der ägyptische Milliardär, der davon geträumt hatte, seinen Sohn an die ehemalige Kronprinzessin von Grossbritannien zu verheiraten und dadurch endlich von der britischen Oberschicht akzeptiert zu werden, steigt aus der Limousine, geht zur Absperrung und spricht mit brechender Stimme zweimal den Satz: «La hawla wa-la kuwata illa bi-llah.» – «Es gibt keine Macht und keine Kraft ausser bei Allah.»

«Timor ab initio fecit deos» – «Im Anfang schuf die Furcht die Götter», und so steht das Schwinden des Glaubens an Gott in Verbindung mit dem Schwinden der Furcht vor der Welt im Wege ihrer rationalisierenden Entzauberung. Nun sind es freilich nicht so sehr die Erklärungen für Weltereignisse, die Gott – wohlgemerkt im eurasisch-atlantischen Kulturraum – überflüssig gemacht haben, als vielmehr das Wissen um und das Sich-Verlegen auf die Möglichkeiten, mit den Ereignissen fertigzuwerden.

Auch heute kann ein Komet auf die Erde stürzen, und zu wissen, dass dies mit Schwerkraft und Flugbahnen zu tun hat, macht die Folgen nicht weniger schlimm als im Jahr 1450. Aber wir sind heute so weit, zumindest im machbaren kleinen Rahmen Vorkehrungen zu treffen, dass der Komet uns doch nicht trifft. Das Gleiche gilt für die Abstammungslehre und die Psychologie; die angeblichen Kränkungen der Menschheit sind in Wahrheit ihre Befreiungen zur Problemlösung anstelle des fatalistischen Sich-in-sie-Ergebens. Das transhumanistische Projekt, auch das (zumindest gewaltlose) Sterben irgendwann abzuschaffen, stellt eine vielleicht nicht mehr ferne Steigerung dieses Prozesses dar.

Vertagte Apokalypse

Die moderne Gottesferne ist also ein Produkt des modernen Solutionismus, des Prinzips oder der Ideologie der «Lösbarkeit». Eine Gesellschaft, die bei Wassermangel ihre Pump- und Speichersysteme modernisiert, hat die Beschwörung der Salzgöttin ebenso wenig nötig wie den Aufruf zur Nachfolge Christi, der sich bekanntlich «aus freiem Willen dem Leiden unterwarf». Wenn Gott überflüssig geworden ist, dann aus utilitaristischer oder funktionalistischer Sicht, das heisst aus der Warte des Um-zu.

Die Entgottung des öffentlichen Lebens in den modernen Gesellschaften ist also eigentlich eine Deesoterisierung der Welt im Wege dessen, was man «Vertagung der Apokalypse» (Hans-Peter Hempel) und «Paradoxie der Erfüllung» (Martin Seel) genannt hat. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass, was heute als Esoterik ein von der offiziellen Religion misstrauisch beäugtes Untergrunddasein führt, geradezu das Essentiale von Religion ist.

Der abrahamitische Mensch begreift sich als auf einem Zeitstrahl, ins Offene gestellt, ohne Anfang und Ende.

Das «Hilf, heilige Anna, ich will ein Mönch werden» des jungen Luther drückt jenes Wünschen und Hoffen aus, als das Religion je wirklich wird. Das Gefühl indes, dass «Gott aber gestorben ist», wie Hegel (nicht erst Nietzsche!) 1807 in der «Phänomenologie des Geistes» feststellte, ist eben nicht Reaktion auf eine eingetretene Apokalypse, als die man das Erdbeben von Lissabon sechzig Jahre zuvor las, sondern auf deren Vertagung durch Pockenimpfung und Eisenbahn.

Dass aber Gott tot sei, heisst eines eben nicht: dass es ihn nicht gebe. Wenn die christlichen Kirchen in Europa fortschreitend Mitglieder verlieren, ist das kein Zeichen für Despiritualisierung, sondern nur für Deliturgisierung. Einen Reim auf die Ekstatik von Existenz, also auf die Tatsache, dass wir bewusst an einem Punkt in den Strom des Lebens ein- und an einem anderen wieder aus ihm austreten, muss sich jeder und jede weiterhin machen, auch ohne Fronleichnamsprozession und Abendmahl. Ob er dies auch in feste dogmatische Formen fasst, sei es esoterisch, strengreligiös oder synkretistisch, ist eigentlich sekundär.

