Paris, c’est fini! Die französische Hauptstadt verkommt zu einem Abziehbild ihrer selbst

Ich liebte einst das Viertel Saint-Germain-des-Prés. Aber nun bin ich froh, nicht mehr dort zu leben.

Annabelle Hirsch 4 min
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Von dem ikonischen Viertel Saint-Germain-des-Prés in Paris ist nicht viel mehr als eine historische Kulisse für Touristen übrig geblieben.

Von dem ikonischen Viertel Saint-Germain-des-Prés in Paris ist nicht viel mehr als eine historische Kulisse für Touristen übrig geblieben.

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Bevor ich im Jahr 2015 mit Ende zwanzig nach Paris zog, konzentrierte sich meine Idee der französischen Hauptstadt seit meiner Teenagerzeit weitgehend auf ein Viertel: Saint-Germain-des-Prés. Die Mutter meines ersten Freundes hatte einst, als es für Normalsterbliche noch möglich war, eine kleine Wohnung in der Nähe des Kaufhauses Le Bon Marché gekauft und uns damit ermöglicht, als Jugendliche jedes Jahr ein- oder zweimal hinzufahren.

Wir schlenderten durch die Strassen, sassen in Cafés herum, gingen jeden Tag in die Kinos rund um den Carrefour de l’Odéon, in denen alte Filme liefen, die man bei uns nie hätte auf einer grossen Leinwand sehen können. Wir lungerten spätabends in Buchhandlungen, etwa dem bis Mitternacht geöffneten La Hune herum, kauften Bücher über Psychoanalyse, Romane und Gedichtbände, beobachteten die Leute und hofften insgeheim, diese zu dieser Zeit noch halbwegs erschwinglichen Aktivitäten würden uns all den Künstlern und Schriftstellerinnen, die wir bewunderten, ein bisschen näherbringen.

Saint-Germain lebte damals schon von der Aura seiner ehemaligen Bewohner und ihrer Werke. Vom Legendenpaar Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, von den Filmen von Jean-Luc Godard, der jugendlichen Melancholie von Françoise Sagan, von Jean Eustaches «La Maman et la Putain». Wenn man durch die Strassen lief, dachte man an Studenten, die den ganzen Tag rauchend im Café sassen, weil ihr Zuhause zu klein und zu kalt war.

Man dachte an das Theater von Antonin Artaud, den ulkigen Wahnsinn von Boris Vian nach dessen Roman «L’Écume des jours» die einzige bis heute auf dem Boulevard Saint-Germain erhaltene Buchhandlung L’Écume des pages benannt ist, an Marguerite Duras, Serge Gainsbourg. Man dachte an ein Lebensgefühl, das auf Schönheit und Poesie, Liebe, Freiheit und gutes Denken ausgerichtet war.

Natürlich war dieses Viertel schon damals, in den 2000er bis 2010er Jahren, chic. Natürlich war es bourgeois. Nur auf eine ganz andere Weise als das 7. oder 16. Arrondissement. Es war unkonventioneller, vor allem aber auch sozial durchmischter. Es war ein Viertel, das reich war, nur dass sich dieser Reichtum nicht ausschliesslich am Geldbeutel bemass, sondern ebenso an den Büchern, die man in seinem Regal stehen hatte. Oder anders gesagt: Intellektuelles Kapital war hier ebenso viel wert wie ökonomisches.

Zumindest dachten wir das so. Sicher war das Viertel schon damals eine nostalgische Illusion. Nur gab es noch genug konkrete Anhaltspunkte, die einen glauben lassen konnten, etwas von der nach Ideen und weniger nach Geld strebenden Essenz des Ortes habe überlebt: Wenn man morgens ins Café de Flore kam, dann stellte man sich nicht wie heute auf der Strasse an, als würde man einen Klub oder ein Museum besuchen, sondern lief einfach hinein.

