Kommentar

Im Rollstuhl Bahn, Tram und Bus zu benützen, ist oft noch immer umständlich. Die Politik hat Menschen mit Beeinträchtigungen viel versprochen und zu wenig gehalten

Ab 1. Januar besteht in der Schweiz Anspruch auf hindernisfreien Zugang zum öffentlichen Verkehr. Trotz Versäumnissen muss die Umsetzung massvoll erfolgen.

Stefan Hotz 16 Kommentare 6 min
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Der öV ist noch nicht durchwegs hindernisfrei: Halteknopf für Rollstuhlfahrer in einem Bus.

Der öV ist noch nicht durchwegs hindernisfrei: Halteknopf für Rollstuhlfahrer in einem Bus.

Annick Ramp / NZZ

Der erste Nationalrat im Rollstuhl hiess Marc F. Suter. Nach seiner Wahl 1991 war es dem freisinnigen Rechtsanwalt aus Biel anfänglich nicht möglich, durch den Haupteingang ins Bundeshaus zu gelangen. Er musste auf entwürdigende Weise mit fremder Hilfe den Lieferanteneingang nehmen.

Sein Nachfolger, wenn man so sagen darf, der Thurgauer Mitte-Nationalrat Christian Lohr, hielt ab 2011 seine Voten im grossen Saal zehn Jahre lang verkabelt von einem speziell eingerichteten Platz aus. Inzwischen ist das Rednerpult absenkbar, und der Contergan-Geschädigte kann selbständig ans Mikrofon treten, genauer: rollen. Aber Lohr musste sich in einem Interview für die Kosten der Anpassung rechtfertigen.

Heute ist der hindernisfreie Zugang zum Bundeshaus kein Thema mehr. Lohrs Zürcher Fraktionskollege Philipp Kutter setzt, gelähmt nach einem Skiunfall, seine politische Laufbahn in Bern fort. Im Dezember stösst aus Zürich der neugewählte SP-Vertreter Islam Alijaj dazu, dessen Zerebralparese ihn körperlich und beim Sprechen beeinträchtigt. Drei Volksvertreter, das sind 1,5 Prozent des Nationalrats, was ungefähr dem Anteil der Bevölkerung entsprechen dürfte, der auf einen Rollstuhl angewiesen ist.

Neuland für den öffentlichen Verkehr

Die Gleichstellung von Menschen mit Beeinträchtigung erhält in Bern mehr Gewicht. Der Weg ist oft widersprüchlich, das Ziel wird manchmal verfehlt. Persönliche Autonomie, Kosten für die Allgemeinheit und pragmatische Ersatzlösungen prägen auch die Umsetzung des hindernisfreien öffentlichen Verkehrs. Das Thema wird in den nächsten Monaten zu reden geben. Ende Jahr läuft die gesetzliche Frist ab, um jenen, die auf eine Gehhilfe angewiesen sind, den selbstbestimmten Zugang zu Bahn, Tram und Bus zu gewährleisten.

In den letzten zwanzig Jahren hat sich viel verbessert. Eine Bahnreise durch die Schweiz im Rollstuhl ist mit Abstrichen machbar. Offenkundig ist jedoch ebenso: Flächendeckend ist dieses Ziel nicht erfüllt. Unter Betroffenen steigt der Unmut über Versäumnisse. Mit dem Ende der Frist besteht für sie ein im Gesetz verankertes Anrecht auf einen barrierefreien öV. Wo dies nicht umgesetzt ist, sieht das Gesetz Ersatzmassnahmen vor.

Die ÖV-Branche organisiert deshalb ab Januar einen Shuttle-Fahrdienst, der auf Bestellung Menschen im Rollstuhl per Auto auf jenen Streckenabschnitten befördert, die nicht hindernisfrei sind. Sie betritt damit gezwungenermassen völliges Neuland. Ungewissheiten und der organisatorische Aufwand sind gross. Es besteht die Gefahr der Frustration auf beiden Seiten.

Die Regeln entstanden zu Beginn des Jahrhunderts unter dem Wortungetüm Behindertengleichstellungsgesetz. Die eidgenössischen Räte beschlossen es 2002 nahezu ohne Gegenstimme. Es trat Anfang 2004 in Kraft, ohne dass das Referendum ergriffen wurde. Mit ihm setzte der Bund einerseits das Diskriminierungsverbot in der Bundesverfassung um, das auch Menschen mit einer Beeinträchtigung schützt. Gleichzeitig handelte er unter dem Druck der Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte», die später in einer Volksabstimmung abgelehnt wurde.

