Gastkommentar

Haiti und die Dominikanische Republik teilen sich eine Insel – und könnten kaum unterschiedlicher sein. Bis man genauer hinsieht

Auf der Insel Hispaniola leben zwei ungleiche Nachbarn – mit einer gemeinsamen Geschichte von Völkermord, Sklaverei, Piraterie und Aufbrüchen in die Moderne.

Hans Christoph Buch 16 Kommentare 6 min
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Mit Produkten vom Nachbarland auf der Ladefläche: Ein Haitianischer Händler auf dem Rückweg vom binationalen Markt Dajabón/Ouanaminthe, 24. März 2024.

Mit Produkten vom Nachbarland auf der Ladefläche: Ein Haitianischer Händler auf dem Rückweg vom binationalen Markt Dajabón/Ouanaminthe, 24. März 2024.

Orlando Barria / EPA

Wer heutzutage Hispaniola überfliegt, sieht im Westen kahle Felsen, staubtrockene Ebenen und ausgetrocknete Flüsse, die Plastikmüll ins Meer spülen; im Osten bewaldete Berge, saftig-grüne Wiesen, auf denen Rinder weiden, und Sandstrände mit badenden Touristen. Unvorstellbares Elend und ökonomischer Boom, Paradies und Inferno liegen in unfriedlicher Koexistenz dicht nebeneinander.

Kein Wunder, dass die Dominikaner die Angst umtreibt, das total übervölkerte Haiti könnte wie unter Toussaint Louverture und dessen Nachfolger Boyer das vergleichsweise dünnbesiedelte und grossflächige Nachbarland erobern und Chaos, Anarchie, ökonomische und politische Rückständigkeit exportieren. Seit Jahrzehnten werden die Zuckerrohrfelder der Dominikanischen Republik von Haitianern bewirtschaftet, die illegal die Grenze überschreiten, und ohne Bauarbeiter, Bardamen, Kellner und Prostituierte aus Haiti käme der Tourismus zum Erliegen.

Rassistische Vorurteile

Kein Wunder auch, dass es in der Grenzstadt Dajabón/Ouanaminthe, einem Umschlagplatz des Schmuggels und Drogenhandels, zu Gewalttätigkeiten kam und dass der Staatschef Luis Abinader mit dem Donald Trump abgeschauten Versprechen, eine Mauer quer durch Hispaniola zu bauen, die Präsidentschaftswahl der Dominikanischen Republik gewann. Seitdem werden echte und vermeintliche Haitianer mit oder ohne gültigen Pass gewaltsam repatriiert, wobei sexuelle und andere Übergriffe an der Tagesordnung sind.

Rassistische Vorurteile haben in der Dominikanischen Republik eine unselige Tradition, zurückgehend auf den Sklavenaufstand von 1791: Die Einwohner Haitis wurden als gottlose Jakobiner oder gleich als schwarze Teufel diffamiert, die von Natur aus mordlüstern seien, obwohl es eher umgekehrt ist. Denn 1937 liess der Diktator Trujillo, ein Verehrer Hitlers und von dessen Judenhass inspiriert, 17 000 haitianische Erntehelfer, Frauen und Kinder von der Miliz massakrieren, um das dominikanische Volk aufzuhellen oder «aufzunorden», wie es damals hiess. Dass Trujillo, der mit vollem Namen Rafael Leonidas Trujillo Molinas hiess, selbst Vorfahren vom Nachbarland hatte, wird da zu einer beinah ironischen Randnotiz.

Amerikanische Missionare dokumentierten den Massenmord in der «New York Times», und um sein Image aufzupolieren, überraschte Trujillo 1938 bei der Flüchtlingskonferenz von Évian die Weltöffentlichkeit mit dem Versprechen, deutsche Juden und Flüchtlinge des Spanischen Bürgerkriegs in Santo Domingo aufzunehmen. Der Diktator hielt Wort, und die Emigranten trugen durch Strassenbau und Elektrifizierung des Landes zum späteren Touristenboom bei – bis heute kommen Milchprodukte wie Joghurt aus einem Kibbuz im Norden der Dominikanischen Republik.

Ein Soldat der Dominikanischen Republik weist einen Haitianer aus, der ohne Genehmigung den binationalen Markt in Dajabón/Ouanaminthe betreten hat.

