Ob König, Bundesrat oder Schreiner – am Wasalauf sind alle gleich

Das älteste und berühmteste Langlaufrennen der Welt hat auch im hundertsten Jahr nichts von seiner Anziehungskraft verloren. Am Sonntag werden sich in Schweden wieder fast 16 000 Langläuferinnen und Langläufer auf die 90 Kilometer lange Loipe begeben.

Ingrid Meissl Årebo, Stockholm
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Der Wasalauf ist mehrheitlich flach oder abschüssig – und fordert dennoch seinen Tribut.

Der Wasalauf ist mehrheitlich flach oder abschüssig – und fordert dennoch seinen Tribut.

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Mora, 12. Februar 2022: Anders Södergren stakt sich mit letzten Kräften ins Ziel, stützt sich kurz auf seine Bambusstöcke und legt sich dann völlig erschöpft in den Schnee. Nachdem er wieder zu Kräften gekommen ist, sagt er, «noch nie nach einem Rennen so kaputt» gewesen zu sein wie jetzt. Dabei wurde der 44-Jährige 2010 Olympiasieger mit der schwedischen Staffel, er hat auch mehrere WM-Medaillen gewonnen.

Doch dieses Rennen war anders: In den frühen Morgenstunden stand Södergren im 90 Kilometer entfernten Sälen, um in Kleidern und mit der Ausrüstung von anno 1922 den Jubiläums-Wasalauf zu absolvieren. Am schnellsten kämpfte sich Erik Wickström ins Ziel – mit knapp sieben Stunden war er eine gute halbe Stunde schneller als Ernst Alm vor hundert Jahren. Södergren, dessen geteerte Holzski nicht einmal auf Abfahrten glitten, schaffte es mit zehn Minuten Rückstand auf den zweiten Platz.

Über 18 Stunden unterwegs

Zeiten und Ränge waren für die 130 Teilnehmenden in Lodenhosen, Wolljupes und Strickmützen jedoch unwichtig. Sie wollten auf ihren Holzlatten vor allem nachvollziehen, wie sich die Wasalauf-Pioniere fühlten. Die zwei letzten Läuferinnen quälten sich über 18 Stunden lang ab, bis sie das berühmte Zieltor mit der Aufschrift «In der Spur der Väter – für die Siege der Zukunft» vor Augen hatten.

«Noch nie nach einem Rennen so kaputt»: Der Olympiasieger Anders Södergren beendet den Jubiläums-Wasalauf als Zweiter.

«Noch nie nach einem Rennen so kaputt»: Der Olympiasieger Anders Södergren beendet den Jubiläums-Wasalauf als Zweiter.

Bardell Andreas / Aftonbladet / Imago
Mit dem Lorbeerkranz: Erik Wickström, der Sieger des Jubiläumslaufs.

Mit dem Lorbeerkranz: Erik Wickström, der Sieger des Jubiläumslaufs.

Bardell Andreas / Aftonbladet / Imago

Seit der Premiere sind 1,7 Millionen Teilnehmende auf Langlaufskis durch das Naturreservat zwischen den Dörfern Sälen und Mora gelaufen, entlang kleiner Ställe und Hütten, über sanfte Hügel und durch lichte Kiefernwälder. Auf der Prominentenliste finden sich Schwedens König Carl XVI. Gustaf und Dänemarks Kronprinz Frederik ebenso wie die Skilegenden Bernhard Russi und Ingemar Stenmark. Bundesrat Ueli Maurer hat den Wasalauf mehrmals gemeistert. In die Annalen eingeschrieben hat sich auch Konrad Hallenbarter. Der Schweizer knackte 1983 als Erster die Vier-Stunden-Marke mit einer Zeit von 3:58:08. Seit vergangenem Jahr liegt der Rekord bei 3:28:18, aufgestellt vom Norweger Tord Asle Gjerdalen.

Das mehr als zwei Engadiner Skimarathons lange Rennen, das im klassischen Stil ausgetragen wird, ist der Traum vieler Langläufer und Langläuferinnen. Gleich nach dem Start steigt die Strecke recht ruppig an, nach einem Drittel des Parcours folgt ein langgezogener Anstieg, danach geht es durch leicht coupiertes Terrain und mehrheitlich abwärts. Mit zunehmender Kilometerzahl und Müdigkeit fordert die Loipe aber ihren Tribut, ganz abgesehen von den unvorhersehbaren Wetterverhältnissen.

