Tausende folgten ihrem Aufruf nach Liestal: Wer hinter «Stiller Protest» steckt – und wie rechtslastig die Corona-Demonstranten wirklich sind

Die Demo der bisher kaum bekannten Formation «Stiller Protest» vom letzten Samstag hat viele überrascht. Doch sosehr sich die Anti-Corona-Bewegung wandelt – im Hintergrund agieren immer wieder bekannte Köpfe aus der Szene.

Daniel Gerny, Erich Aschwanden
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Anhänger von «Stiller Protest» bei der Demonstration gegen die Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus in Liestal.

Anhänger von «Stiller Protest» bei der Demonstration gegen die Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus in Liestal.

Georgios Kefalas / Keystone

Am 7. November 2020 marschiert ein versprengtes Grüppchen von Corona-Skeptikern durch Zürich. Um aufzufallen, lassen sich die Demonstranten etwas Spezielles einfallen. Sie kleiden sich einheitlich in weisse Schutzanzüge und tragen Pappschilder mit eingängigen Botschaften vor sich her: «R. I. P. Demokratie» oder «Denke nicht – gehorche!». Es ist nichts, was die Welt bewegt, die Medien berichten kaum. Schon am Tag darauf ist der Spuk vergessen. Nur die Veranstalter sind euphorisiert: «Wir haben es geschafft! 47 Teilnehmer! Ihr wart alle suuuper!» So jubeln sie auf Telegram, dem bei Corona-Skeptikern besonders beliebten Messenger-Dienst.

Vier Monate später folgen dem Demoaufruf von «Stiller Protest» über 5000 Personen nach Liestal. Es ist der bisher grösste Anti-Corona-Aufmarsch in der Schweiz, und wiederum sorgen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in ihren weissen Anzügen für einprägsame Bilder.

Der Name der Organisation und die Art des Auftritts sind geschickt gewählt: Sie machen glauben, dass eine geheimnisvolle, neuartige Bewegung scheinbar aus dem Nichts entsteht; eine Welle, die schleichend eine schweigende Mehrheit erfasst und immer stärker wird. Mindestens 10 000 Personen, so hoffen die Organisatoren, werden sich bei der nächsten Grosskundgebung versammeln.

Keine Antwort von «Martin»

Doch wer steckt hinter «Stiller Protest»? Auf der Website findet sich kein Name und keine Auskunftsperson. Auch die Recherche, wer die Domain für die Website reserviert hat, führt ins Leere. Eine Mail mit Fragen an die angegebene Kontaktadresse löst statt Antworten Gegenfragen von einem «Martin» aus: «Welcher Titel soll der Bericht haben? Was wird der Schwerpunkt sein? Bitte senden Sie uns Ihre Fragen. Wir werden diese prüfen und dementsprechend beantworten.» Die Organisatoren scheuen sich, ihre Karten auf den Tisch zu legen.

Etwas klarer lässt sich umreissen, wer bei Corona-Kundgebungen wie jenen von Liestal mitmarschiert. Drei Forscher der Universität Basel – Oliver Nachtwey, Robert Schäfer und Nadine Frei – haben die politische Soziologie der Proteste in Deutschland und in der Schweiz mit Umfragen und mit qualitativen Interviews untersucht.

Sie sind zu einem interessanten Schluss gekommen: Ausbildungsniveau und Alter der Beteiligten sind höher als in der Durchschnittsbevölkerung. Es sind überproportional viele Selbständigerwerbende dabei. Und die Mittelschicht bildet den Schwerpunkt der Bewegung. Normalbürger also.

Auch parteipolitisch sind die Teilnehmer nicht besonders auffällig. Personen, die bisher SVP gewählt haben, sind mit 33 Prozent im Vergleich zu ihrem Wähleranteil leicht übervertreten. Doch eindeutig rechtslastig ist die Bewegung nicht. 16 Prozent gaben in der Befragung der Uni Basel an, bei den nationalen Wahlen 2019 SP gewählt zu haben, 13 Prozent Grünliberale und 11 Prozent Grüne. «Es handelt sich aber nicht um eine parteipolitische Bewegung», erklärt Schäfer. Viele der Teilnehmer verorteten sich selber nicht auf dem Links-rechts-Schema.

So durchgestylt wie Operation Libero

Die Studienautoren sprechen stattdessen von einer heterogenen Bewegung, bestehend aus mehreren Gruppen, die über unterschiedliche Mentalitäten miteinander verbunden seien. Viele sind grün, esoterisch oder anthroposophisch angehaucht. Aber es gibt auch rechtsextreme und antisemitische Zwischentöne. Die Ablehnung der Corona-Massnahmen einigt sie.

Die Impfungen gegen Covid-19 stehen auch in Liestal in der Kritik.

Die Impfungen gegen Covid-19 stehen auch in Liestal in der Kritik.

