Run aufs Gymnasium: «Die Chancenungleichheit zwischen Kindern aus Akademikerfamilien und Arbeiterkindern ist grösser geworden»

Schüler aus einfachen Verhältnissen sind besonders hoch motiviert und schaffen daher die Matura. Allerdings müssen sie dafür hart kämpfen, wie eine neue Studie der Bildungsforscherin Margrit Stamm zeigt.

Erich Aschwanden
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Für Kinder aus einfachen Verhältnissen ist die Motivation entscheidend für den Erfolg am Gymnasium.

Für Kinder aus einfachen Verhältnissen ist die Motivation entscheidend für den Erfolg am Gymnasium.

Simon Tanner / NZZ

Die Gymiprüfungen, insbesondere im Kanton Zürich, zeigen es jedes Jahr aufs Neue: Kinder aus Arbeiterfamilien haben geringere Chancen, an die Mittelschule zu wechseln, als solche aus dem gehobeneren Milieu. Zu den schärfsten Kritikerinnen dieser Ungleichheit gehört die Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm. Damit sich die Diskussion nicht im luftleeren Raum abspielt, hat Stamm eine Pilotstudie bei Arbeiterkindern durchgeführt, die diesen mühsamen Weg gegangen sind. Die Ergebnisse sind zum Teil überraschend.

Ausgewertet wurden die Antworten von 98 Personen, die den Sprung ins Gymnasium geschafft haben und eine akademische Laufbahn anstreben konnten. Davon sind 57 Frauen und 41 Männer. Das mittlere Alter liegt bei 48 Jahren, die Spannbreite liegt zwischen 21 und 90 Jahren. Der älteste Teilnehmer hat seine Gymnasialzeit 1942 begonnen, die jüngsten Teilnehmerinnen kamen 2015 auf die Mittelschule. Befragt wurden ehemalige Gymnasiasten aus Familien ohne Migrationshintergrund. Dies, weil intellektuell begabte Arbeiterkinder gemäss Stamm fast vollständig vom Radar verschwunden sind.

Arbeiterkinder sind motiviert und fleissig

Aufschlussreich sind die Angaben, welche die Befragten zu den Erfolgsfaktoren machen. Warum sie also aus ihrer Sicht zu Bildungsaufsteigern geworden sind. Ganz klar obenaus schwingt mit 37,8 Prozent die Motivation, das Gymnasium erfolgreich zu absolvieren. Mit Begabung (26 Prozent) und Fleiss (14,3 Prozent) folgen zwei weitere persönliche Merkmale auf den nächsten Plätzen. Unterstützung von aussen, etwa durch die Eltern (4,6 Prozent), Lehrerinnen und Lehrer (8,2 Prozent) oder Dritte wie Verwandte oder Schulkameraden (9,2 Prozent), spielt eine wesentlich geringere Rolle.

Erfolgsfaktoren fürs Gymi aus persönlicher Sicht

Angaben der Befragten in Prozent

Margrit Stamm überrascht dieser Befund überhaupt nicht. «Wer es als Arbeiterkind aufs Gymnasium schafft, verfügt meistens über eine hohe Motivation und lernt gerne», erklärt die emeritierte Professorin der Universität Freiburg. Dieser Faktor trage viel zum Lernerfolg bei. Stamm ist überzeugt, dass Kinder aus gutsituierten Haushalten oft schlechter motiviert sind. «Leider gibt es zu dieser Frage keine vergleichenden Untersuchungen. Entsprechende Anfragen wurden bisher von Schulleitungen immer wieder abgelehnt», bedauert sie.

«Ich wage die These aufzustellen, dass heutzutage manche Jugendliche in erster Linie deshalb im Gymnasium sind, weil es ihre Eltern so wollen», sagt Stamm und fährt fort: «Die fehlende Motivation ist die grosse Achillesferse vieler Mittelschülerinnen und Mittelschüler.» Ein nicht kleiner Teil der vielen Studienabbrüche sei auf diese Tatsache zurückzuführen. «Vielen Kindern aus dem gehobeneren Milieu wäre es wohler, wenn sie eine Lehre machen würden», sagt Stamm und weiss, dass sie sich mit solchen Äusserungen bei manchen Eltern nicht beliebt macht.

Stamm ist keineswegs die einzige Bildungsforscherin, die diese Ansicht vertritt. So erklärte die ETH-Professorin Elsbeth Stern im Interview mit der NZZ, dass mindestens 30 Prozent der Mittelschüler nicht ans Gymnasium gehörten – weil sie nicht übermässig intelligent seien. Stern schlägt auch vor, keine kommerziellen Kurse zur Unterstützung mehr durchzuführen. Dafür sollten alle Kinder mit guten Leistungen in der Primarschule die Gelegenheit erhalten, mit dafür ausgebildeten Lehrpersonen für die Gymiprüfung zu lernen.