Sieben Kontrollstationen werden passiert, an denen Kaffee, Energie-Drinks, Bouillon, süsse Semmeln und vor allem die traditionelle Blaubeersuppe gereicht werden – während der Wasalauf-Woche werden 55 000 Liter dieser energiereichen und magenschonenden Fruchtsuppe ausgeschenkt.

Ein erschöpfter Teilnehmer des Jubiläumslaufs an einer Verpflegungsstation. Die Blaubeersuppe ist der Renner.

Ein erschöpfter Teilnehmer des Jubiläumslaufs an einer Verpflegungsstation. Die Blaubeersuppe ist der Renner.

Bardell Andreas / Aftonbladet / Imago

Wasaläufe für jeden Geschmack

Der Wasalauf hält den Doppelrekord als ältestes Langlaufrennen mit der grössten Teilnehmerzahl der Welt mit bemerkenswerter Zähigkeit: Den traditionsgemäss am ersten Sonntag im März ausgetragenen Lauf konnten weder die Wirren des Zweiten Weltkriegs stoppen noch das Coronavirus (voriges Jahr gab es einen Covid-konformen Elite-Lauf für 400 Sportler). Drei Mal wurde das Rennen seit Bestehen abgesagt, wegen Schneemangels oder fehlenden Interesses.

Die erstmalige Teilnahme des sportbegeisterten schwedischen Königs im Jahr 1977 verhalf dem Wasalauf zu einem Boom, der bis heute anhält. Der Wasalauf vom kommenden Sonntag mit seinen 15 800 Startplätzen war innert weniger Stunden ausgebucht. Damit auch weniger geübte Langläufer die besondere Luft schnuppern können, werden mittlerweile Läufe für jeden Geschmack angeboten. Die Wasalauf-Winterwoche umfasst Nacht- und Kinderrennen, längere und kürzere Strecken, eine Stafette, das Frauenrennen sowie die beliebte «Offene Spur» über die vollen 90 Kilometer, aber mit etwas weniger Gedränge. In diesem Jahr haben sich rund 50 000 Personen für eines dieser Rennen angemeldet.

Trotz der Grösse des Events – zu dem auch eine Sommerwoche mit Läufen und Velorennen gehört – wird die Veranstaltung noch immer auf ideeller Basis durchgeführt. Eigentümer des Wasalaufs sind zwei Sportvereine in Mora und Sälen, die über 5000 Funktionäre aufbieten. Der Gewinn fliesst vollumfänglich in die verschiedenen Vereine der Region, deren Freiwilligeneinsätze die Winter- und die Sommerwoche erst möglich machen.

Der Wasalauf ist für viele Schwedinnen und Schweden eine Familientradition, man begibt sich Jahr für Jahr in die Spuren von Vater und Tante, Grossmutter und Urgrossvater. Andere wiederum werden von Freunden mitgerissen, sehen sich nach dem Verlust einer Wette etwas mutwillig am Start oder lassen sich überreden, die Stafette zusammen mit Arbeitskollegen zu absolvieren. Doch egal ob König, Bundesrat, Ingenieurin oder Schreiner: Zwischen Sälen und Mora sind alle gleich. Nach dem Zieleinlauf erschöpft, durchgefroren und ausgehungert – dann euphorisch und stolz. Es gibt jedoch nicht nur Glücksmomente. Eine Bekannte absolviert den Volkslauf im Gedenken an ihren Schwiegervater, der vor einigen Jahren kurz vor dem Ziel tot zusammenbrach.

Auch Schweden versinkt nicht immer im Schnee: Nils Karlsson 1943 beim ersten von insgesamt neun Siegen am Wasalauf.

Auch Schweden versinkt nicht immer im Schnee: Nils Karlsson 1943 beim ersten von insgesamt neun Siegen am Wasalauf.

