Kommentar

Ein Kanton ohne Lobby: Zürich muss sich den roten Teppich in Bern selbst ausrollen

Zürich stellt die grösste Delegation im Bundeshaus. Dieses Gewicht sollte sich der Kanton besser zunutze machen. Er muss in Bern mehr sein als nur der Geldonkel.

Zeno Geisseler 27 Kommentare 6 min
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Zürich hat ein Imageproblem. Die Stadt und der Kanton, so trennscharf wird das von aussen nicht unterschieden, werden in der Restschweiz traditionell als arrogant gesehen, als versnobt sogar.

Neu ist diese Abneigung nicht: Als sich Zürich 1848 als Bundesstadt der modernen Schweiz bewarb, entschied sich das Parlament für Bern. Fünfzig Jahre zuvor, in der Helvetischen Republik, wurde sogar das kleine Aarau kurzzeitig zur Kapitale, Zürich wurde übergangen. Den Zürchern, damals schon wirtschaftlich potent, wollte man lieber nicht zu viel Macht zugestehen.

Die Schweiz des 21. Jahrhunderts ist offener geworden, der Anti-Zürich-Reflex ist nicht verschwunden. In einem Dialekt-Ranking der NZZ landete die «Züri-Schnurre» auf Platz 7, die gmögigen Berner holten Rang 1. In einer weiteren Umfrage zur Beliebtheit der grössten Schweizer Städte blieb Zürich nur Rang 5. Der Sieger hiess Luzern.

Als moderner Zürcher mag man über diese Brüskierungen grosszügig hinwegsehen. Denn wenn es nicht um die Sprache geht, sondern um Arbeitsplätze und Wohnungen, ist Zürich so beliebt wie kaum eine andere Region.

Die Kantonsbevölkerung ist in den letzten Jahren so stark gewachsen, dass Zürich bei den Nationalratswahlen am 22. Oktober ein Sitz mehr zusteht: 36 von 200 Nationalräten kommen neu von dort, dazu zwei Ständeräte. Das sind so viele Parlamentarier wie aus keinem anderen Kanton.

Zürich hat also die schlagkräftigste Lobby-Truppe des ganzen Bundeshauses, und die braucht der Kanton auch. Denn das grosse Zürich muss für sich selbst einstehen. Niemand sonst rollt dem Kanton den roten Teppich aus.

Ein Lobbying in vier Schritten

Die 38 Zürcherinnen und Zürcher in Bundesbern sollten es sich zur Aufgabe machen, in Bern vermehrt für ihren Heimatkanton zu kämpfen. Ansetzen sollten sie in vier Bereichen.

Erstens bei den Finanzen. Zürich, es ist hart, aber wahr, ist der Geldonkel der Schweiz. Oder, wie es der Zürcher Finanzdirektor und Landwirt Ernst Stocker (SVP) sagt: die Milchkuh der Nation. Zürich gehört zu den nur acht Kantonen, welche in den nationalen Finanzausgleich einzahlen, und keiner wird stärker geschröpft: Eine halbe Milliarde Franken trägt Zürich 2023 bei.

Zürich ist ein grosser und finanzstarker Kanton, und gegen etwas freundeidgenössische Solidarität ist nichts einzuwenden. Die Probleme beginnen aber dann, wenn es für Empfängerkantone attraktiver ist, ihre Löcher mit Geld aus den Zürcher Transferzahlungen zu stopfen, statt ihr eigenes Los zu verbessern. Genau ein solcher Fehlanreiz ist beim NFA eingebaut, und das ist unfair gegenüber den Beitragszahlern.

Noch viel stärker schenkt der Zürcher Beitrag an die Bundessteuern ein. Bei den Privatpersonen stammt jeder vierte Bundessteuerfranken aus Zürich, bei den Unternehmen ist es etwa jeder sechste. Zürich finanziert also den teuren Berner Bundeshaushalt sehr direkt und überproportional mit.

Die Zürcher Nationalräte sollten sich für tiefere Bundesausgaben und damit auch für tiefere Bundessteuern einsetzen. So helfen sie den Einwohnern und Unternehmen in ihrem Heimatkanton sehr konkret.

