Gastkommentar

Die nukleare Wirklichkeit

Nuklearwaffen haben ihre sicherheitspolitische Bedeutung noch lange nicht eingebüsst – im Gegenteil. Überall werden die Atomarsenale modernisiert.

Michael Rühle
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Abschreckung gehört als politisches Instrument nicht der Vergangenheit an. Der Westen muss sich wieder unvoreingenommen mit Nuklearwaffen befassen. (Bild: imago )

Abschreckung gehört als politisches Instrument nicht der Vergangenheit an. Der Westen muss sich wieder unvoreingenommen mit Nuklearwaffen befassen. (Bild: imago )

Alfred Hitchcock nannte es den «MacGuffin»: ein Ziel oder ein Gegenstand, der die Handlung eines Films in Gang setzt, ohne dabei selbst von besonderer Bedeutung für die Story zu sein. Als der frühere amerikanische Aussenminister Henry Kissinger und andere prominente Politiker vor einigen Jahren die Vision einer atomwaffenfreien Welt ins Spiel brachten, stand der britische Meisterregisseur Pate. Denn ob sich diese Vision tatsächlich realisieren lassen würde, war eher zweitrangig.

Entscheidend war, rechtzeitig Bewegung in den festgefahrenen Prozess der nuklearen Nichtverbreitung zu bringen, bevor die Welt den Weg in die nukleare Anarchie gehen würde. Die grosse Vision als Katalysator für eine Politik pragmatischer Schritte: ein klassischer «MacGuffin».

Enttäuschung ob dem Ausbleiben weiterer Abrüstung

Doch nicht alle Apologeten einer nuklearwaffenfreien Welt sind Filmfans. Wenn heute die Enttäuschung über das Ausbleiben der von ihnen erwarteten weitreichenden Abrüstungsschritte gross ist, so liegt dies nicht zuletzt daran, dass man den «MacGuffin» fälschlicherweise für die Handlung hielt.

Ähnliches gilt für die Versuche, die Delegitimierung von Nuklearwaffen durch den Internationalen Strafgerichtshof anzustreben, um so gleichsam durch die Hintertür zum Ziel der nuklearwaffenfreien Welt zu gelangen. Auch hier mischen sich Ungeduld und Enttäuschung über das Ausbleiben nuklearer Abrüstung mit dem Wunsch nach schnellen Ergebnissen.

Welche Staaten ihre Nukleararsenale modernisieren

Allerdings dürfte es beim blossen Wunsch bleiben. Denn Nuklearwaffen haben ihre sicherheitspolitische Bedeutung noch lange nicht eingebüsst. Im Gegenteil. Alle Nuklearwaffenmächte modernisieren ihre Arsenale. Das seinem Erzrivalen Indien konventionell unterlegene Pakistan führt mittlerweile sogar taktische Nuklearwaffen in seine Streitkräfte ein.

Selbst die Vereinigten Staaten, die zu Beginn der Amtszeit Präsident Barack Obamas die Vision der nuklearwaffenfreien Welt als Leitlinie einer neuen Sicherheitspolitik propagiert haben, müssen nun enorme Summen in den Erhalt ihrer jahrelang vernachlässigten nuklearen Infrastruktur stecken. In Washington redet jedenfalls kaum noch jemand von «global zero».

Und Kissinger, auf den sich viele antinukleare Initiativen noch immer gerne berufen, kritisiert inzwischen die sich abzeichnende Vereinbarung über das iranische Atomprogramm. Er argumentiert, dass man Teheran genau die nuklearen Fähigkeiten zubillige, die man ursprünglich habe verhindern wollen.

Doch den aktuellsten und vermutlich auch dramatischsten Beleg für die fortgesetzte Bedeutung der Atomwaffen liefert Russland. So bedeutet der Bruch des Budapester Memorandums, in dem Moskau im Jahr 1994 Kiew im Austausch gegen die Rückgabe der auf ukrainischem Gebiet verbliebenen sowjetischen Nuklearwaffen die territoriale Unversehrtheit zugesichert hatte, einen massiven Rückschritt für das Ziel der nuklearen Nichtverbreitung (Nonproliferation).