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Gegründet wurde der Wasalauf aus nationalistischen und ideologischen Motiven. Die Gründerväter wollten das Andenken an König Gustav Wasa ehren, der Schweden 400 Jahre zuvor von der Schreckensherrschaft des dänischen Königs Christian II. befreit hatte. Der schwedische Reichsverweser Gustav Eriksson (aus dem Geschlecht Wasa) soll sich im Winter 1520 in die Provinz Dalarna begeben haben, um dort kampferprobte Bauern für seinen Aufstand anzuwerben. Diese zögerten zuerst, änderten dann aber die Meinung – jedoch zu spät, Gustav war auf der Flucht vor dänischen Verfolgern bereits weiter Richtung Norwegen gezogen. Also schickte man ihm die besten zwei Langläufer hinterher. Diese holten Gustav in Sälen ein und brachten ihn nach Mora zurück. Von Sälen nach Mora sind nun auch die Wasaläufer unterwegs.

So schön die Legende auch ist, wahr sein dürfte sie kaum. Laut Historikern ist es unwahrscheinlich, dass sich Adelige vor 500 Jahren auf dünnen Latten fortbewegen konnten. Keine Lüge ist es dagegen, dass es Gustavs Soldaten gelang, die Dänen zu bezwingen. Der siegreiche Gustav Eriksson wurde am 6. Juni 1523 zum König gewählt.

Frauen waren lange unerwünscht

Neben dem Andenken an den Begründer des modernen schwedischen Nationalstaates sollte der Wasalauf auch die Volksgesundheit fördern. Die Gründerväter sahen im immer bequemeren Lebensstil eine Gefahr für «Spannkraft und Stärke» und verordneten ihren Landsleuten daher Sport. Dass sich auch Frauen in die Spuren der Väter begeben, war allerdings nicht vorgesehen. Der Turnlehrerin Margit Nordin war dies jedoch egal, sie stellte sich 1923 selbstbewusst an den Start und lief ohne Probleme bis Mora.

1
Sälen (Start)
2
Mora (Ziel)

Doch nur wenige Tage nach ihrer Pionierleistung liessen die Organisatoren verlauten, dass der Wasalauf «zu einem Zirkus und Schauspiel verkomme», wenn Frauen teilnähmen, und dass «dieser Zirkusduft nicht dem einzigen Rennen mit historischen Wurzeln anhaften» dürfe. Zudem schade die Anstrengung der Gesundheit der Damen. Also verwies man sie für mehr als ein halbes Jahrhundert auf die Zuschauerplätze.

Nachdem sich zwei Frauen 1978 unter falschem Namen, in Männerkleidung und mit aufgeklebten (Schnurr-)Bärten unter die Läufer gemischt und im Ziel für viel Aufmerksamkeit gesorgt hatten, sahen sich die Organisatoren gezwungen, der Diskriminierung ein Ende zu setzen. Im Jahr darauf wurde ein eigener Frauenlauf, der 30 Kilometer lange «Tjejvasan», ins Programm aufgenommen. Seit 1981 dürfen die Frauen auch am traditionellen Wasalauf starten.

In traditioneller Ausrüstung von Sälen nach Mora. Frauen waren am Wasalauf ursprünglich nicht zugelassen.

In traditioneller Ausrüstung von Sälen nach Mora. Frauen waren am Wasalauf ursprünglich nicht zugelassen.

Bardell Andreas / Aftonbladet / Imago

Der schnellste Mann und die schnellste Frau werden am Sonntag mit dem traditionellen Lorbeerkranz im Ziel begrüsst werden. Dazu gibt es eine Goldmedaille, einen Glaspokal und ein Preisgeld von je 98 000 schwedischen Kronen (rund 9640 Franken); Rekordzeiten werden mit einem Bonus von 50 000 Kronen belohnt. Während sich bei den Frauen seit fünf Jahren zwei Schwedinnen als Gewinnerinnen abwechseln, ist das Rennen bei den Männern seit 2013 fest in der Hand der Norweger. Im Jubiläumsjahr, so hoffen hier viele, möge endlich wieder ein Schwede am schnellsten von Sälen nach Mora laufen und der norwegischen Siegesserie ein Ende setzen.

Der Wasalauf ist für viele Schwedinnen und Schweden eine Familientradition, man begibt sich Jahr für Jahr in die Spuren von Vater und Tante, Grossmutter und Urgrossvater.

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