Im Inneren sassen nicht als Pariserinnen verkleidete Touristinnen (mit Béret, kurzem Rock, roten Lippen), die dreinschauen, als sässen sie in einer Kulisse, sondern Menschen ganz unterschiedlicher Natur. Manche waren elegant, andere sahen abgeranzt aus, es waren Leute aus dem Viertel, Touristen, Verleger, die ihre Autoren dort trafen, junge Leute, die hofften, allein dort zu sitzen, und dachten, Gedanken in ein Moleskine zu kritzeln, kurble das eigene Genie an.

Wenn man dann hinaus auf die Strasse trat, trällerte einem zuverlässig der immergleiche Singsang entgegen: «Auriez-vous deux ou trois euros, s’il vous plaît?» Hätten Sie bitte zwei, drei Euro? Er kam von Jean-Marc Restoux, einem kleinem Mann mit gewelltem weissem Haar, einem Obdachlosen, der diesen Punkt vor Jahren zu seinem Territorium erkoren hatte. Restoux war so etwas wie ein Maskottchen der Ecke. Er war so berühmt und so beliebt, dass er 2008 sogar für das Amt des Bürgermeisters des 6. Arrondissements kandidierte und dabei von Schriftstellern wie dem damals sehr hippen Frédéric Beigbeder unterstützt wurde. Wie gesagt: Saint-Germain war chic, aber nicht poliert.

Bewegte man sich dann vom Boulevard weg, in Richtung Jardin du Luxembourg, fand man sogar noch Reliquien des Surrealismus. Etwa den wunderschön chaotischen Buchladen Le Pont Traversé, ein winziger, von oben bis unten mit Kunst-Büchern, Poesie-Bänden und Anthologien erotischer Literatur vollgestellter Ort. Marcel Béalu, ein surrealistischer Dichter, hatte das Geschäft 1949 eröffnet, mittlerweile führte es seine Witwe. Wenn man sie ab und zu hinter den Bücherbergen erhaschte, erzählte sie einem etwas von Max Jacob oder Nathalie Clifford Barney. Es war schön, skurril, eine kleine Zeitreise.

Als ich nach Paris gezogen bin, habe ich nur noch selten Zeit in diesem Viertel verbracht. Einfach, weil kaum etwas von dem geblieben ist, das ich daran mochte. Der Boulevard Saint-Germain gleicht mittlerweile einer Luxusmeile, über die man ab und zu eine Schicht intellektuelles Storytelling kleistert. Der radikalste Bruch kam 2012, als die Buchhandlung La Hune aus den historischen Räumen um die Ecke in die Rue Bonaparte umzog und 2015 schliesslich ganz zumachte. An seine Stelle zog ein gigantischer Louis-Vuitton-Laden.

Jean-Marc Restoux, der trällernde Obdachlose, wurde natürlich verscheucht. Überhaupt hat sich das Viertel seiner Bewohner geleert. Man muss nur auf dem Boulevard nach oben schauen, um zu begreifen, dass hier kaum noch jemand wohnt. Die Fensterläden sind meist geschlossen, die Wohnungen wurden zu horrenden Preisen an Investoren verkauft und stehen oft leer.

Selbst Le Pont Traversé, die kleine Buchhandlung, die sich immerhin bis 2021 hielt, hat die Veränderung des Viertels zur Konsum-Kulisse nicht überlebt. Als ich Béalus Witwe damals fragte, weshalb sie ihren Buchladen schliesse, sah sie mich voller Mitleid an, als würde meine grenzenlose Naivität sie schmerzen. Die Besitzerin des Häuserblocks wolle hier keine Buchhandlung mehr, sagte sie, sie denke an Klamotten oder an ein Café, da könne man mehr Miete verlangen. Vor kurzem bin ich dort, wo der Laden früher lag, vorbeigelaufen, um zu sehen, was aus ihm geworden ist. Unter dem noch immer dort hängenden Schild des Pont Traversé verkauft man jetzt: Avocado-Toasts und Matcha Latte.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»