Als ob das ganze Wallis jetzt in Zürich lebte

Ansetzen sollte ein Zürcher Lobbying zweitens bei der Migration und dem Arbeitsmarkt. Von 2000 bis 2022 wuchs die Schweizer Bevölkerung um rund 22 Prozent, jene Zürichs legte im gleichen Zeitraum um gut 30 Prozent zu. Das kann, siehe oben, als Kompliment verstanden werden, ist aber auch eine Herausforderung.

Rund 370 000 Personen sind seit der Jahrtausendwende im Kanton Zürich dazugekommen – das ist etwa so, als ob der ganze Kanton Tessin über den Gotthard an die Limmat gezogen wäre, oder sämtliche Walliser. Tatsächlich stammen die meisten Zürcher Zuwanderer aber nicht aus Lugano oder Sion, sondern aus dem Ausland.

Etwa zwei Drittel des Zürcher Bevölkerungswachstums entfällt auf Personen ohne Schweizer Pass. Fremdenfeindliche Polemiken, ob von rechter Seite gegen Asylsuchende oder von linker gegen ausländische Firmen wie Google, sind fehl am Platz, die Auswirkungen einer so starken Zuwanderung sind aber im ganzen Kanton Zürich spürbar.

All diese Leute brauchen Jobs, Wohnungen und Schulen, einige früher oder später auch Spital- und Heimpflege. Eine Abschottung der Schweiz kann keine Lösung sein, aber von einer geschickten Steuerung der Zuwanderung kann Zürich nur profitieren, etwa wenn die Drittstaatenkontingente für qualifizierte Arbeitnehmer von ausserhalb des EU-Raums erhöht werden.

Aus Zürcher Sicht drängt sich ferner eine Liberalisierung des Arbeitsmarkts auf. Es braucht zwar gewisse Leitplanken zum Schutz der Angestellten, viele Einschränkungen aber sind schlicht alte Zöpfe.

So sollte es in der Zürcher Innenstadt möglich sein, dass Läden auch am Wochenende geöffnet haben, genau wie es in anderen Tourismuszonen oder auch am Bahnhof und am Flughafen schon längst erlaubt ist. Es ist jedenfalls kaum erklärbar und zudem höchst ungerecht, wenn ein Grossverteiler im Shop-Ville sonntags Brötchen verkaufen darf, in der Filiale 200 Meter weiter aber nicht.

Noch besser wäre natürlich eine vollständige Freigabe der Öffnungszeiten im ganzen Land, aber das ist wohl zu viel verlangt in einer Zeit, in der staatliche Eingriffe wie kommunale Mindestlöhne mehrheitsfähig sind. Die Stadt Zürich ist hier ein unrühmlicher Vorreiter.

Der Gubrist ist wichtiger als der Gotthard

Die dritte grosse Aufgabe betrifft den Verkehr. Zum Schweizer Nationalstolz gehören die alpenquerenden Verbindungen, die Verkehrsadern im Grossraum Zürich pulsieren aber viel stärker. In Zürich stehen in einem Radius von wenigen Kilometern der grösste Bahnhof, der wichtigste Flughafen und die meistbefahrene Autobahn der Schweiz. Der Gubrist ist vielleicht weniger sexy als der Gotthard, verkehrstechnisch aber viel bedeutsamer.

In der Verkehrspolitik geht es manchmal kaum vorwärts, weil Ideologie auf Raumplanung trifft und von den Grundstückbesitzern bis zu den Nachbarländern alle mitreden wollen. Gleichzeitig ist Verkehrsplanung viel mehr als nur die Verlängerung einer Piste hier und die Verbreiterung einer Strasse dort. Verkehrspolitik ist immer auch Umwelt-, Wirtschafts-, Wohnbau- und Sozialpolitik.

Gerade rot-grüne Zürcher Kreise müssen dabei über ihren Schatten springen: Wer alle, aber auch wirklich alle in der Schweiz willkommen heissen will, steht auch in der Verantwortung, die entsprechende Infrastruktur für die vielen Neuzuzüger bereitzustellen, und dazu gehören auch Strassen.

Und wer in der Stadt Zürich konsequent Wohnbauprojekte, auch gemeinnützige, abschiesst, muss damit leben, dass mehr Leute von auswärts pendeln, teilweise auch aus anderen Kantonen. Das schafft nicht nur mehr Verkehr, Zürich entgehen so auch Steuereinnahmen.