Denn hier hat sich gezeigt, wie rasch die Strategie, ein Land durch Sicherheitsversprechen der Atommächte zu nuklearer Abstinenz zu bewegen, scheitern kann. Mehr noch. Spätestens seit der russische Präsident Wladimir Putin anlässlich des Jahrestages der Einverleibung der Krim verlauten liess, er sei während der Krise im März 2014 auch bereit gewesen, die russischen Nuklearstreitkräfte in Alarmbereitschaft zu versetzen, dürfte klar sein, dass es mit der Abschaffung von Nuklearwaffen wohl noch eine Weile dauern wird.

Die Entwicklung kommt nicht überraschend

So überraschend – und enttäuschend – diese Entwicklung für viele erscheint, so war sie doch vorhersehbar. Denn das, was sich auf den ersten Blick als eine Renaissance nuklearer Waffen in der Sicherheitspolitik darstellt, ist in Wirklichkeit nur das Ergebnis westlicher Versäumnisse.

Seit dem Ende des Kalten Krieges hat man sich im Westen an politischen Glaubenssätzen orientiert, die für den Rest der Welt weitgehend ohne Belang geblieben sind. Ein Beispiel ist die nach dem Ende des Kalten Krieges im Westen weitverbreitete Annahme, Nuklearwaffen seien nun von abnehmender Bedeutung. Diese Annahme schien nicht zuletzt deshalb plausibel, weil der Beginn des Kalten Krieges mit dem Beginn des Nuklearzeitalters zusammenfiel.

Was lag also näher als die Vermutung, das Ende des Kalten Krieges würde auch das Ende des nuklearen Zeitalters einläuten?

Das «zweite nukleare Zeitalter» hat seinen Ursprung in Asien

Doch diese Lesart ist eine ausschliesslich westliche. Die positiven Auswirkungen, die das Ende des Kalten Krieges für Europa mit sich brachte, hat es in Asien nie gegeben. Dort hat das «asiatische Paradoxon» – man treibt umfassend Handel, bleibt jedoch militärische Rivalen – in den letzten Jahren nicht nur zu einer dramatischen Erhöhung der Militärausgaben geführt; auch das sogenannte «zweite nukleare Zeitalter», in dem die Spielregeln des Kalten Krieges keine Geltung mehr haben, hat seinen Ursprung in Asien: das Schmuggelnetzwerk des «Vaters der pakistanischen Atombombe», Abdul Qadeer Q. Khan, belieferte mehrere Staaten, darunter Nordkorea, Iran und Libyen, mit Plänen, Zentrifugen und sogar Nuklearexperten. Die nukleare Proliferation vollzieht sich seither weitgehend über schwarze Märkte – ausserhalb des zwischenstaatlich angelegten Nichtverbreitungsregimes.

Khan wurde inzwischen das Handwerk gelegt, doch seine geistigen Erben machen weiter. So baute Nordkorea, das aus dem Atomwaffensperrvertrag austrat und mehrere Atomtests durchgeführt hat, für Syrien einen Plutoniumreaktor, der Asad den Griff nach der Bombe hätte ermöglichen sollen. Israel zerstörte die noch im Bau befindliche Anlage 2007. Pakistan unterhält enge wirtschaftliche wie politisch motivierte Beziehungen zu Saudiarabien, die nach Ansicht vieler Experten auch ein nukleares Schutzversprechen umfassen.

In Japan und Südkorea wiederum fürchtet man um die Glaubwürdigkeit des amerikanischen «nuklearen Schutzschirms» in einer zunehmend militarisierten Region: Die Begeisterung, die Präsident Obamas Prager Rede von 2009 im Westen auslöste, als er seine Vision einer nuklearwaffenfreien Welt beschwor, klang bei Amerikas asiatischen Verbündeten stets weitaus verhaltener. Kurzum: Die Vorstellung, das Ende des Kalten Krieges habe den nuklearen Faktor aus der Sicherheitspolitik weitgehend verbannt, war eine westliche Selbsttäuschung.