Der Bundesrat brauchte Ende 2000 in seinem Antrag hehre Worte: Die Gleichstellung der behinderten Menschen sei eng verknüpft mit den Menschenrechten und füge sich «nahtlos in die Perspektive einer Politik der gegenseitigen Toleranz und Solidarität zwischen allen Mitgliedern der Gesellschaft».

Im Gesetz bildet der öV eine Ausnahme, weil er ausdrücklich zu Anpassungen verpflichtet wurde. Gleichzeitig war klar, dass seine langlebigen Infrastrukturen nicht von heute auf morgen angepasst werden können. Deshalb erhielt er zur Umsetzung zwanzig Jahre Zeit, die nun am 31. Dezember ablaufen. In den Beratungen wurde aber vor den finanziellen Folgen gewarnt.

Bushaltestellen als Problemzonen

Das Fazit nach zwanzig Jahren: Die Politik hat mehr versprochen, als sie einhalten konnte, wie oft in der Behindertenpolitik. Im Schienenverkehr ist die Situation zwar vergleichsweise gut. 60 Prozent der Bahnhöfe in der Schweiz sind laut dem Verband öffentlicher Verkehr heute barrierefrei. Weil man wichtige Umsteigepunkte vordringlich sanierte, sind etwa 80 Prozent der Bahnfahrten ohne Hindernis machbar.

Schlechter sieht es im Busverkehr aus. Die Flotten bestehen grösstenteils aus Niederflurfahrzeugen. Doch das bringt wenig, weil schweizweit erst etwa ein Drittel aller Bushaltekanten erhöht ist. Der Bundesrat bedauerte im Frühjahr in einer vom Parlament angeforderten Bestandesaufnahme ausdrücklich, dass die Anpassungsfrist teilweise erheblich überschritten werde.

Die Zürcher S-Bahn ist heute beispielsweise, ganz anders als bei ihrem Start 1990, weitgehend hindernisfrei. Züge, die nur über Stufen zugänglich sind, kommen fast nur noch als Entlastungskurse zum Einsatz. In Zürich werden nach und nach die Tramhaltestellen saniert und die letzten alten Wagen durch Niederflurfahrzeuge ersetzt. Ungenügend ist jedoch auch im Kanton Zürich das Busnetz. Etwa 750 seiner 2200 Bushaltestellen, also etwa ein Drittel, haben noch keine erhöhten Haltekanten.

Der Zürcher Verkehrsverbund (ZVV) ist für diesen Mangel wie andere ÖV-Anbieter in der Schweiz nicht verantwortlich. Für Bushaltestellen sind die Eigentümer der Strassen zuständig, also der Kanton oder die Gemeinden. Der ZVV drängt seit Jahren auf Anpassungen. Der Kanton Zürich zählte 2022 an seinen Strassen noch 400 ungenügende Haltestellen.

Diese müssen nicht alle zwingend baulich angepasst werden. Hier gilt zu Recht das Gebot der Verhältnismässigkeit. Örtliche Umstände, ein steiles Strassenstück, die Lage der Haltestelle an einem Hang oder in einer engen Kurve, können einen selbständigen Einstieg im Rollstuhl verunmöglichen. Aus Gründen der Wirtschaftlichkeit und der Sicherheit darf eine Sanierung unterbleiben.

Der Anspruch lautet zwar, ohne fremde Hilfe – eben autonom – in den öV gelangen zu können. Aber auch in Zukunft werden diese Fahrgäste weiter darauf angewiesen sein, dass ihnen der Buschauffeur die Rampe am Eingang aufklappt. Und sie dürfen hoffentlich auf die Hilfe von Passanten zählen, wenn sie einmal nicht weiterkommen.

Aber es ist verständlich, wenn sich Menschen mit einer Beeinträchtigung nicht länger vertrösten lassen. Lange genug mussten sie sich mit einem Mobillift umständlich in die Bahnwaggons hieven lassen. Der Shuttle-Dienst erlaubt keine spontane Reise. Er muss mindestens zwei Stunden im Voraus bestellt werden. Insofern erfüllt er die geforderte Gleichbehandlung nicht. Für Betroffene sieht es so aus, als diene der Ersatz weniger der Verbesserung ihrer Situation als vielmehr dazu, drohende Klagen abzuwenden.