Ganz falsch wäre es schliesslich, die Kapazitäten des Zürcher Flughafens noch weiter zu beschneiden. Wenn etwa Schweizer Inlandflüge verboten würden, dann würden sich die Genfer kaum in den Zug nach Kloten setzen, um ihren Langstreckenflug anzutreten, sondern gleich über Paris, Amsterdam oder Frankfurt fliegen. Dem Klima brächte das nichts, die Schweizer und die Zürcher Wirtschaft aber würden geschwächt.

Solange die Bevölkerung wächst, kommt Zürich um einen moderaten Ausbau seiner Verkehrswege nicht herum. Umso wichtiger ist auch hier eine gezielte Einflussnahme der Zürcher Deputation in Bern.

Die vierte und vielleicht grösste Aufgabe der 38 Zürcherinnen und Zürcher im Bundesparlament ist eine diplomatische: Zürich mag der grösste Kanton sein, doch auch er muss Allianzen schmieden, etwa mit den anderen Geberkantonen im Finanzausgleich und mit seinen Nachbarn; die beiden Kreise überschneiden sich teilweise.

Der Wirtschaftsraum Zürich ist schon längst über die historisch entstandenen Kantonsgrenzen hinausgewachsen. Andere Grossregionen vertreten ihre Interessen mit Erfolg gemeinsam, Zürich sollte dies ebenfalls vermehrt tun. Diese Vernetzung ist primär eine Aufgabe der Kantonsregierung, doch es braucht sie auch in Bern, wo alle Entscheide von nationaler Bedeutung gefällt werden.

Zürich darf nicht das Schlusslicht sein

All das bedeutet natürlich nicht, dass die Zürcher National- und Ständeräte immer geeint auftreten werden. Sie sind schliesslich als Parteivertreter gewählt und nicht als Funktionäre der Greater Zurich Area. Es ist als Minimalforderung aber nicht zu viel verlangt, dass sie ihre Politik wenigstens im Grundsatz darauf ausrichten sollen, ihrem Heimatkanton so wenig wie möglich zu schaden, gerade wirtschaftlich.

Das alles darf nicht bedeuten, dass Zürich einfach auf Bern hofft, statt seine Herausforderungen eigenständig anzupacken. Für sein Schicksal ist der Kanton immer noch in erster Linie selbst verantwortlich.

Wenn es ein Ranking gibt, das die Zürcher wirklich stören sollte, dann ist es nicht das Ranking der Dialekte, sondern dasjenige der Unternehmensbesteuerung – Zürich verlangt die höchsten Tarife der ganzen Schweiz. Kleiner Trost: Das ist eines der Probleme, die der Kanton auch ganz ohne Bundesbern lösen kann. Jetzt muss er es nur noch tun.

27 Kommentare
B. S.

Bevor man in Bern lobbyiert, sollte man sein eigenes Haus in Schuss bringen. Zürich ist eine Steuerhölle, abgeschlagen von allen Kantonen rund um sie herum. Thurgau, Aargau, Luzern, St. Gallen - alle verbessern sich laufend für Unternehmen und erfolgreiche Private. Was macht der Kanton Zürich? Denkt laufend über Steuererhöhungen und Geldverteilmaschine nach, verschleudert Geld für öffentliche Angestellte (+5.1% Lohn 2022/2024! für alle!), Anzahl Angestellt wächst wie eine Löwenzahnwiese - Strasseninfrastruktur wie in dern 50er Jahren, viel weniger Bauzonen als 1980, aber doppelt soviele Einwohner.

Marc Forster

Zur Erheiterung der Zürcherinnen und Zürcher eine Anekdote aus der Bundeshauptstadt Bern: Wie ich einer Meldung der NZZ entnehme, hat die Berner Staatsanwaltschaft die Betreiber des Szenelokals „Brasserie Lorraine“ wegen Rassendiskriminierung gebüsst. Diese hatten weissen Reggae-Musikern den Aufritt verboten, weil diese Rastazöpfe und Afrokleidung trugen. Ja, Sie lesen richtig: Nicht die weissen „Kultur-Aneigner“ wurden wegen Rassismus bestraft sondern die woken Antirassisten. Manche merken erst, wenn die Polizei kommt, dass sie nicht Antifa und Antirassisten sind, sondern Rassisten und Linksfaschos.