Die Angst vor dem Nuklearterrorismus

Ein weiteres Beispiel westlicher Versäumnisse ist die obsessive Debatte über die Gefahren des Nuklearterrorismus. Insbesondere die Terroranschläge vom 11. September 2001 schienen einen Paradigmenwechsel zu signalisieren. An die Stelle des Staates mit einer rationalen politischen Führung tritt der religiöse Fanatiker, der den Tod nicht fürchtet und folglich nicht «abschreckbar» ist.

Eine stärkere Konzentration auf nichtstaatliche Akteure war im Prinzip durchaus berechtigt. Die japanische Aum-Sekte, die bereits 1995 in der U-Bahn von Tokio Sarin freisetzte, hatte in ihren eigenen Laboren genug Giftgas produziert, um vier Millionen Menschen zu töten. Und in den Rängen von al-Kaida befanden sich mehrere Nuklearexperten, was den Verdacht nährte, dass Usama bin Ladin auch nach Massenvernichtungswaffen strebte.

Hinzu kam, dass sich die Gefahr des Nuklearterrorismus bestens eignete, um das internationale Bewusstsein für die Sicherung atomaren Materials zu schärfen. In mehreren von Obama inspirierten Nukleargipfeln einigten sich viele Staaten auf eine strengere Überwachung ihres nuklearen Brennstoffs.

Abschreckung als politisches Instrument wurde vernachlässigt

Doch die Auseinandersetzung mit dem Phänomen des «non-state actor» hat ihren Preis: So ist die Rolle nuklearer Abschreckung als Instrument der zwischenstaatlichen Beziehungen in den vergangenen Jahren mehr und mehr aus dem Blickfeld geraten. Das bereits erwähnte Versäumnis des Westens, die nuklearen Entwicklungen in Asien zur Kenntnis zu nehmen, ist nur einer der intellektuellen Kollateralschäden dieser Entwicklung.

Ein anderes Beispiel ist das verlorengegangene Fachwissen über die russische Nuklearrüstung. Allein im Laufe der letzten Monate führte Moskau mehrere Übungen mit Atomstreitkräften durch und spekulierte öffentlich über die Stationierung von Kernwaffen auf der Krim. Darüber hinaus kündigte man die Einführung neuer nuklearer Waffensysteme an. All dies zeigt, dass das russische Denken viel stärker «nuklearisiert» geblieben ist als vermutet.

Einmal mehr hatte man im Westen eine wichtige Dimension der Realität zugunsten vermeintlich dringenderer Themen ausgeblendet: Nukleare Abschreckung zwischen Staaten ist ein Dauerzustand, der nach ständiger Anpassung verlangt; das Szenario des Nuklearterrorismus bleibt dagegen nach wie vor wenig wahrscheinlich. Biologische, chemische oder radiologische Waffen sind für nichtstaatliche Akteure weitaus einfacher zu beschaffen.

Aber ist nukleare Abschreckung überhaupt noch zeitgemäss?

Haben die Vertreter einer atomwaffenfreien Welt nicht längst wissenschaftlich nachgewiesen, dass dieses Konzept nicht so wirksam ist, wie es vordergründig scheint? Dies führt unmittelbar zu einem weiteren intellektuellen Kurzschluss im westlichen sicherheitspolitischen Denken – dem Versuch, das Konzept der Abschreckung analytisch zu desavouieren und so das Haupthindernis auf dem Weg zur nuklearwaffenfreien Welt zu beseitigen.

