Gegen alle Widerstände – wie sich der Schweizer Nils Melzer für Julian Assange einsetzt

Nils Melzer bekämpft im Auftrag der Uno die Folter und nimmt dabei namentlich die westlichen Staaten ins Visier. Das sorgt für Kritik.

Katharina Fontana 6 min
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Der UNO-Sonderberichterstatter über Folter: der Schweizer Nils Melzer

Der UNO-Sonderberichterstatter über Folter: der Schweizer Nils Melzer

Christoph Ruckstuhl / NZZ

Es war ein Appell, der gar nicht gut ankam. Nils Melzer, Uno-Sonderberichterstatter über Folter, warf der Zürcher Justiz unlängst vor, sie behandle den Gewalttäter Brian unmenschlich und verletze mit dem strengen Haftregime die Antifolterkonvention. Die Isolation des jungen Mannes, der unter dem Pseudonym «Carlos» bekannt geworden ist, müsse umgehend beendet werden, so Melzers Forderung. Die Zürcher Behörden, die seit Jahren ihre liebe Mühe mit Brian haben, reagierten ungehalten auf die Rüge. Und als Beobachter stellte man sich die Frage: Hat der Uno-Sonderberichterstatter über Folter bei all dem Elend, das auf der Welt herrscht, nichts Dringenderes zu tun, als sich die Schweiz vorzunehmen?

An Arbeit fehlt es Nils Melzer mit Sicherheit nicht. Eigentlich ist es eine unmögliche Aufgabe, die er zu erfüllen hat: Er soll die Einhaltung des Folterverbots überwachen, und zwar in allen der über 190 Uno-Mitgliedsländer. Seit 2016 ist Melzer im Amt. Und zunehmend ist neben seiner Arbeit auch seine Person Gegenstand von Interesse – und von teilweise heftiger Kritik.

Alarm wegen Julian Assange

Es ist der Fall von Julian Assange, der Melzer international bekannt gemacht hat. Seit bald zwei Jahren setzt er sich für den Australier ein und schlägt seither immer und immer wieder Alarm. Sein Engagement geht so weit, dass er ein Buch geschrieben hat. «Der Fall Julian Assange» lautet der Titel des kürzlich erschienenen Werks. Darin setzt sich Melzer akribisch mit der jahrelangen Verfolgung des Enthüllungsjournalisten Assange auseinander und wirft den involvierten Staaten Justizwillkür und psychische Folter vor.

Die vehemente Parteinahme für Assange wird nicht überall goutiert. So bezeichnete Tatjana Hörnle, Direktorin am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg im Breisgau, Melzers Thesen in einem Gastbeitrag in der NZZ als wenig glaubwürdig. Sie warf dem Uno-Sonderberichterstatter einen «lockeren Umgang» mit dem Begriff Folter vor.

Wir treffen Melzer bei sich zu Hause in der Nähe von Biel, wo er mit seiner Frau und den zwei Kindern wohnt. Im persönlichen Gespräch wirkt der gebürtige Zürcher sympathisch, umgänglich und smart. Mehrere Jahre lang war er Delegierter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, in Kriegsgebieten in Kosovo und im Nahen Osten stationiert, später Rechtsberater für humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte, dann sicherheitspolitischer Berater im Schweizer Aussendepartement. Heute lehrt der 50-Jährige, der über gezielte Tötungen doktoriert hat, an der Genfer Akademie für humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte und an der Universität von Glasgow.

Vielleicht ist es seine praktische Erfahrung im Feld, die ihn davor bewahrt, vom moralischen Hochsitz herab zu dozieren, wie es Menschenrechtler oft tun. Man unterhält sich gerne mit ihm, sei es über die Uno, die er als «ganz komisches Tier» bezeichnet, sei es über Machtpolitik, über Globalisierung und Nationalstaaten und darüber, wie man internationale Regeln mit der Demokratie in Einklang bringen könnte.

