Kommentar

Fehlende Debatte in der Asylpolitik: Die Schweiz sollte Tabus hinterfragen

Die Schweiz begegnet dem Zustrom von Asylsuchenden mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit, Bürokratie und punktueller Hysterie. Den Preis zahlen die überforderten Gemeinden, die Schulen und die Grenzkantone – aber auch die Flüchtenden selbst.

Irène Troxler 207 Kommentare 5 min
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200 000 Menschen befinden sich derzeit im Schweizer Asylsystem. Das sind viel mehr als zur Zeit der grossen Flüchtlingswelle 2015/16.

Stark angewachsen ist die Zahl der «vorläufig Aufgenommenen». Diese Bezeichnung ist irreführend, denn es handelt sich mehrheitlich um Personen, die keine Asylgründe geltend machen können. Trotzdem bleiben sie langfristig in der Schweiz. Obschon sie formal keine Flüchtlinge sind, können sie nicht in ihr Heimatland zurückgeschickt werden, da dort Krieg herrscht. Andere bleiben hier, weil ihr Heimatland sie nicht mehr zurücknehmen will. Die Asylzahlen werden weiter steigen, denn immer mehr Menschen haben Gründe und Möglichkeiten, sich auf den Weg nach Europa zu machen.

Mehr als 200 000 Menschen im Asylsystem

Anzahl Personen im Asylbereich am Jahresende, nach Status
Erstinstanzlich hängig
Rechtskraftprozess
Vorläufig Aufgenommene
Aussetzungen
Statistische Spezialfälle
Rückkehrunterstützung
Anerkannte Flüchtlinge
S-Status

Die SVP spricht von einem Asylchaos und will die Armee an die Grenze stellen. Die Linke sieht keine Probleme. Mit etwas gutem Willen gehe das schon, schliesslich habe die Schweiz eine lange humanitäre Tradition. Kritik am Asylwesen sei bloss Wahlkampfgetöse und fremdenfeindliche Hetze.

Die «Asyllotterie»

Wer hat recht? Wer das grosse Ganze anschaut, von den Fluchtrouten über die Lage in den Aufnahmeländern bis zur Situation der Aufgenommenen, der Abgewiesenen und Untergetauchten, kann nur zu einem Schluss kommen: In der Schweiz und in ganz Europa versagt das Asylsystem. Asyl erhalten diejenigen, die eine strapaziöse Fahrt im Schlauchboot übers Mittelmeer überleben. Das sind aber nicht unbedingt die Menschen, die am dringendsten auf Schutz angewiesen wären. Der niederländische Soziologe Ruud Koopmans spricht von einer «Asyllotterie»: Manche schaffen es, Tausende ertrinken oder sterben auf einer anderen Etappe ihrer Flucht. Das Asylrecht des Stärkeren lockt viele an, die sich Hoffnungen auf ein besseres Leben in Europa machen. Zynischerweise trägt das Schweizer Asylsystem zu diesen Tragödien bei. Die eigentlichen Profiteure sind die Schlepper.

Zur Asylpolitik gehört das Wegschauen. Das betrifft nicht nur die Fluchtrouten, sondern auch den Umgang mit den Asylsuchenden in der Schweiz. Geflüchtete Menschen werden oft einfach wegadministriert. Ob die Bedingungen für eine Integration gegeben sind, interessiert weniger. Sonst würde der Kanton Bern nicht 120 Asylsuchende im 180-Seelen-Dorf Wolfisberg einquartieren. In Kleinbasel, wo der Anteil fremdsprachiger Schüler ohnehin hoch ist, müssen die Lehrkräfte plötzlich zahlreiche Flüchtlinge einschulen, wenn in der Nähe eine Unterkunft für unbegleitete Minderjährige eingerichtet wird. Das Tessin wird alleingelassen mit dem Problem, dass Italien Flüchtlinge nicht mehr zurücknimmt, auch wenn es gemäss Dublin-Abkommen dazu verpflichtet wäre. Und obwohl klar ist, dass die Fluchtbewegungen weiter zunehmen und Unterkunftsmöglichkeiten fehlen, will das Parlament keine Containerdörfer für Flüchtlinge finanzieren.