Zwar ist die Zahl der Studien, die den Nachweis erbringen wollen, dass es sich bei der nuklearen Abschreckung um einen Mythos handelt, in den vergangenen Jahren sprunghaft angestiegen. Doch fast immer heiligt der politische Zweck die akademischen Mittel. Zum einen sind die gewählten Beispiele des «Versagens» der Abschreckung zu wenig plausibel, um wirklich zu überzeugen. Wer etwa die Tatsache, dass Japan erst mehrere Tage nach dem Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki kapitulierte, als Beleg für die Unwirksamkeit nuklearer Abschreckung deutet, versucht, ein Ereignis zu instrumentalisieren, das noch vor der Herausbildung des Systems der nuklearen Abschreckung stattfand und folglich wenig über deren Wirksamkeit aussagt.

Und wenn einer der führenden amerikanischen Proliferationsexperten und «global zero»-Befürworter die Existenz eines syrischen Plutoniumreaktors abstreitet, um einige Woche später kleinlaut einzuräumen, er habe sich so etwas einfach nicht vorstellen können, dann zeigt sich, wie schwach das analytische Fundament in Teilen der akademischen Forschung ist.

Wirklich überraschen kann dieser Befund allerdings nicht. Denn seit dem Ende des Kalten Krieges ist die Grenze zwischen seriöser Forschung und antinuklearem Aktivismus zunehmend unscharf geworden. Die nukleare Nichtverbreitung hat sich inzwischen zum Refugium für zahlreiche Aktivisten entwickelt, deren Themen mit dem Ende des Ost-West-Konflikts von der politischen Agenda verschwanden.

Vieles von dem, was sich heute als Forschung zur Abschreckung oder Nichtverbreitung ausgibt, bietet wenig mehr als Schuldzuweisungen an den Westen, verbunden mit der Aufforderung, doch endlich abzurüsten. Mit seriöser Nonproliferationspolitik, die schwierige politische, militärische und rechtliche Aspekte miteinander zu vereinbaren sucht, hat dies nichts gemein.

Was also ist zu tun?

Zunächst gilt es, das Konzept der nuklearen Abschreckung wiederzuentdecken. Wenn alles dafür spricht, dass die internationale Politik auf Jahrzehnte hinaus von der Existenz nuklearer Waffen geprägt sein wird, reicht es nicht aus, ihre Gefahren zu beschwören. Man wird schweren Herzens wohl auch das eine oder andere verstaubte Lehrbuch wieder aus dem Regal holen und über ungeliebte militärstrategische Fragen nachdenken müssen. Vor dem Hintergrund der derzeitigen Ereignisse sei auch die Frage erlaubt, ob es sich bei der Delegitimierung von Nuklearwaffen, die zwar den Westen, kaum aber eine «gelenkte Demokratie» wie Russland in Erklärungsnotstand bringen könnte, um seriöse Sicherheitspolitik handelt oder ob hier andere Motive am Werke sind.

Denn die Furcht vor dem nuklearen Holocaust, die derartige Bewegungen nach eigenem Bekunden antreibt, ist nicht immer so gross, wie sie scheint. Der amerikanische Regisseur Stanley Kubrick, der mit «Dr. Seltsam» ein Meisterwerk über die absurden Aspekte der Abschreckungslogik geschaffen hat, bot hierfür ein vielsagendes Beispiel.

Während der Kubakrise 1962 entschied er sich, mit seiner Familie nach Australien auszuwandern, weil bei einem nuklearen Schlagabtausch der Supermächte der nukleare Fallout dort am geringsten sein würde. Als Kubrick, der für seine Reise bereits über hundert Koffer bestellt hatte, jedoch erfuhr, dass sich auf dem Schiff nach Australien zwei Kabinen ein Badezimmer teilten, gab er sein Vorhaben auf. Die Angst davor, mit fremden Menschen ein Badezimmer teilen zu müssen, erwies sich am Ende als grösser als die Angst vor dem Tod. Es ist eben alles eine Frage der Perspektive.

Michael Rühle leitet das Referat Energiesicherheit in der Nato-Abteilung für Neue Sicherheitsherausforderungen. Er gibt hier ausschliesslich seine persönliche Meinung wieder.

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