Rund ein Dutzend Hinweise zu Folterfällen treffen täglich bei Melzer ein. Die Arbeit sei endlos, sagt er, an Ferien sei seit Jahren nicht zu denken. Etwa einen Fall pro Tag könne er behandeln, mehr liege nicht drin. «Es ist schwer, sich dabei nicht zu verausgaben. Aber ich kann nicht jedem Folteropfer helfen, und ich darf mich nicht dafür verantwortlich machen, dass ich das nicht kann. Einen solchen Job kann man nur machen, wenn man seine Rolle gut versteht.»

Doch versteht Melzer seine Rolle gut? Man käme nicht unbedingt auf die Idee, dass der Uno-Sonderberichterstatter für Folter den Fall Assange zu seinem wichtigsten Anliegen machen würde. Gibt es im Irak, in Pakistan, in Saudiarabien nicht mehr Folteropfer, die seinen Einsatz verdienen würden? Menschen, die schreiendes Unrecht erfahren und unter viel schlimmeren Bedingungen dahinsiechen als der in einem britischen Gefängnis inhaftierte Assange?

Locker lassen will Melzer nicht

«Es geht mir nicht um Assange als Einzelperson. Doch sein Fall ist emblematisch und zeigt: Wenn der Staat Partei ist, kann die Rechtsstaatlichkeit auch in den westlichen Demokratien sehr schnell ausgehebelt werden.» Dazu kurz die Vorgeschichte: Julian Assanges Plattform Wikileaks veröffentlicht ab 2010 geheime Dokumente zum US-Krieg im Irak und in Afghanistan. Kurz darauf wird Assange in Schweden von zwei Frauen beschuldigt, sie sexuell missbraucht zu haben. 2012 flüchtet er in die ecuadorianische Botschaft in London, wo er sieben Jahre verbringt.

Seit zwei Jahren sitzt Assange in Grossbritannien in Haft und gilt als suizidgefährdet. Es ist offen, ob er in die USA ausgeliefert wird, wo er der Spionage und Verschwörung angeklagt ist. Melzer ist überzeugt: Sollte der Australier in die Vereinigten Staaten ausgeliefert werden, würde er in einem Schauprozess zu lebenslanger Haft unter folterähnlichen Bedingungen verurteilt. Dabei habe er sich durch seine spektakulären Enthüllungen nicht strafbar gemacht, sein Tun sei durch die Pressefreiheit geschützt.

Daniel Leal-Olivas / Imago

Rob Pinney / Imago

Der Australier Julian Assange - hier Bilder von 2016 und 2019 - wird laut Nils Melzer seit Jahren unrechtmässig verfolgt und ist Opfer von Justizwillkür.

Für viele gilt Assange als skrupelloser Hacker, der gegen berechtigte Geheimhaltungsinteressen verstossen und vertrauliche Quellen gefährdet hat. In Melzers Augen dagegen ist er ein Dissident, der die Mächtigen herausfordert und irritiert. Und der als Folge davon aufgrund missbräuchlicher Sex-Vorwürfe, manipulierter Beweise und korrumpierter Richter seit Jahren ungerechtfertigt im Gefängnis sitzt und durch die Isolationshaft psychischer Folter ausgesetzt ist.

«Jeder weiss, dass Schweden und Grossbritannien Assange wegen seiner Wikileaks-Tätigkeit verfolgen und nicht wegen irgendwelcher Sexualdelikte. Doch niemand spricht darüber. Die Staaten tun so, als handelten sie rechtmässig. Es ist eine Mauer des Schweigens.» Auch gegenüber dem Uno-Vertreter: «Ich habe die Behandlung von Assange immerhin zusammen mit einem Ärzteteam vor Ort untersucht und danach bei den Briten mehrfach wegen seiner Haftbedingungen interveniert, aber nie eine zufriedenstellende Antwort erhalten.» Locker lassen will Melzer nicht.

