Olympia-Gründer de Coubertin: Hitlers Telegramm rahmte er ein, schmückte es mit einem Olivenzweig und hängte es an die Wand

Pierre de Coubertin habe mit den Nazis kooperiert und sie gelobt, schreibt ein Historiker. Das Olympische Komitee widerspricht – und erklärt, warum im Museum nicht näher auf die Kontroverse eingegangen wird.

Antonio Fumagalli, Lausanne
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Baron Pierre de Coubertin, der Gründer der modernen Olympischen Spiele.

Baron Pierre de Coubertin, der Gründer der modernen Olympischen Spiele.

Eugen Suter / Photopress / Keystone

Ein grosser Visionär seiner Zeit, ein Genie, ein unabhängiger Geist, der alle Menschen und Kulturen gleichermassen einbezieht: So präsentiert das Internationale Olympische Komitee (IOK) seinen Gründer, Pierre de Coubertin, gerne. Der Aufsatz eines Historikers fügt diesem Bild nun ein paar Schatten bei – der Baron soll gegenüber Adolf Hitler wohlwollender gewesen sein, als bisher bekannt war.

Der 15-seitige Aufsatz, der in wenigen Tagen in der sportgeschichtlichen Zeitschrift «Stadion» erscheinen wird und über den der «Spiegel» zuerst berichtet hat, trägt den schlichten Titel «Coubertin und Hitler». Der Autor Hans Joachim Teichler wertete dafür historische Quellen neu aus und stützte sich dabei insbesondere auf die Tagebücher von Carl Diem. Dieser war als Generalsekretär des Organisationskomitees massgeblich an der Ausgestaltung der Olympischen Spiele von 1936 in Berlin beteiligt. Teichlers Schlussfolgerung nach Aufarbeitung der Tagebücher: Das Hitlerbild de Coubertins müsse «präzisiert und korrigiert» werden.

So fragte de Coubertin, der sein Amt als IOK-Präsident 1925 niederlegte, am 8. Mai 1935 Diem schriftlich an, «ob er für seine Autogrammsammlung wohl einige handschriftliche Worte des Führers und Reichskanzlers erhalten könnte». Diem leitete die Bitte umgehend an den Leiter der Präsidialkanzlei weiter, der ebenso schnell reagierte. Schon wenige Tage später sandte er ein Bild Hitlers mitsamt Unterschrift nach Lausanne, wo das IOK seit 1915 seinen Hauptsitz hat und de Coubertin auch residierte. Nur die handschriftlichen Worte waren «leider nicht möglich».

Dass die deutschen Olympia-Organisatoren derart dienlich waren, kam nicht von ungefähr: Sie waren auf de Coubertin angewiesen, auch wenn er beim IOK längst kein offizielles Amt mehr innehatte. Der Baron sollte die US-Sportler zur Reise nach Berlin bewegen, denn die amerikanische Delegation hatte ihre Teilnahme zu diesem Zeitpunkt noch nicht zugesichert – angesichts der stetig gnadenloser werdenden Nazidiktatur war eine internationale Boykottbewegung in Gang. Gemäss Diem bezeichnete de Coubertin diese als «dumme Anti-Hitler-Kampagne». Kurz vor den Spielen benannten die Nazis einen Vorplatz des Olympiastadions nach de Coubertin und überwiesen ihm sogar 10 000 Reichsmark, weil er sich in der Zwischenzeit in einer finanziell prekären Situation befand.

«Er fragt viel nach Hitler»

Das Interesse de Coubertins für Hitler habe schon kurz nach dessen Machtübernahme begonnen, schreibt der Historiker Teichler. Im Sommer 1933 trafen sich Diem und de Coubertin in Schaffhausen und besprachen die kulturelle Ausgestaltung der Eröffnungsfeier. Diem sprach in seinen Tagebüchern von «Tagen herzlicher Freundschaft» und berichtete, dass Coubertin die «Umwälzungen in Deutschland als Zeichen einer Weltenwende, die alle Völker in nicht allzu langer Zeit erfassen würde» erachtete.

Von den Olympischen Spielen in Berlin erwarte er eine «kulturelle Tat», was auch der Haltung der damaligen IOK-Führungsriege entsprach. Und als ein Deutsch-Amerikaner de Coubertin zu überzeugen versuchte, eine antideutsche Haltung einzunehmen, habe dieser ihn abgewimmelt. «Er freue sich im Gegenteil auf dieses grossartige Fest. Er fragt viel nach Hitler und nach allem, was er hört und kennt», notierte der OK-Präsident Diem.

