Die Alpenkulisse vieler Bollywood-Produktionen trägt in Indien erheblich zur grossen Popularität der Schweiz als Reisedestination bei. (Bild: Simon Tanner / NZZ)

Die Alpenkulisse vieler Bollywood-Produktionen trägt in Indien erheblich zur grossen Popularität der Schweiz als Reisedestination bei.
(Bild: Simon Tanner / NZZ)

1000 Einreisebewilligungen pro Tag: Willkommen in der Schweizer Visafabrik in Delhi

Die Schweiz ist in Indien ein beliebtes Reiseziel. Dies spürt auch die Botschaft in Delhi. In der Hochsaison arbeitet die hiesige Visaabteilung im Akkord.

Volker Pabst, Delhi
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Das Schweizer Visazentrum in Delhi empfängt seine Gäste mit einer subtilen Replik auf Indiens allgegenwärtigen Dauerlärm: Ländlermusik in der Endlosschlaufe. Man nimmt das gerne in Kauf. Denn der moderne Raum ist in geschmackvoller Nüchternheit gestaltet. In Referenz an die Schweiz zeichnet eine weisse Linie an den Wänden das Profil bekannter Alpengipfel nach, und ein Bildschirm zeigt reizvolle Landschaftsaufnahmen. Vor allem aber ist es hier angenehm kühl. In der Gluthitze des nordindischen Sommers ist jeder klimatisierte Raum ein Gottesgeschenk.

Anhaltendes Wachstum

Die Hochsaison im indischen Reisegeschäft dauert von April bis Juni, die heissesten Monate des Jahres, in die auch die langen Schulferien fallen. Etwas früher, um einige Wochen zeitversetzt, herrscht auf den Konsulaten der Reiseländer Hochbetrieb. Indische Staatsbürger brauchen für die meisten klassischen Feriendestinationen ein Visum, auch für den Schengenraum und somit auch die Schweiz. Im Mai stellt die hiesige Botschaft weit über 1000 Einreisebewilligungen pro Tag aus, der Rekord liegt bei 1780. 2016 wurden in Delhi insgesamt 107 000 Schweizer Visa vergeben, weit mehr als überall sonst. Bei der Botschaft in Bangkok, die an zweiter Stelle folgt, waren es weniger als 36 000.

«Die Schweiz ist in Indien ein sehr beliebtes Reiseland», erklärt Claudio Zemp, der Leiter der Vertretung von Schweiz Tourismus in Mumbai. 80 Prozent aller Schweizer Visa werden hierzulande für Touristen ausgestellt. Indien ist der achtgrösste Markt für den Schweizer Fremdenverkehr und gehört, wie China oder die Golfregion, zu den strategischen Wachstumsländern. «Wir rechnen mit einem Anstieg der Übernachtungszahlen von 10 Prozent pro Jahr.»

Was die Schweizer Hotellerie freut, bedeutet für die Visabehörde in erster Linie viel Arbeit. «Wir treffen aber entsprechende Vorkehrungen», erklärt der Leiter der Visasektion, Beat Wälchli, nicht ohne Stolz. Das Personal wird saisonal auf 36 Angestellte verdoppelt, nur 6 von ihnen sind wie der Langenthaler auf mehrere Jahre in Indien stationierte Konsularbeamte. Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) entsendet sogenannte Springer für Kurzeinsätze, aber auch in Delhi wird rekrutiert. Nach bestandenem Vorbereitungskurs darf auch das temporäre Personal Visaentscheide fällen. Bedingung hierfür ist die Staatsbürgerschaft eines Schengenstaats, wobei gewisse Verantwortlichkeiten Schweizern vorbehalten sind. Für administrative Aufgaben wird auch lokales indisches Personal angestellt.

Zudem wurde der Arbeitsprozess zentralisiert, wovon man sich nach Überwindung einiger Umstellungsschwierigkeiten Effizienzgewinne erhofft. Die Visastelle am Generalkonsulat in Mumbai wurde geschlossen, obwohl die meisten Gesuche bis heute aus der wohlhabenden Wirtschaftsmetropole im Süden kommen. In Delhi, wo nun die Anträge aus dem ganzen Land bearbeitet werden, steht der Visaabteilung ein Anbau des vom «Landi»-Architekten Hans Hofmann entworfenen Botschaftsgebäudes zur Verfügung, der früher von der Deza genutzt wurde. Dass die Pflege der Geschäftsbeziehungen, in diesem Fall des Reisemarkts, mehr Platz einnimmt als die Entwicklungszusammenarbeit, dürfte als Trend auch über die Raumnutzung der Botschaft hinaus Gültigkeit haben.

Trotz der Zentralisierung müssen nur die wenigsten Antragsteller oder Kunden, wie es im Management-Deutsch der Bundesverwaltung heisst, für ihr Visum nach Delhi reisen. Wie in vielen Ländern arbeiten die 27 Schengenstaaten auch in Indien für die Annahme der Anträge mit einem externen Dienstleister zusammen. Der hiesige Partner VFS Global, eine Tochter der Kuoni-Gruppe, unterhält Erfassungszentren in den 12 grössten Städten des Landes. In der Hochsaison reichen an diesen täglich Tausende von Reisewilligen ihre Unterlagen ein und lassen sich, wie seit Ende 2015 vorgeschrieben, biometrisch erfassen. Das VFS-Zentrum in Delhi, nach Mumbai das grösste des Landes, belegt ein ganzes Stockwerk einer Metro-Station im Zentrum der Stadt. Im Mai ist der Andrang gewaltig, in der riesigen Halle weist ein farbiges Leitsystem am Boden die Antragsteller je nach Reiseziel zum richtigen Schalter. An vieren davon prangt ein kleines Schweizerkreuz.