Ob er sich nicht zu sehr in den Fall verbissen hat? «Mag sein, aber es geht nicht um eine persönliche Fehde, die ich ausfechte, sondern um Grundsätzliches. Die Institutionen in den reifen Demokratien müssen integer bleiben. Denn wenn sie es bei uns nicht sind, werden sich andere Länder wie Syrien oder Iran ohnehin nicht an die Menschenrechte gebunden fühlen.» Deshalb ist es für Melzer auch so zentral, dass Länder wie die Schweiz, Schweden oder Grossbritannien als Vorbild vorangehen und die Regeln einhalten. «Sie sind der Standard, aus diesem Grund bin ich ihnen gegenüber besonders empfindlich.» Empfindlich heisst: Er schaut besonders genau hin.

Der Uno-Mann im Abstimmungskampf

So auch im eingangs erwähnten Fall von Brian. Doch im Ernst: Ist es nicht übertrieben, die Schweizer Justizbehörden der Folter zu bezichtigen? Ist der Vorwurf nicht gar schrill? Melzer fühlt sich ob dieser Skepsis unverstanden. «Brian sitzt seit bald drei Jahren in Isolationshaft, menschenrechtlich zulässig sind maximal fünfzehn Tage. Es ist meine Aufgabe, Linienrichter zu spielen. Wenn sich die Schweiz nicht an die rote Linie hält, dann geht das eben nicht. Andere Länder wie die Türkei schauen sehr genau, was hierzulande abläuft.»

Den Einwand, dass er an die Schweiz strengere Massstäbe anlege als an andere Länder, lässt Melzer nicht gelten. «Meine Standards sind nicht unterschiedlich, ich setze aber die Prioritäten anders. Ich bewirke nichts, wenn ich einfach zusammen mit den grossen Menschenrechtsorganisationen und den vielen NGO die üblichen Unrechtsstaaten kritisiere. Dank meiner Unabhängigkeit kann ich Probleme aufzeigen, die sonst unter dem Radar der Öffentlichkeit bleiben. So kann ich mit meinem minimalen Budget dennoch einen Mehrwert haben.»

Melzer hat auch keine Hemmungen, sich in der politischen Arena zu exponieren. In Bundesbern sorgte der Uno-Vertreter für Irritationen, als er sich in den Abstimmungskampf um das Terrorgesetz einmischte und vor dem Urnengang im Juni an vorderster Front gegen die Vorlage mobilisierte. So trat er als Gegner in der SRF-Abstimmungs-«Arena» auf und meinte gegenüber einer sichtlich wenig erfreuten Justizministerin Karin Keller-Sutter, das von ihr so vehement verteidigte Gesetz sei unprofessionell und untauglich.

Gehört es zum Mandat eines Uno-Sonderberichterstatters über Folter, in eine politische Auseinandersetzung einzugreifen? «Absolut. Solche expansiven Terrorgesetze führen zu nachrichtendienstlichen Beobachtungslisten, die die Betreffenden bei ihrer Rückreise ins Heimatland gefährden können. Zudem gibt die Schweiz hier ein sehr schlechtes Vorbild ab.»

Es scheint, als sei Melzers fulminanter Kampf gegen das Terrorgesetz auch eine Reaktion darauf gewesen, dass man ihm und anderen Uno-Vertretern im Justizdepartement nicht bereits in einem früheren Stadium Gehör geschenkt und ihre Bedenken ernst genommen hatte. Und so blieb am Ende eben nur der Auftritt im Fernsehen. «Es ist nicht diese Aufmerksamkeit, die ich suche, ich bin kein Enfant terrible, das gerne Radau macht. Aber beim Rechtsstaat kann ich keine faulen Kompromisse akzeptieren. Der allergrösste Teil meiner Arbeit bleibt vertraulich, doch man hört mir offenbar nur zu, wenn ich laut werde.»

Allzu viel Zeit für laute Töne bleibt Nils Melzer nicht mehr. In einem Jahr läuft sein Mandat bei der Uno aus. Was kommt dann? Er habe seine Karriere nie geplant und sei gut damit gefahren, sagt Melzer. Er lasse sich überraschen, was die Zukunft bringe.

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