Andreas Haas / Imago
Demonstranten an einem Samstag auf dem Sechseläutenplatz in Zürich. Viele sind esoterisch angehaucht.

Demonstranten an einem Samstag auf dem Sechseläutenplatz in Zürich. Viele sind esoterisch angehaucht.

Simon Tanner / NZZ

Diese Vielschichtigkeit spiegelt sich im Auftreten der Bewegung wider: Inzwischen existieren mindestens ein Dutzend Organisationen und Plattformen, die sich gegen die offizielle Pandemiepolitik stellen, und fast wöchentlich werden neue Websites aufgeschaltet. Sie setzen unterschiedliche Akzente. Beispielhaft für diese Diversifizierung ist die junge Organisation «Mass-voll», die mit durchgestylten Social-Media-Kampagnen und einer jungen Crew etwas an Operation Libero erinnert. Auch in Liestal waren «Mass-voll»-Flaggen zuhauf zu sehen. «Wir stellen eine Professionalisierung der Bewegung fest», erklärt Nadine Frei.

Die Gruppierungen sind teilweise miteinander verflochten, insbesondere auf Telegram laufen viele Fäden zusammen. Der Verein «Stiller Protest» ist da keine Ausnahme. So neuartig die Bewegung erscheint – im Kern ist sie es nicht. Ein Mann taucht hinter den Kulissen immer wieder auf: Markus Holzer, ein ehemaliges SVP-Mitglied aus dem Thurgau, scheint zu den treibenden Kräften zu gehören.

Die Organisation ist nach eigenen Angaben auf Telegram vom Verein «Reaktion» von Holzer gegründet worden. Dieser trat Ende 2020 auch als Organisator von «Stiller Protest»-Demos und als Auskunftsperson in den Medien auf. Als Mitorganisatoren in den sozialen Netzwerken treten ausserdem häufig Martin und Simone E. (Namen der Redaktion bekannt) in Erscheinung, die aber nicht weiter bekannt sind.

Holzer ist dagegen ein alter Kämpe aus der Massnahmen-Kritiker-Szene: Auf Telegram ruft Holzers Verein «Reaktion» seit Monaten zu Corona-Protest-Veranstaltungen aller Art auf. Auch auf anderen Social-Media-Accounts ist Holzer als eine Art Widerstandskämpfer unterwegs. Und obwohl «Reaktion» auf der Website angibt, sich von «Stiller Protest» getrennt zu haben, werden deren Demos vom Verein munter weiter propagiert. In Verbindung gebracht wird Holzer mit der «Freiheitlichen Bewegung Schweiz» (FBS) von Richard Koller, einem weiteren Akteur unter den Massnahmenkritikern. Holzer scheint sehr genau darauf zu achten, dass sein Name nicht allzu oft in der Öffentlichkeit erscheint.

Einst wollte er mit Pegida-Slogan demonstrieren

2016 geriet Holzer kurze Zeit in die Schlagzeilen. Er rief damals zu einer Kundgebung auf dem Bundesplatz auf, weil die Politik bei der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative den Volkswillen übergehe. In bewusster oder unbewusster Anlehnung an die rechtsnationale Bewegung Pegida wählte er den Slogan «Das Volk sind wir». In einem Interview schloss Holzer auch die Teilnahme der Partei National Orientierter Schweizer (Pnos) nicht aus. Die geplante Demonstration kam jedoch nicht zustande. Corona aber ist wie gemacht für Holzers Kampf gegen die politische Elite.

So gehört Holzer dem Komitee «Stopp Impfpflicht» an, welches per Volksbegehren verlangt, dass Impfverweigerer keinerlei Nachteile in Kauf nehmen müssen. Das Initiativkomitee ist ein eigentlicher Drehpunkt der Anti-Corona-Bewegung. Und im Unterschied zu den sozialen Netzen, auf denen vieles anonym läuft, müssen die Namen hier offengelegt werden. Marion Russek, Co-Präsidentin des Vereins «Freunde der Verfassung», der Komiker Marco Rima, Richard Koller von der FBS oder Daniel Trappitsch von Impfentscheid.ch – alle sind dabei.

Auch Annemarie Heisler ist aufgeführt. Sie betreibt mit ihrem Mann Andreas Heisler die Website «Widerstand2020», wo man selbst vor der Instrumentalisierung von Sophie Scholl nicht zurückschreckt, der ermordeten Widerstandskämpferin gegen das Nazi-Regime.

Solche geschichtsvergessenen Vergleiche sind charakteristisch für die Bewegung. In Liestal lautete einer der Aussprüche «Gehorsam macht frei» – in verharmlosender Anlehnung an «Arbeit macht frei»-Schriftzüge an vielen KZ. Laut Robert Schäfer ist zwar keine generelle Radikalisierung feststellbar, doch die Sprache ist durchaus radikal gefärbt. Begriffe wie Diktatur, Widerstand oder Hygiene-Faschismus gehören zum ständigen Vokabular.

