Die grossen Marathonläufe bieten eine nonbinäre Kategorie an. Das dürfte früher oder später zu Diskussionen führen

Immer mehr Marathonläufe haben eine eigene Kategorie für Personen eingeführt, die sich weder als weiblich noch als männlich definieren. Solange es keine Preisgelder zu gewinnen gibt, ist das ein Erfolg.

Anton Beck
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Cal Calamia am Chicago-Marathon Anfang Oktober als Teilnehmer in der neu eingeführten nonbinären Kategorie.

Cal Calamia am Chicago-Marathon Anfang Oktober als Teilnehmer in der neu eingeführten nonbinären Kategorie.

Taylor Glascock / NYT / Laif

Dem Lauf von Cal Calamia am Chicago-Marathon widmete die «New York Times» ein grosses Porträt. Calamia lief die 42 Kilometer Anfang Oktober in 2 Stunden, 58 Minuten und 50 Sekunden. Das ist keine spektakuläre Zeit – aber Calamia startete in einer neu eingeführten Kategorie: nonbinär.

41 nonbinäre Personen beendeten das Rennen. Calamia lief in dieser Kategorie in den zweiten Rang.

Der Chicago-Marathon ist mit der Einführung einer nonbinären Kategorie keine Ausnahme. Der New-York-City-Marathon führt eine solche seit letztem Jahr, der Berlin-Marathon seit diesem. 2023 wollen Boston und London nachziehen. Damit gäbe es in allen sogenannten Major-Marathons, den grossen Läufen, eine nonbinäre Kategorie – ausser in Tokio. In den USA bieten zudem über 200 kleinere Rennen diese Kategorie an, wie die «New York Times» berichtet.

Warum setzt sich diese Entwicklung ausgerechnet bei Marathonläufen so rasant durch, während andere Sportarten noch weit von der Einführung einer nonbinären Kategorie entfernt sind?

Die Teilnahme von Transfrauen in der Frauen-Kategorie ist bereits umstritten

Die Geschlechtergrenzen wurden teilweise auch in anderen Sportarten bereits aufgebrochen. Gerade die Teilnahme von Transfrauen in der Frauen-Kategorie führte in den letzten Jahren immer wieder zu Diskussionen über Gerechtigkeit in Bezug auf die Leistungsfähigkeit. So lösten die amerikanische Schwimmerin Lia Thomas oder die neuseeländische Gewichtheberin Laurel Hubbard in den letzten zwei Jahren durch Wettkampfteilnahmen Debatten aus.

Die Transfrau Lia Thomas schwimmt in den Frauen-Kategorien mit (im Bild nach einem Sieg an den US-College-Meisterschaften).

Die Transfrau Lia Thomas schwimmt in den Frauen-Kategorien mit (im Bild nach einem Sieg an den US-College-Meisterschaften).

Brett Davis / Reuters

Sowohl Thomas als auch Hubbard sind Transfrauen, wurden also mit einem männlichen Körper geboren und unterzogen sich einer Geschlechtsumwandlung. Die beiden Sportlerinnen nahmen an Wettkämpfen in den regulären Frauen-Kategorien teil und waren jeweils sehr erfolgreich.

Umstritten ist ein solcher Vorgang, weil Studien darauf hinweisen, dass Leistungsunterschiede zwischen Männern und Frauen bereits im Kindesalter begründet werden. Die Teilnahme von Thomas und Hubbard in der Frauen-Kategorie wurde daher von vielen als unfair gegenüber Cis-Frauen empfunden, also gegenüber Frauen, die sich seit Geburt als solche definieren.

Auch Calamia unterzog sich einer Hormontherapie und einer Brustoperation, sieht sich allerdings als nonbinärer Transmann. Nonbinär ist dabei ein geschlechtsspezifischer Überbegriff, der Menschen inkludiert, die sich weder als männlich noch als weiblich definieren. Calamia fühlt sich entsprechend mit dem Pronomen «they» angesprochen und nicht mit «he» oder «she».

Die Inklusion steht bei Marathonläufen vor dem Preisgeld

Calamia gewann trotz dem zweiten Platz in der nonbinären Kategorie keine Silbermedaille, sondern nur eine «Medal for Finishers». Diese Medaille bekommen alle Teilnehmenden, die den Marathon zu Ende laufen. Calamia gewann auch kein Preisgeld.

Die Einführung einer nonbinären Kategorie bedeutete für die Organisatoren des Chicago-Marathons also keinen weiteren planerischen oder finanziellen Aufwand. Und unter den Teilnehmenden in dieser Kategorie kam es zu keinem Wetteifern um Geld oder Medaillen.

Die Schwimmerin Thomas und die Gewichtheberin Hubbard hingegen nahmen an Wettbewerben teil, an denen es um Geld und Medaillen ging. Hubbard etwa an den Olympischen Sommerspielen 2021 in Tokio.

Laurel Hubbard tritt 2021 an den Olympischen Spielen in Tokio an.

Laurel Hubbard tritt 2021 an den Olympischen Spielen in Tokio an.

Edgard Garrido / Reuters

Im Gegensatz dazu sind viele städtische Marathonläufe keine ausschliesslichen Profi-Veranstaltungen. Längst laufen sehr viele Laien mit. Der Marathon als Sport-Event, an dem für viele Teilnehmer die Zeit nicht im Vordergrund steht, eignet sich daher besonders, um eine neue Kategorie einzuführen.

So heben auch die Veranstalter des Chicago-Marathons den gesellschaftlichen Aspekt bei der Einführung der nonbinären Kategorie hervor. Die «inklusive Event-Erfahrung» werde gesteigert. Der sportliche Aspekt spielt eine sekundäre Rolle.

Sollte sich der Fokus in der nonbinären Kategorie ändern und sollten auch hier Preisgelder zu gewinnen sein, dürften sich die Diskussionen allerdings wiederholen, die rund um Thomas und Hubbard stattfanden. Denn die Bestzeiten in der nonbinären Kategorie liegen in vielen Marathonläufen deutlich über jenen in der rein männlichen oder rein weiblichen Kategorie.

Zudem ist der Konkurrenzdruck in der nonbinären Kategorie geringer als bei den Männern und Frauen, weil es keine nonbinären Topläufer gibt. So beendeten am Berlin-Marathon lediglich sieben nonbinäre Laufende das Rennen. Zum Vergleich: Insgesamt waren es knapp 35 000 Personen, welche die 42 Kilometer absolvierten.

Würden also in jeder Kategorie Preisgelder und Medaillen verteilt, wäre eine nonbinäre Geschlechtsidentität ein Vorteil – die ersten drei Plätze wären deutlich leichter zu erreichen.

Die Schweiz hinkt bei der gesetzlichen Anerkennung nonbinärer Personen hinterher

Laut der Organisation Swiss Running wurden in der Schweiz «bisher noch keine Anfragen für eine genderneutrale Kategorie deponiert». Entsprechend gibt es diese bei den grösseren Schweizer Läufen nicht. Nur Formate wie das Plauschrennen am Luzerner Stadtlauf, an denen alle Alters- und Geschlechtskategorien gemischt starten, kommen ohne strikte Zuordnung aus.

Bei der Anmeldung muss aber auch dort das Geschlecht angegeben werden. Und zur Auswahl steht lediglich «männlich» oder «weiblich». Das hängt damit zusammen, dass es in der Schweiz derzeit generell nicht möglich ist, eine nonbinäre Geschlechtsidentität erfassen zu lassen. Anders sieht es in Deutschland oder Österreich aus, wo die Möglichkeit besteht, «divers» als Geschlechtseintrag einzuschreiben.

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