Von links bis weit in die Mitte hält man sich die Hände vor die Augen und tut so, als sehe man die Probleme nicht. Das ist nicht nur scheinheilig, sondern auch kurzsichtig, denn es gibt eine Partei, die sich dankbar auf das Thema stürzt: die SVP. Sie profitiert, obschon auch sie keine brauchbaren Rezepte präsentiert.

Einfache Lösungen gibt es nicht. Die Schengen-Aussengrenze ist aus geografischen Gründen durchlässig. Ein illegaler Weg übers Mittelmeer findet sich immer. Die Schweiz kann auch nicht einfach die Schlagbäume herunterlassen. Täglich passieren über zwei Millionen Menschen eine Schweizer Grenze: auf dem Arbeitsweg oder weil sie einkaufen, Besuche machen oder Ferientage geniessen wollen. Hier strikte Kontrollen einzuführen, würde ein Chaos verursachen.

Man darf einräumen, dass die Schweiz ihr Asylwesen besser im Griff hat als andere Länder. Sie hat im Jahr 2019 beschleunigte Verfahren eingeführt und kann seither einen Grossteil der Personen mit abschlägigem Asylentscheid rascher zurückschicken. Sie hat Migrationspartnerschaften mit vielen Ländern abgeschlossen, um diese Rückführungen zu ermöglichen.

Es gibt hierzulande keine Banlieues, in die sich die Polizei nicht mehr getraut, wie in Marseille, keine Gebiete mit Clanjustiz wie in Berlin, auch die Kriminalität ist überschaubar. Dank Brückenangeboten, Berufslehren und Arbeitsintegrationsmassnahmen fassen viele Flüchtlinge Fuss in der Arbeitswelt. Aber das ist kein Grund für Selbstzufriedenheit. Auch in der Schweiz stösst die Integrationsfähigkeit an Grenzen, wenn die Zahlen hoch und die kulturellen Unterschiede gross sind. Man sollte sie nicht überstrapazieren, sondern sich die Frage stellen: Erfüllt das Asylsystem seinen Zweck? Das Flüchtlingsrecht war ursprünglich zugeschnitten auf die Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg. Es ist nicht gedacht für derart grosse Migrationsbewegungen, bei denen eine seriöse Einzelfallprüfung fast nicht mehr zu leisten ist.

Die Linke muss sich eingestehen, dass die Schweiz nicht alle Menschen aufnehmen kann, die hier ankommen in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Und die Rechte muss einräumen, dass nicht automatisch alles gut würde, auch wenn die Schweiz sich aus ihren internationalen Verpflichtungen befreien und die Flüchtlingspolitik wieder in die eigenen Hände nehmen würde.

Menschen flüchten vor politischer Verfolgung, allgemeiner Gewalt oder vor Perspektivenlosigkeit. Das ist nicht immer klar zu trennen. Die Grenze zwischen Asylpolitik und Migrationspolitik verschwimmt. Also sollte man die beiden Themen zusammen angehen.

Das Ziel muss sein, dass nur tatsächlich Verfolgte unter dem Titel Asyl hierhergelangen. Wenn die Schweiz Personen ohne Asylgründe möglichst rasch zurückschickt, ist sie für diese nicht attraktiv. Es braucht also Migrationsabkommen mit möglichst vielen Ländern, die in der Asylstatistik auftauchen, damit die Wegweisungen sofort nach dem Asylentscheid erfolgen können.

Die überfällige Debatte

Manche Länder werden für ihre Kooperation eine Gegenleistung fordern. Diese kann im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit liegen oder auch bei der legalen Migration. Bisher kamen Lastwagenfahrer und Pflegefachleute oft von den Rändern Europas, aber diese Zeiten sind bald vorbei. Auf dem ganzen Kontinent geht die Generation der Babyboomer in Pension. Wegen der tiefen Geburtenraten werden die Arbeitskräfte knapp. Warum sollten Chauffeure also künftig nicht aus Algerien stammen? Und Krankenpflegerinnen aus Tunesien oder Nigeria? Es wäre ein Tausch, der beiden beteiligten Ländern nützen könnte: eine begrenzte Zahl von Visa für gesuchte Arbeitskräfte gegen die Rücknahme aller Bürgerinnen und Bürger, die auf die Asylkarte gesetzt haben, ohne die Bedingungen dafür zu erfüllen. Die Nettozuwanderung wäre geringer. Der gefährliche Asylweg würde weniger attraktiv und die Migration etwas besser steuerbar. Angelsächsische Länder wie Kanada, Australien und Grossbritannien rekrutieren bereits Fachkräfte in Entwicklungsländern und bilden die Leute teilweise dort auch selbst aus.