Ein Soldat der Dominikanischen Republik weist einen Haitianer aus, der ohne Genehmigung den binationalen Markt in Dajabón/Ouanaminthe betreten hat.

Orlando Barria / EPA

Erdbeben als Strafe für Voodoo

Die Erblast dieser Vergangenheit, die nie vergeht, ist stets auf Hispaniola präsent, auch wenn von Rum-Cocktails benebelte Touristen davon nichts mitkriegen. Schon die Konquistadoren vermuteten hier die Insel der Seligen oder die Hölle auf Erden, je nachdem; und zwischen diesen Extremen schwankt das Bild Haitis bis heute, Maria aus Bahia und/oder Horrorkabinett des Dr. Duvalier.

Nicht nur Voodoo-Adepten und Anhänger evangelikaler Sekten, auch Haitis katholische Oberschicht glaubt an die angeblich geheim gehaltene Vision der portugiesischen Nonne Fatima, gemäss der Satan eine Insel im Westatlantik beherrscht. Das Erdbeben vom Januar 2010 mit 230 000 Toten allein in Port-au-Prince wurde von Überlebenden auf Teufelswerk zurückgeführt, und obwohl der Voodoo-Kult als Staatsreligion anerkannt ist, gingen Voodoo-Tempel in Flammen auf.

Haiti, so scheint es, ist von Gott oder der Vorsehung verflucht, nie zur Ruhe zu kommen: vom Völkermord an den indigenen Ureinwohnern, die von Konquistadoren wie Tiere gejagt und in nur einer Generation versklavt oder ausgerottet wurden, über Freibeuter, die auf der vorgelagerten Ȋle de la Tortue den spanischen Galeonen auflauerten und den Westen Hispaniolas annektierten, wo bis heute Créole und Französisch gesprochen wird.

Korruption als Kavaliersdelikt

Im 18. Jahrhundert war Saint Domingue Frankreichs wertvollste Kolonie, die halb Europa mit Zucker und Kaffee versorgte, ein Handelsmonopol, von dem nicht nur Kaufleute in Brest, Bordeaux, Marseille und Nantes profitierten, sondern auch Königtum und Adel. Und es spricht Bände, dass Paris im Siebenjährigen Krieg auf Kanada verzichtete, um Martinique und Guadeloupe behalten zu können.

Am Vorabend der Französischen Revolution gab es in Saint Domingue 450 000 Sklaven, in Schach gehalten von 60 000 Weissen und 30 000 Farbigen aus sexuellen Verbindungen der Kolonialherren mit Konkubinen, und es war nur eine Frage der Zeit, bis die Sklaven, inspiriert von der Proklamation der Menschen- und Bürgerrechte, zu den Waffen greifen würden.

Als Erben dieser Geschichte gibt es in Haiti heute nicht bloss Hungerleider, sondern Millionäre, die wenig oder keine Steuern zahlen und, wie kriminelle Familienclans in Europa, von rechtsfreien Räumen profitieren. Politiker und Polizisten sind bestechlich, Korruption gilt als Kavaliersdelikt, Waffen- und Drogenschmuggel sind so verbreitet wie Folterungen und Vergewaltigungen vor den Augen der Angehörigen. Wie einst die «Tontons Macoutes» von Papa Doc terrorisieren bewaffnete Banden die Armenviertel; allen voran Cité Soleil, eine von vielen No-go-Areas mit Waffenlagern und Geiselgefängnissen, in denen Entführungsopfer wochenlang, oft vergeblich, auf Freikauf hoffen.

Treppenwitz der Geschichte

Kidnapping ist ein lukratives Geschäft, das Geld in die Kassen der Oligarchen spült und nicht nur Prominente bedroht – Schulkinder, Busfahrer, Marktfrauen sind genauso betroffen wie Missionare, Ärzte und Lehrer. Der entfesselte Mob stürmt Ministerien, Polizeistationen und Gefängnisse, Lynchmorde ersetzen die Justiz, Plünderer, Folterer, Vergewaltiger bleiben unbestraft, und die Drogenmafia wird zur letzten verbliebenen Ordnungsmacht.

Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, wenn der Bandenchef Jimmy Chérisier, alias Barbecue, der seine Gegner mit Benzin abfackeln lässt, sich mit Dessalines, dem Sklavenbefreier und späteren Kaiser Haitis, vergleicht: Nicht weil der Freiheits- und Unabhängigkeitskrieg unblutig war – Dessalines’ kreolische Devise «Couper têtes, brûler cayes» («Köpfe abschneiden, Häuser niederbrennen») belegt das Gegenteil. Aber die Gewalt war der Geburtshelfer eines den Kolonialismus überwindenden Staates, dessen historisches Versprechen bis heute uneingelöst ist und kein Selbstzweck zur Befriedigung krimineller Gier nach Geld und Macht.

Bergflanken auf Hispaniola, dominikanische Seite.

Bergflanken auf Hispaniola, dominikanische Seite.

Jimmy Villalta / Imago

Wahlen als Teil des Problems

Gibt es Auswege aus der Gewaltspirale, die Haiti in blutigem Chaos versinken lässt? Ja, es gibt sie, und der Amtsverzicht des ohne Mandat regierenden Premierministers ist ein erster Schritt, wie die Bildung eines Rats der Weisen, der Neuwahlen vorbereiten soll. Aber Ariel Henrys Rücktritt war erzwungen, und die Beschlüsse wurden über die Köpfe der Betroffenen hinweg in Jamaica gefasst.

Hinzu kommt, dass Wahlen nicht die Lösung sind, sondern Teil des Problems, weil sie stets von Ausschreitungen und Wahlfälschung überschattet werden. «The winner takes it all» heisst die Devise, der Verlierer kennt den Sieger nicht an und vice versa. Parteien sind Zweckbündnisse zur Durchsetzung von Kandidaten, Oligarchen zumeist, die ihre Gefolgsleute mit Geld und Posten belohnen.

Was in Haiti fehlt, ist ein «Contrat social», der arbeitslosen Jugendlichen, aus denen die Bevölkerung überwiegend besteht, das materielle Überleben und ein Minimum an Menschenwürde garantiert. Stattdessen treibt man sie Gangsterbossen in die Arme, die um die Kontrolle lukrativer Stadtteile kämpfen.

Weltfremde Lösungsvorschläge

Die von politischen Beobachtern oder Akteuren gemachten Lösungsvorschläge sind weltfremd bis impraktikabel. Wie zum Beispiel die Idee, Polizisten aus dem ostafrikanischen Kenya – von Washington finanziert – Haiti befrieden zu lassen. Im von ethnischem Hass gespaltenen Kenya hat die Polizei keinen guten Ruf, abgesehen davon, dass sie nicht Französisch spricht, und Haitis tödlich verfeindete Banden könnten gemeinsam über sie herfallen.

Die Vorfahren der Haitianer stammen aus Westafrika, ebenso wie der Voodoo-Kult, und nepalesische Blauhelmsoldaten, die in Haiti die Cholera eingeschleppt haben, sind in unguter Erinnerung. Nur US-Marines verschafften sich hierzulande Respekt, unter ihnen Exil-Haitianer, die Sprache und Kultur, Land und Leute kannten.

Aber Haitis Hassliebe zu Amerika spricht gegen eine Militärintervention, und Trump wie Biden sind mit globalen Herausforderungen konfrontiert und nicht bereit, im Hinterhof der USA Ordnung zu schaffen – Haiti ist keine Erfolgsstory, mit der man Wahlen gewinnt.

Um aufzuhören, ein Albtraum zu sein, müsste Haiti sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, doch das ist und bleibt ein frommer Wunsch.

Hans Christoph Buch lebt als Schriftsteller in Berlin.

16 Kommentare
C. Z.

Haiti ist ein tolles Beispiel wie ein Land aussieht was von ehemaligen schwarzen Sklaven bewohnt und regiert wird. Dagegen ist Südafrika noch ein Erfolgsmodell, bzw es braucht einfach noch ein bisschen länger. 

D. S.

Nach der Unabhängigkeit Haitis 1804 befahl Dessalines die Tötung aller weissen Männer und Kinder. Weisse Frauen wurden nur verschont unter der Bedingung, dass sie schwarze Männer heirateten. Ein Land, das auf Genozid und Sexsklaverei erbaut wurde, konnte keine Zukunft haben.