Ganz unerheblich ist es freilich nicht. Der Monotheismus, die Bekenntnisform von etwa der Hälfte der Weltbevölkerung, unterscheidet sich von polytheistischen, animistischen und esoterischen Überzeugungen darin, dass schon an seinem Anfang die Rationalisierung der Dinge statt ihrer Beschwörung steht.

Die Dinge verstehen und nutzen

Der Philosoph Omri Boehm hat dies anhand der Urszene des eurasischen Monotheismus, der Opferung Isaaks, herausgearbeitet: Es ist die alte Vielgötterei, sich ausdrückend in dem pluralischen Gottesnamen Elohim, die von Abraham, damit dessen Pläne gedeihen, die Opferung seines Sohnes fordert; und es ist die Stimme des singularischen neuen Gottes JHWH, die Abraham die Nichtfunktionalität des Menschenopfers klarmacht: Es bedarf keiner Schlachtung des Liebsten, damit die Dinge vorangehen, sondern lediglich des Verstehens und der Nutzbarmachung der Dinge.

Und so ist die Szene auf dem Berg Morija die Urszene des modernen Solutionismus: «Abraham erhob seine Augen, sah hin und siehe, ein Widder hatte sich hinter ihm mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen. Abraham ging hin, nahm den Widder und brachte ihn statt seines Sohnes als Brandopfer dar.» Das Problem, das angeblich die Opferung des Sohnes nötig macht, wird auf ganz dingliche, instrumentelle Weise gelöst durch die Schlachtung eines simplen Widders.

Die solutionistische Aussage dieser Szene strahlt aus dem Judentum hindurch auf seine zwei Nachfolgereligionen. Im Christentum entpuppt sich der Tod des Gottessohns am Kreuz als Scheintod, und die Sendung Mohammeds beginnt als Alphabetisierung, indem der Engel den des Lesens unkundigen Kaufmann aus Mekka imperativ auffordert: «Lies!», woraufhin dieser auf einmal lesen, sprich die Welt verstehen kann.

Folgt man dieser «rationalistischen» Interpretation des Monotheismus, so steht der Glaubensschwund der Moderne nicht etwa gegenläufig zu ihm, sondern schreibt ihn fort. Und noch durch ein weiteres Kriterium unterscheidet sich der Monotheismus von anderen spirituellen Formen, nämlich seine geschichtsphilosophische Aufladung. Dem Monotheismus eingeschrieben ist ein linearer Zeitbegriff und mit ihm die Vorstellung von einer Menschheit, die sich «auf der Reise» befindet.

Alle drei abrahamitischen Religionsstiftungen beginnen mit einer Reiseerzählung: Abrahams Reise nach Kanaan, die Flucht nach Ägypten, Mohammeds Flucht nach Medina. Der abrahamitische Mensch – soll man ihn den exemplarischen Homo sapiens nennen? – begreift sich als auf einem Zeitstrahl, ins Offene gestellt, ohne Anfang und Ende.

Hannah Arendt hat auf die Bedeutung des Unterschieds zwischen Unsterblichkeit (die die fatale Frage nach der vorgeburtlichen Herkunft umkurvt) und Ewigkeit (die weder Ende noch Anfang hat) für die Unterscheidung zwischen poly- und monotheistischen Denominationen hingewiesen. Der Gott Abrahams hat nicht nur kein Ende, sondern auch keinen Anfang, er ist, anders als die Götter der alten Griechen, nicht irgendwann «am Anfang» aus einem indefiniten Chaos heraus entstanden.

Was aber für Gott gilt, gilt auch für die Zeit, und so ist die eigentliche Kränkung des menschlichen Geistes die, in einer antinomischen Zeitlichkeit zu existieren, die, indem sie uns Anfang und Ende suggeriert, uns diese gleichzeitig immerzu entzieht, weil vor und nach jedem Zeitpunkt logischerweise ein weiterer stehen muss. Die Annahme des Urknalls als «Beginn von allem» stellt hiergegen eine allzu leicht durchschaubare Zuflucht dar.

Die Macht des Schicksals

Vor genau hundert Jahren legte der russische Physiker Alexander Friedmann in dem Aufsatz «Über die Möglichkeit einer Welt mit konstanter negativer Krümmung des Raumes» die Grundlagen der Urknallhypothese, die das Ewigkeitsproblem quasi wegberechnet, indem sie die Fiktion eines «Anfangs von allem» errichtet, und die gerade erst in diesem Jahr durch die Neuberechnung des Alters primordialer Sterne wissenschaftlich infrage gestellt worden ist.