Für den öffentlichen Verkehr trägt die Notlösung ohne eigenes Verschulden das Risiko eines Imageschadens mit sich. Rechtsverfahren wären erst recht nicht hilfreich. Bis anhin kam das Beschwerderecht auf Hindernisfreiheit vor allem zum Zug, wenn Bauprojekte oder Planungen als ungenügend beurteilt wurden. Man darf erwarten, dass die berechtigten Verbände von ihrer Klagemöglichkeit wie bis anhin verantwortungsvoll Gebrauch machen.

Aber in Zukunft ist es möglich, dass Einzelne versuchen, den autonomen Zugang an einer bestimmten Bushaltestelle auf gerichtlichem Weg durchzusetzen. Sich jetzt darüber zu wundern, bringt wenig. Sonst hätte man diese Bestimmung vor über zwanzig Jahren nicht in das Gesetz schreiben dürfen.

Erleichterungen für alle

Es ist abgesehen von juristischen Gründen richtig, den hindernisfreien Zugang zum öV voranzutreiben. Und dennoch mit Augenmass vorzugehen. Die Kosten für die Anpassungen am System waren enorm und sind es weiterhin. 300 Millionen Franken, die der Bund 2002 dafür beschloss, reichten jedenfalls nicht.

Nutzniesser sind allerdings weit mehr als die Mitmenschen im Rollstuhl. Haben sie Zugang zum öV, profitieren alle, die nicht gut zu Fuss sind, namentlich ältere Personen: jene, die sich sicherer fühlen mit Stock oder einem Rollator, einem Gerät, das sich schon aus demografischen Gründen verbreiten wird. Ebenso, wer einen Kinderwagen schiebt oder mit einem schweren Koffer unterwegs ist. Irgendwann sind wir alle froh, wenn wir keine Stufen überwinden müssen.

Der Ersatzfahrdienst wird eine Übergangslösung bleiben. Probleme sind absehbar, und vieles ist ungewiss: Wer genau hat Anspruch, und wer erbringt die Leistung? Schweizweit sind 89 Transportunternehmen beteiligt. Die Bestellung des Shuttles erfolgt zentral über das bestehende Contact Center Handicap der SBB, das bereits Hilfestellung durch das Bahnpersonal organisiert. Ob es immer gelingt, in der ganzen Schweiz rechtzeitig einen Transport zu organisieren, wird sich erst zeigen.

Das Nebeneinander mit Rollstuhl-Taxidiensten kann Verwirrung stiften. Der Shuttle-Dienst ist ein ÖV-Angebot, fährt also nicht von Haustür zu Haustür, sondern nur entlang von Abschnitten im Liniennetz bis zum nächsten hindernisfreien Umsteigepunkt, dafür zum ÖV-Tarif. Der ZVV räumt ein, es sei völlig unklar, ob die dafür beschlossenen vier Millionen Franken jährlich ausreichten.

Politisch bleibt Gleichstellung ohnehin ein Thema. Behindertenorganisationen haben ein neues eidgenössisches Volksbegehren lanciert: die Inklusionsinitiative für umfassende Gleichstellung und Selbstbestimmung, etwa dank Assistenzdiensten. Für den öV haben sie mit ihrer früheren Initiative und grossem Einsatz sehr viel erreicht. Das Glas ist nicht voll, aber doch mehr als halb leer. Gehbehinderte sind heute in Zug, Tram und Bus so selbstverständlich wie Parlamentsmitglieder, die im Rollstuhl ihrer politischen Arbeit nachgehen.

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Ralf-Raigo Schrader

'Menschen mit Beeinträchtigungen' Was ist für eine Kack- Sprache? 'Behinderung' ist ein klinisch und sozial klar umrissener Begriff, Beeinträchtigung ist etwas qualitativ anderes. Wie alle habe ich viele Beeinträchtigungen und wie fast alle bin ich nicht behindert.

Franco Del Principe

Wir mussten damals unseren lieben Nöldi* jeweils drei Treppen hochtragen. Wir waren ja jung und kräftig. Der Altbau verfügte über keinen Lift. In seinem Auto sind wir immer gerne mitgefahren. Mit dem einhändigen Lenken und Gas und Bremse in der rechten Hand, gab der gelernte Maschinenbauingenieur auf Bergstrecken einen fantastischen Walter Röhrl ab. Mit etwas Empathie lässt sich die Intersektionalität hier sauber anwenden. Es kann doch nicht so schwer sein. * Name geändert.