Das Ende der Annäherungspolitik: warum Nordkorea eine strategische Wende vollzieht

Nordkoreas Führer Kim Jong Un hat das Ziel einer friedlichen Wiedervereinigung aufgegeben und Südkorea zum Hauptfeind erklärt. Experten mahnen, die neue Kriegsrhetorik ernst zu nehmen.

Martin Kölling, Tokio 5 min
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Dieses Bild ist Vergangenheit: Nordkoreas Führer Kim Jong Un hat den Wiedervereinigungsbogen abreissen lassen. Stattdessen erklärte er Südkorea zum Hauptfeind.

Dieses Bild ist Vergangenheit: Nordkoreas Führer Kim Jong Un hat den Wiedervereinigungsbogen abreissen lassen. Stattdessen erklärte er Südkorea zum Hauptfeind.

Yuri Maltsev / Reuters

Das ist passiert: Nordkoreas Führer Kim Jong Un richtet seine Bevölkerung im Geschwindschritt auf eine härtere Gangart gegenüber Südkorea ein. Mitte Januar bezeichnete er ein Denkmal für die Bemühungen um eine Wiedervereinigung der geteilten Nation als «Schandfleck». Ein paar Tage später war der grosse Bogen in der Hauptstadt Pjongjang, auf dem zwei Frauen eine Karte der koreanischen Halbinsel hochhielten, verschwunden.

Dies war die bislang jüngste Geste einer strategischen Wende, die Führer Kim vollzieht. Ende des Jahres hatte er bereits die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung aufgegeben und Südkorea zum Feindstaat erklärt. Mitte Januar rief er dann dazu auf, Südkorea sogar in der Verfassung als «unveränderlichen Hauptfeind» zu bezeichnen. Dann schob er eine martialische Drohung nach.

«Meiner Meinung nach können wir die Frage der vollständigen Besetzung, Unterwerfung und Rückeroberung der Demokratischen Volksrepublik Korea in unsere Verfassung aufnehmen», zitierte die nordkoreanische Nachrichtenagentur KCNA am Dienstag aus seiner Rede vor der Obersten Volksversammlung. «Wir wollen keinen Krieg, aber wir haben nicht die Absicht, ihn zu vermeiden.»

Darum ist es wichtig: Nordkorea-Beobachter sehen in den martialischen Gesten und Worten keine Neuauflage rhetorischer Drohungen, um Zugeständnisse bei Verhandlungen zu erzielen. Stattdessen gehen immer mehr Experten davon aus, dass Kim eine Politik der Annäherung an die USA und Südkorea beendet, die sein Grossvater Kim Il Sung und sein Vater Kim Jong Il ab etwa 1990 eingeleitet haben.

Rüdiger Frank, Nordkorea-Experte an der Universität Wien, erklärte bereits in einem Essay auf 38 North, einer Plattform für Informationen über Nordkorea, dass «nur die beunruhigende Erklärung» bleibe, «dass Kim Jong Un es für nötig hielt, seine Untertanen auf eine wesentlich härtere Gangart gegenüber Südkorea vorzubereiten».

Für Frieden und Stabilität auf der koreanischen Halbinsel bedeute dies nichts Gutes, so Frank. Ein Blick auf die historischen Erfahrungen vor dem Koreakrieg deute darauf hin, dass Nordkorea offener versuchen werde, die südkoreanische Gesellschaft zu destabilisieren. Die Nordkorea-Experten Robert Carlin und Siegfried Hecker vom Middlebury Institute of International Studies at Monterey warnten an gleicher Stelle sogar vor einer Neuauflage des Koreakriegs, der 1950 bis 1953 tobte.

«Die Situation auf der koreanischen Halbinsel ist so gefährlich wie seit Anfang Juni 1950 nicht mehr», schreiben die renommierten Beobachter. Damals begann Nordkorea den dreijährigen Koreakrieg. «Es mag übertrieben dramatisch klingen, aber wir glauben, dass Kim Jong Un wie sein Grossvater 1950 die strategische Entscheidung getroffen hat, in den Krieg zu ziehen», so Carlin und Hecker. «Wir wissen nicht, wann und wie Kim den Abzug betätigen wird, aber die Gefahr geht schon jetzt weit über die routinemässigen Warnungen aus Washington, Seoul und Tokio vor den ‹Provokationen› Pjongjangs hinaus.»

Nordkoreas Wenden gehen einher mit den geopolitischen Brüchen der vergangenen Jahrzehnte. So habe Staatsgründer Kim Il Sung 1990 nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auf eine Normalisierung der Beziehungen zu den USA gesetzt, um Nordkorea mehr Spielraum gegenüber seinen traditionellen Verbündeten China und Russland zu verschaffen, erklären die amerikanischen Autoren.

Nach anfänglichen Erfolgen stiessen die Avancen jedoch auf immer weniger Gegenliebe in den USA. Die Gipfeldiplomatie zwischen Kim und US-Präsident Donald Trump, die die schwere Koreakrise von 2017 beendete, gab Kim neue Hoffnung, doch noch Zugeständnisse von den USA zu verhandeln. Doch die Wette habe in einem persönlichen Debakel geendet, meinen Experten.