Die Schweizer Politik muss eine Debatte darüber führen, wie eine funktionierende Asyl- und Migrationspolitik aussehen könnte. Sie darf ihre humanitäre Tradition nicht einfach über Bord werfen, aber sie sollte Tabus hinterfragen. Wer aus politischen oder religiösen Gründen verfolgt wird, hat Anspruch auf Schutz. Dafür braucht er aber nicht unbedingt nach Europa zu kommen. Man kann sich auch in einem Nachbarland sicher fühlen. Dazu kann die Schweiz einen Beitrag leisten.

Man muss auch darüber sprechen dürfen, ob Asylverfahren an der EU-Aussengrenze durchgeführt werden könnten oder in sicheren Drittländern, sofern die Menschenrechte gewahrt werden. Dies zu gewährleisten, mag anspruchsvoll sein. Aber es würde die Zahl der Schlepperboote reduzieren. Die Schweiz hätte wieder Raum für gezielte Resettlement-Programme, also für die direkte Aufnahme von besonders gefährdeten Gruppen, und für geeignete Integrationsmassnahmen.

In vielen europäischen Ländern ist in letzter Zeit Bewegung in die Diskussion gekommen. Die deutsche CDU hat beispielsweise vorgeschlagen, das Recht einzelner Migranten, auf europäischem Boden Asyl zu beantragen, abzuschaffen und durch Aufnahmekontingente zu ersetzen. Dänemark debattiert schon lange über Asylzentren ausserhalb Europas. Auch die EU ist aktiv geworden: Menschen aus Ländern mit geringen Asyl-Anerkennungs-Quoten sollen in streng kontrollierte Aufnahmezentren gebracht werden. Erhalten sie kein Asyl, sollen sie innert maximal sechs Monaten zurückgeschafft werden. Darauf haben sich die EU-Staaten im Juni geeinigt.

Die Schweiz sollte sich in die europäische Debatte einklinken. Auf die EU zu warten, ist aber keine Option. Es wäre unklug, das Feld die nächsten Jahre den Polparteien zu überlassen.

207 Kommentare
Regula Zwahlen

Wieder ein Artikel voller Hilflosigkeit. Wenn schon Tabus hinterfragen, dann auch Begriffe wie "Asyl, humanitäre Tradition, Flüchtlingsrecht, Schutzanspruch".  Ich denke, wir haben keine Zeit mehr für Debatten, sondern sollten möglichst bald mit unseren Aufnahme- und Herumschiebepraktiken tabula rasa machen. Die bisherigen Rechtsansprüche von Einwandernden sind aufzuheben. Danach neu anfangen mit dem Ziel: Keine illegale Einwanderung mehr, nur noch legale. Wer sich trotzdem ohne Ausweise hier in Schweiz (oder in einem andern europäischen Land) aufhält, wird in seine Herkunftsregion ausgeschafft, Dass dies nur mit grossem finanziellen Aufwand, und auch mit entsprechenden Ausschaffungslagern in den Ländern der Peripherie sowie höchstvermutlich mit Gewaltanwendung gegen die Renitenten gehen wird, darüber müsste man sich im Klaren sein. Pazifistisches Denken war lange ein frommer Wunsch, doch nun hat es ausgedient.

D. F.

Die EU nimmt Flüchtlinge aus der Ukraine auf und kommt somit seiner humanitären Verpflichtung nach. Die Aufnahme von Wirtschafts-Flüchtlingen aus Asien und Afrika ist nicht unsere Sache. Es ist die Sache der Asiaten und Afrikaner. Die sollen endlich einmal ihre Aufgaben machen.

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