Am «grossartigen Fest» selbst war de Coubertin allerdings nicht anwesend – dies, obwohl er eingeladen gewesen wäre, betont die IOK-Medienstelle heute. Der Präsident des Organisationskomitees pries den Pensionär in seiner Eröffnungsrede als «grössten Erzieher aller Zeiten». Hitler persönlich grüsste de Coubertin am ersten Wettkampftag mit einem Telegramm. «Das deutsche Volk schätzt sich glücklich, mit der Durchführung der diesjährigen Olympischen Spiele in Berlin einen Beitrag zu Ihrem unvergänglichen Werk des olympischen Gedankens leisten zu können», stand darin unter anderem.

De Coubertin schien die Bauchpinselei geschätzt zu haben. Hitlers Telegramm habe er eigenhändig eingerahmt, mit einem Olivenzweig geschmückt und in der Villa Mon Repos aufgehängt, schreibt Teichler. Für den Historiker ist klar: Pierre de Coubertin sei ein «früher Bewunderer» des Führers gewesen, da dieser die Inszenierung der Olympischen Spiele zu einem Gesamtkunstwerk überhaupt erst ermöglicht habe. «De Coubertin kritisierte nicht – er kooperierte und lobte», fasst er zusammen. Ihn deswegen als Faschisten zu bezeichnen, gehe aber «entschieden zu weit».

Die Nazis hoben die Spiele auf «ein neues Level»

Ein deutlich helleres Bild von de Coubertin zeichnet der amerikanische Autor George Hirthler, der eine Biografie über den Begründer der modernen Olympischen Spiele geschrieben hat und die Website «Coubertin Speaks» betreibt. Der Baron sei in der Tat dankbar dafür gewesen, dass die Nazis «seinen» Sportanlass dank der beeindruckenden Organisation «auf ein neues Level» gehoben hätten. Aus diesem Grund habe er auch die Boykottaufrufe gegen sein «Lebenswerk» nicht unterstützt.

Ideologisch hingegen sei de Coubertin so weit von Hitler entfernt gewesen, wie es nur sein könne. «Die Philosophie des Olympismus ist die Antithese zum Faschismus», sagt er und verweist darauf, dass de Coubertin über den Sport «in Freundschaft und Friede die Welt zusammenbringen wollte».

In die gleiche Kerbe schlägt auch das Internationale Olympische Komitee selbst. Die Medienstelle erinnert daran, dass sich de Coubertin schon bei der Gründung des IOK 1894 mit sechs der dreizehn ersten, ab 1901 gekürten Friedensnobelpreisträger umgeben habe. Das beweise, dass es ihm zeit seines Lebens um die Friedensförderung durch den Sport gegangen sei – was totalitärem Gedankengut völlig zuwiderlaufe.

Diese Ideologie ziehe sich seit den Olympischen Spielen der Neuzeit ab 1896 durch: «Die Spiele senden eine kraftvolle Botschaft der Vielfalt, Inklusion und Nichtdiskriminierung, indem Athleten von allen Rassen, Religionen, Ethnien und Kulturen gegeneinander antreten und gemeinsam im olympischen Dorf wohnen», schreibt das IOK.

De Coubertin habe diese Gedanken auch anlässlich der Berlin-Spiele von 1936 kundgetan, indem er die Fackelträger daran erinnert habe, dass «keine Nation, keine Klasse, kein Beruf» ausgeschlossen sei. Für die Schlussfeier habe er folgende Worte formuliert: «Allmähliches Verständnis wird schreckliche Ignoranz ersetzen und impulsiven Hass lindern.» Das IOK liest die Passage als «explizites Zeichen gegen Rassismus».

«Hunderte Bücher» zum Thema

Eine der grössten Touristenattraktionen in Lausanne, die sich stets als «Olympische Hauptstadt» preist, ist das olympische Museum. Hinweise darauf, dass Übervater de Coubertin durchaus wohlwollende Bemerkungen an Nazideutschland gerichtet hatte, sucht man dort vergeblich. Warum?

Die IOK-Medienstelle verweist darauf, dass die Spiele von 1936 im Museum «gleich wie alle anderen Ausgaben seit 1896» thematisiert seien. Dazu gehöre auch eine historische Einordnung. Besucherinnen und Besucher, die sich mit einer bestimmten Olympiade vertieft auseinandersetzen wollten, könnten sich ins unmittelbar danebenliegende Olympic Studies Centre begeben. Allein über Coubertin und Berlin 1936 finde man dort «Hunderte Bücher».