So bleibt, wenn die Furcht vor konkretem Übel durch die Verwaltung der Welt mehr und mehr überflüssig wird, die abstrakte Angst vor der Anfangs- und Endlosigkeit des In-der-Welt-Seins. Jeder «Schicksalsschlag», jedes Auftreten von Unwiederbringlichkeit, also von Endlichkeit, wirkt hiergegen als Heilmittel.

Mit dem Tod des Sohnes schloss sich, wenn auch schmerzhaft, für Mohamed al-Fayed, der am 30. August dieses Jahres verstarb, ein Kreis. Gerade die sich hieraus ableitende Fiktion von Zyklizität ist heilsam; sie befördert den Menschen aus der Leere der totalen Offenheit des Immer-schon und des Immer-weiter zurück in die fiktive Geschlossenheit einer Raumzeit, die mit einem Urknall beginnt und mit einer Apokalypse endet.

Hiervon ausgehend erscheinen die mit dem anthropogenen Klimawandel verbundenen Untergangsängste als Strategien der Beschwichtigung der menschlichen Urangst vor dem Offenen. Die Vision der Möglichkeit eines Menschheitsendes besänftigt die eigentliche Angst, nämlich die vor der Uferlosigkeit des Immer-weiter, die zu einem seiner Zeitlichkeit hochbewussten Sein essenziell gehört.

Deshalb rührt es uns, wenn Mohamed al-Fayed in «The Crown» die Worte sagt: «Es gibt keine Macht und keine Kraft ausser bei Gott.» Ihre Botschaft, dass nämlich Gottes Zeit die allerbeste Zeit ist, meint eigentlich: Die Zeit und damit das Menschsein haben einen Anfang und ein Ende. Dass wir aber, als Individuum oder als Gattung, verurteilt sein könnten zu ewigem, wucherndem Wachstum, erscheint hiergegen als die wahre Dystopie.

Konstantin Sakkas lebt als Philosoph und Historiker in Berlin.

99 Kommentare
Regula Zwahlen

Dieser Artikel ist interessant, jedoch typisch in seiner philosophischen Sicht gefangen und verkennend, was die theologische Perspektive auf Ewigkeit und Endlichkeit wäre. Es ist richtig zwar, das die monotheistischen Religionen geschichtsphilosophisch aufgeladen sind (Stichwort: "Reiseerzählungen"), aber diese Reisen begreifen sich theologisch gesehen nicht solutionistisch (wie der Autor K. Sakkas) unterstellt, sondern offenbaren das Eingreifen des ewigen (= ausser unserer Zeit stehenden) Gottes in das zeiträumlich Endliche unsrer Welt. Dies hat Jesus Christus exemplarisch gezeigt mit seiner Menschwerdung, seinem Leiden und Sterben (= Eintritt in- und Aushalten von Endlichkeit) sowie mit seiner Auferstehung (= Ankommen in der Ewigkeit). Deshalb sehe ich den "abrahamitischen Menschen" durchaus gehalten im Wissen um seine Endlichkeit, und ohne Angst vor Dystopie oder Leere. Wer sich demgegenüber "entgotten" will, landet über kurz oder lang wieder beim Transzendieren, ob esoterisch oder synkretistisch. Und wer's lieber gleich solutionistisch haben will, berauscht sich mit Drogen, betreibt Hirnforschung oder versucht sich sonstwie in Selbstermächtigung. Meines Erachtens sind solche  scheinbar "rationalistischen" Lösungsversuche (ohne religiosen Glauben) aber nicht das "Fortschreiben des Monotheismus". Hier widerspreche ich dem Autor. Der Monotheismus ist Eingottglaube und kann sich schon rein logisch gesehen nicht "entgottet" fortschreiben.

J. W.

Der große Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal hat einmal gesagt: "Ob es ihn gibt, weiß ich nicht. Aber mir geht es besser, wenn ich einmal gehen muss, an ihn geglaubt zu haben". Oder Dietrich Bonhoeffer, der sinngemäß in der Stunde seiner Hinrichtung sagte: "Im Gegensatz zu meinen Häschern werde ich Ihn heute noch in Seiner Herrlichkeit sehen". Wieso soll ich mich auf den Weg zu einer Gottesferne machen?