Typisch für Teilnehmer an Corona-Protesten ist eine starke Entfremdung von den Institutionen des politischen Systems. Die Studie spricht von Kritik in Form eines Generalverdachts gegen die Reichen und Mächtigen, gegen die Schulmedizin, die Wissenschaft oder die Justiz: «Die Kritik schweift deshalb oft ab, und schnell ist man bei 9/11.»

Damit einher gehe «eine hohe Neigung zu verschwörungstheoretischem Denken». So glaubt fast die Hälfte der von der Uni Basel befragten Personen, es gebe geheime Organisationen, die grossen Einfluss auf politische Entscheidungen hätten. Weitere 36 Prozent waren in diesem Punkt unentschlossen oder wollten dazu keine Angaben machen. Das Vertrauen in die Regierung, Medien, Experten, die EU, die Banken oder die politischen Parteien ist gering.

Auch die wissenschaftliche Corona-Task-Force des Bundes bekommt ihr Fett weg.

Auch die wissenschaftliche Corona-Task-Force des Bundes bekommt ihr Fett weg.

Andreas Haas / Imago

SVP kann am ehesten profitieren

Die Distanz zwischen etablierten Institutionen und Corona-Skeptikern beruht dabei auf Gegenseitigkeit. An Corona-Demos lassen sich weder Verbandsspitzen noch politische Schwergewichte blicken, selbst wenn sie den Entscheiden des BAG oder des Bundesrates ablehnend gegenüberstehen. Am ehesten gibt es Berührungspunkte zur SVP: Figuren wie Holzer oder Koller gehörten dieser Partei an. Und selten treten bekannte Politiker aus der SVP auf. So etwa der Schwyzer Nationalrat Pirmin Schwander und der ehemalige Schwyzer Regierungsrat René Bünter, die an Kundgebungen des «Aktionsbündnisses Urschweiz» Reden hielten.

Die wählerstärkste Partei ist es auch, die am ehesten von den Corona-Protesten profitieren kann. Nach den künftigen Wahlabsichten befragt, nannten gegenüber der Uni Basel 43 Prozent die SVP. Alle übrigen Parteien von der FDP bis zu den Grünen erreichen dagegen nur noch Zustimmungsraten von unter 8 Prozent. «Mit Blick auf die Wahlabsichten lässt sich sagen, dass es sich um eine Bewegung handelt, die eher von links kommt, aber stärker nach rechts geht», erklärt Nadine Frei.

Die SVP versucht gezielt, dieses Potenzial zu bewirtschaften. In dieses Schema passt es, wenn wichtige Exponenten die Tonalität der Bewegung übernehmen und behaupten, die Schweiz sei zur Diktatur geworden. Auch die Ablehnung des Covid-19-Gesetzes in der Frühjahrssession durch einen Teil der SVP-Fraktion fügt sich in dieses Bild. Ein Sieg in der Abstimmung über dieses Gesetz gehört zu den wichtigen Zielen der Bewegung.

Doch auch für die SVP bleibt der Protest kaum berechenbar. Wie viele der Teilnehmer sich um institutionelle Politik kümmern und ihre geäusserten Wahlabsichten auch wirklich in die Tat umsetzen, ist unsicher. Beim Covid-19-Gesetz ist mit einer herben Niederlage für die Gegner zu rechnen, was auf die SVP abfärben könnte. Und weil die Szene auch den Parteiinteressen zuwiderlaufende und extremistische Elemente aufweist, ist zu viel Nähe ein Risiko.

Erschreckend ist beispielsweise, dass fast 30 Prozent der in Deutschland und der Schweiz befragten Personen keine Angaben zu der Aussage machen wollten, dass «der Einfluss von Juden auf die Politik auch heute noch zu gross» sei. Zwar stimmt nur eine kleine Minderheit zu, doch die Autoren vermuten, dass viele Personen mit latenten antisemitischen Vorurteilen durch Nichtbeantwortung der Frage ausweichen.

Pikant ist auch die Stimmungslage zu Vorlagen, die neben dem Covid-19-Gesetz am 13. Juni zur Abstimmung kommen: So trugen die Corona-Massnahmen-Gegner massgeblich dazu bei, dass das Referendum gegen das Gesetz über präventivpolizeiliche Massnahmen (PMT) zustande kam. Die SVP (und die übrigen bürgerlichen Parteien) stimmte der Vorlage praktisch geschlossen zu. Auch die Trinkwasserinitiative geniesst in der Bewegung Sympathien. Wie stark die Corona-Skeptiker den Abstimmungskampf beeinflussen können, ist offen – zu unkalkulierbar ist die Bewegung.

Auf eine weitere Mail zu den Hintergründen der Kampagne mit den weissen Schutzanzügen antwortet «Martin» gar nicht mehr. Geheimnisvolles Schweigen ist für «Stiller Protest» Gold.