Gaurav Said ist einer der vielen, die auf der Wartebank davor sitzen. Er ist zum 50. Geburtstag eines Freundes in Stäfa eingeladen. Anders als die meisten Wartenden organisiert er die Reise in die Schweiz aber selber und geht nicht über ein Reisebüro, das auch bei der Antragstellung behilflich wäre. Als Individualreisender gehört er zu jener Gruppe, die der Schweizer Fremdenverkehr hierzulande verstärkt ansprechen will.

Die eidgenössische Botschaft wird Said vor seiner Reise kaum betreten müssen. VFS erfasst seine Daten und schickt diese mit dem Pass per Kurier ans Visazentrum, wo in der Hochsaison jeden Tag buchstäblich Kofferladungen an Dokumenten eintreffen. Dort überprüft das Team von Beat Wälchli den Antrag, klebt bei einem positiven Entscheid das Schengen-Visum ein und retourniert den Pass an VFS, wo ihn der Antragsteller abholen kann. Mehr als eine Woche dauert der ganze Prozess selten. VFS nimmt jährlich 750 000 Anträge für den ganzen Schengenraum entgegen. Bei einer durchschnittlichen Bearbeitungsgebühr von umgerechnet 20 Franken, die zusätzlich zu den 60 Euro an Visakosten erhoben werden, ist das ein einträgliches Geschäft für die Firma.

Doch auch die an der Kooperation beteiligten Botschaften profitieren vom Arrangement. «Wenn wir jeden Antragsteller persönlich erfassen würden, hätten wir hier einen Riesenandrang», sagt Wälchli. Tatsächlich herrscht auf der Visasektion der Schweizer Vertretung trotz Rekordumsatz ein ziemlich ruhiger Betrieb. Ganz anders auf dem Nachbargrundstück der Amerikaner. Die USA interviewen jeden Antragsteller einzeln. Die langen Schlangen vor der amerikanischen Vertretung gehören in Delhis Botschaftsviertel zum Stadtbild dazu.

Die Schweiz lädt nur wenige Kandidaten persönlich vor, etwa wenn Dokumente manipuliert wirken. Neben Pass und Ticket müssen auch eine Einladung, eine Reiseversicherung und als Liquiditätsnachweis ein Bankauszug mit mehr als 100 Franken Guthaben pro Reisetag vorgelegt werden. Weil in Indien mit Beziehungen und Geld auch Dokumente besorgt werden können, die zwar technisch einwandfrei, aber dennoch nicht authentisch sind, achtet man auch auf andere Unstimmigkeiten im Dossier.

Suspekte Anträge

«Wenn ein Ehepaar erst Wochen nach Erhalt des eigenen Visums einen Antrag für sein Kleinkind stellt, ist das auffällig», erklärt Daniel Berset, der Experte für gefälschte Dokumente auf der Visasektion. Menschenschmuggel findet in Südasien vor allem innerhalb der Grossregion statt, es gibt aber auch kriminelle Netzwerke, die Kinder nach Europa schleusen. Stösst die Botschaft auf einen solchen Fall, würden die Schweizer Behörden informiert. Mit den indischen Behörden arbeite man in diesen Fragen aber nicht zusammen. Häufiger als Menschenhandel träten Fälle junger Männer auf, die in Europa ihr Glück versuchen wollten und sich dafür gegen Geld ein fingiertes Dossier zusammenstellen liessen. In beiden Fällen sei die Schweiz weit öfter Transit- als Zielland. Ein Schengen-Visum erlaubt die Einreise in alle 27 Mitgliedsstaaten. «Unsere Ablehnungsquote hier in Indien liegt bei 6 bis 7 Prozent», erklärt Wälchli.

Die meisten Besucher kommen jedoch nicht ins Visazentrum, weil ein Verdachtsmoment besteht, sondern weil für gewisse Kategorien eine persönliche Vorsprache obligatorisch ist. An diesem Montagmorgen sind es vor allem Studenten. Harneel und Aashey wurden für ein Masterstudium am Genfer Hochschulinstitut für Internationale Studien zugelassen. Die Teilchenphysikerin Oindrila aus Bangalore tritt eine Postdoc-Stelle in Basel an. Daneben warten noch zwei Angestellte des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Delhi darauf, ihre Unterlagen abzugeben. Sie sind an einen Kurs in Genf eingeladen. Für ihre kostenlosen Courtoisie-Visa habe man ihnen geraten, direkt über die Botschaft zu gehen. «Zudem bekommt man so einen kleinen Vorgeschmack. Ich war noch nie in der Schweiz», erklärt einer der beiden. Ob er damit die Ländlermusik meine, sagt er nicht.