Eltern sind kein Hemmschuh

Arbeiterkinder sind mehrheitlich auf sich selber gestellt. Auch wenn die Eltern von Arbeiterkindern ihren Sprösslingen nur wenig Unterstützung etwa durch Nachhilfeunterricht oder durch Hilfe bei Hausaufgaben bieten können, sind sie kein Hemmschuh für den Aufstieg. «Es hat mich überrascht und gefreut, wie wenige Eltern den Plänen ihrer Kinder negativ gegenübergestanden sind», betont Stamm, die selber aus einer Arbeiterfamilie kommt. Zumindest emotional und moralisch seien viele dieser Kinder zu Hause unterstützt worden. Dies sowohl beim Übertritt ans Gymnasium wie auch später auf ihrem Weg zur Matura.

Einstellung der Eltern zum Wechsel ans Gymi

Angaben der Befragten in Prozent

Die Pilotstudie, die die Grundlage für ein Buch mit dem Titel «Von unten nach oben: Bildungsaufstiege von Arbeiterkindern» liefern soll, zeigt weiter, dass sich die Situation der Kinder aus einfachen Verhältnissen in den letzten Jahren nicht verbessert hat. «Im Gegenteil, die Chancenungleichheit ist sogar noch grösser geworden. Der Schulerfolg ist noch stärker als früher von der Herkunft abhängig», konstatiert Stamm.

Die Unterstützung durch die Eltern mit hohen Bildungsambitionen setze heute deutlich früher und strategischer ein und nehme immer grössere Formen an. «Es wird immer schwieriger, herauszufinden, ob ein Kind tatsächlich begabt ist oder ob es mit viel Nachhilfe auf ein solches Niveau gebracht wird», erklärt die Studienautorin. Demgegenüber haben 88 Prozent der für die Studie befragten Arbeiterkinder erklärt, dass sie während der Volksschule keine Nachhilfe erhalten haben. Ein gerechteres Schulsystem muss laut Stamm so strukturiert sein, dass Elternunterstützung nicht vorausgesetzt wird. Ausserdem dürften familiäre Förderressourcen und externe Lernunterstützung durch Nachhilfe nicht das Zünglein an der Waage spielen beim Gymi-Übertritt.

Der Run aufs Gymnasium insbesondere aus Akademikerkreisen verschlechtere die Aussichten von Schülerinnen und Schülern aus einfachen Verhältnissen, so ist Margrit Stamm überzeugt. «Der schärfer werdende Kampf um die beschränkte Zahl von begehrten Plätzen an den Mittelschulen führt dazu, dass Arbeiterkinder nicht selten als unerwünschte Konkurrenz betrachtet werden.»

Immer wieder würden Kinder aus einfachen Verhältnissen mit dem Argument vom Besuch des Gymnasiums abgehalten, dass sie es dort besonders schwer haben würden, da ihnen die Unterstützung durch die Eltern und das persönliche Umfeld fehlen werde. Als «Scheinargument» bezeichnet es Stamm, wenn solche Kinder vertröstet würden mit der Erklärung, das schweizerische Bildungssystem sei durchlässig. Wer es nicht ins Gymnasium schaffe, könne ja später trotzdem ein Hochschulstudium absolvieren.

«Die Durchlässigkeit darf nicht als Alibi benutzt werden, um intellektuell begabte Heranwachsende aus bescheidenen Familienverhältnissen in die Berufsbildung abzudrängen, während Söhne und Töchter aus Akademikerfamilien unhinterfragt ebenso Akademiker und Akademikerinnen werden», so Stamm. Zielführend wäre aus ihrer Sicht vielmehr, wenn die «richtigen» Jugendlichen das Gymnasium machen würden und die «richtigen» Jugendlichen eine Berufslehre absolvieren würden.

Fast keine Bücher zu Hause

Die Pilotstudie macht auch deutlich, dass Kinder aus einfachen Verhältnissen die schlechteren Voraussetzungen haben, auch wenn man den Faktor Nachhilfeunterricht nicht beachtet. Die Teilnehmenden stammen aus bescheidenen Verhältnissen. Die Hälfte der Väter und Mütter haben eine Berufslehre absolviert, die andere Hälfte verfügt lediglich über einen Volksschulabschluss oder weniger.

Das wirkt sich auf die Situation zu Hause aus. So gaben 20 Prozent der Befragten an, dass ihre Eltern zu Hause keine oder nur bis zehn Bücher besassen, 20 Prozent besassen mehr als hundert Bücher. Zudem gaben 98 Prozent an, in der Freizeit wenig mit den Eltern unternommen zu haben, auch was Besuche in Museen oder im Theater, im Kino oder in der Bibliothek betrifft – also dies, was allgemein als Bildungskapital bezeichnet wird.

Aufgrund ihrer Forschungen schlägt Margrit Stamm vor, dass die Förderung begabter, benachteiligter Kinder in der Primarschule verstärkt wird und nicht wie bisher dem Zufall überlassen wird. «Unsere Gesellschaft sollte sich genauso für die bestmöglichen Bildungslaufbahnen von intellektuell begabten Kindern aus Nicht-Akademiker-Familien einsetzen, wie dies die Eltern mit einem Hochschulabschluss für ihren Nachwuchs tun», fordert Stamm. Bis es so weit ist, werden allerdings noch viele Nachhilfe- und Stützkurse zum Bestehen der Gymiprüfung erteilt werden.