Der zweite Gipfel in Hanoi 2019 ist krachend gescheitert. «Das war ein traumatischer Gesichtsverlust für Kim», meinen Carlin und Hecker. Aber auch die veränderte geopolitische Lage, allen voran der zunehmende Grossmachtkonflikt zwischen den USA und China, habe Kim 2021 nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss kommen lassen, dass die Zeit der Annäherung an die USA und damit an Südkorea vorbei sei. «Das war keine taktische Anpassung, kein blosses Schmollen Kims, sondern ein grundlegend neuer Ansatz – der erste seit mehr als dreissig Jahren», so die Autoren. Kim wandte sich wieder seinen alten Verbündeten zu, allen voran Russland. Der russische Angriff auf die Ukraine eröffnete ihm sogar die Möglichkeit, Nordkorea durch Waffenlieferungen an Russland als wertvollen Verbündeten zu etablieren.

Wie geht es weiter: Kims Aussagen spiegeln sich bereits in steigenden Spannungen wider. Der südkoreanische Präsident Yoon Suk Yeol antwortete auf Kims Drohung, Südkorea als Feind festzuschreiben, bereits mit einer eigenen Warnung: «Wenn Nordkorea uns provoziert, werden wir es mit gleicher Härte bestrafen.» Doch die Frage ist, ob die verbale Abschreckung ausreicht, um den Frieden zu erhalten.

Ein Grund für die möglicherweise abnehmende Wirkung herkömmlicher Abschreckung ist der Unwille von Kims Partnern China und Russland, neue Sanktionen gegen Nordkorea mitzutragen, ein anderer Nordkoreas Aufrüstung, die Kim Jong Un jüngst verstärkt hat. Nordkorea verfügt über ein Atomwaffenarsenal von schätzungsweise 50 bis 60 Sprengköpfen. Und mit Nordkoreas Raketen könnte Kim nicht nur Südkorea, sondern auch Japan und sogar den US-Stützpunkt auf Guam bombardieren. Einige Experten gehen sogar davon aus, dass Kim mit Interkontinentalraketen die USA erreichen könnte.

Kim testet zudem seine Raketen weiterhin in hohem Tempo. Am Sonntag schossen Kims Militärs mehrere Marschflugkörper ab. Nordkorea liess am Montag verlauten, dass es sich dabei um atomare Trägerwaffen gehandelt habe, die von einem U-Boot abgefeuert werden könnten.

Dazu kommt die geschichtliche Erfahrung, dass Nordkorea US-Präsidentschaftswahlen für militärische Provokationen nutzt. Zudem hat Kim jüngst Gesprächsangebote der USA abgelehnt. Victor Cha und Andy Lim von der US-Denkfabrik Center for Strategic and International Studies glauben daher: «Es wird wahrscheinlich einen Anstieg der nordkoreanischen Angriffslust im Jahr 2024 geben.» Sie raten daher von Konzessionen an Kim ab. «Stattdessen sollten die kommenden Provokationen als Grundlage dienen, die Sicherheitsbeziehungen zwischen den USA, Japan und Südkorea zu stärken.»

Der konservative südkoreanische Präsident Yoon hatte die Annäherung zwischen seinem Land und dem früheren Besetzer Japan zu einem seiner politischen Pfeiler erklärt – mit Erfolg. Nach Jahren des Streits um Japans Eroberungsgeschichte bauen die Nachbarn ihre militärische Zusammenarbeit wieder aus, sehr zur Freude ihrer gemeinsamen Schutzmacht USA und zum Ärger Chinas.

Das meinen wir: Nordkoreas Potenzial, eine neue Koreakrise auszulösen, wächst. Es könnte wie in der Vergangenheit zu einem Beschuss südkoreanischen Territoriums kommen. Eine weitere Möglichkeit wäre ein siebter Atomtest. Der bisher letzte löste 2017 eine zum Glück nur verbale Konfrontation mit den USA aus, die in der Gipfeldiplomatie zwischen Trump und Kim mündete. Dieses Mal ist das Risiko allerdings grösser, dass die Lage eskaliert.

Erstens kooperiert China derzeit nicht mehr bei Sanktionen der Vereinten Nationen. Zweitens erlaubt der Waffendeal mit Russland Nordkorea, seine eigene Waffenindustrie zu beleben und damit die Schlagkraft seines Militärs zu erhöhen. Allerdings könnte China weiterhin bremsend auf Kim einwirken.

In den vergangenen Monaten haben Peking und Washington versucht, die Lage etwas zu entspannen. Zudem hat Chinas Regierung wieder begonnen, verstärkt um ausländische Investoren zu werben. Dies legt nahe, dass Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping derzeit kein Interesse an einer neuen Krise auf der koreanischen Halbinsel hat. Allerdings ist sein Einfluss auf Kim begrenzt. Die koreanische Halbinsel wird damit erneut zu einem möglichen Krisenherd.

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