Debakel um Hochseeflotte: Die Finanzkontrolle wirft dem Bund fehlende Durchsetzungskraft vor

Rund 355 Millionen Franken betragen die Verluste aus den Bürgschaften für Hochseeschiffe mittlerweile. Aus Sicht der Finanzkontrolle lässt das Krisenmanagement des Bundes zu wünschen übrig.

Stefan Häberli, Bern
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Die von der Reederei Zürich AG genutzte «M/V Curia» gehört zu den Schiffen unter Schweizer Flagge, für die der Bund bürgt.

Die von der Reederei Zürich AG genutzte «M/V Curia» gehört zu den Schiffen unter Schweizer Flagge, für die der Bund bürgt.

Reederei Zürich

Das Debakel um die Schweizer Hochseeflotte erinnert an den Fall Archegos. Nur war es keine Grossbank, die für ihre Risikobereitschaft bezahlen musste, sondern die Eidgenossenschaft. Und zum Millionenverlust führte nicht die Pleite eines Hedge-Funds, sondern die Schieflage von Reedereien. Zur Erinnerung: Seit 1959 gewährt der Bund den schweizerischen Reedereien Bürgschaften. Mit dem Staat im Rücken sollen sie günstigere Darlehen für die Finanzierung von Hochseeschiffen erhalten. Im Gegenzug kann der Bund im Krisenfall auf die Schiffe zurückgreifen, um die Landesversorgung zu sichern.

Zeitweise verfügten die schweizerischen Reedereien über rund 50 Hochseeschiffe. Die Schweiz war damit das Binnenland mit der grössten Handelsmarine. Wegen weltweiter Überkapazitäten gerieten ab 2008 mehrere schweizerische Reedereien in Schieflage. Im Sommer 2015 eskalierte die Lage. Womit niemand gerechnet hatte, das traf plötzlich ein: Der Bund musste im grossen Stil als Bürge einspringen. Laut dem Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) beträgt die Schadenssumme derzeit rund 355 Mio. Fr.

Etwa 200 Mio. Fr. davon gehen auf das Konto eines einzigen Reeders. Dahinter steckte nicht nur wirtschaftlicher Misserfolg, sondern kriminelle Energie. Der Reeder erschlich sich unter anderem mit fiktiven Verträgen überhöhte Solidarbürgschaften vom Bund. Das Wirtschaftsstrafgericht des Kantons Bern verurteilte ihn im vergangenen Jahr zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren.

Ein Strafverfahren gegen den ehemaligen Stabschef des BWL stellte die Bundesanwaltschaft hingegen im vergangenen Jahr ein. Der Verdacht, dieser habe auf Kosten des Bundes mit den Schifffahrtsgesellschaften gemeinsame Sache gemacht, hatte sich nicht bestätigt.

Verlustminimierung hat Priorität

Der Bund versucht seit Ausbruch der Krise, den Schaden für die Staatskasse zu begrenzen. Neue Bürgschaften spricht er nicht mehr; die letzten sollen 2032 auslaufen. Die Schiffe von Reedereien in Schieflage sollen möglichst geordnet und ohne Zeitdruck verkauft werden. Derzeit verkehren noch 17 Hochseeschiffe mit einer Bürgschaft unter Schweizer Flagge.

Letztmals wurde im Dezember ein Schiff verkauft, worauf die Gläubigerbank im Januar die Bürgschaft von 5,4 Mio. Fr. zog, weil der Erlös aus dem Verkauf unter dem geschuldeten Kreditbetrag lag. Zwei weitere Schiffe dürften bis Ende 2022 verkauft werden. Per Ende April waren insgesamt noch Bürgschaften in Höhe von 314 Mio. Fr. ausstehend.

Die Eidgenössische Finanzkontrolle (EFK) hat im vergangenen Jahr das Krisenmanagement des Bundes untersucht. In ihrem am Mittwoch veröffentlichten Bericht wirft sie dem BWL vor, es sei zu handzahm. Es zeige «zu wenig Durchsetzungskraft gegenüber den Reedereien». So akzeptiere es, dass Reedereien in einer finanzieller Schieflage ihre Revisionsberichte zu spät einreichten.

Auch beim Schweizerischen Schifffahrtsamt (SSA), das die Einhaltung des Seeschifffahrtsgesetzes kontrolliert, ortet die EFK ein Übermass an Kulanz. Das Gesetz sieht vor, dass die Eigentümer eigene Mittel in Höhe von mindestens 20% des Buchwertes des Schiffes zur Verfügung stellten. Zahlreiche Schiffseigentümer hielten diese Vorgabe seit mehreren Jahren nicht mehr ein, ohne dass sie Sanktionen zu befürchten hätten.

Das BWL wehrt sich in einer Stellungnahme gegen den Vorwurf: «Im Zentrum unserer Tätigkeit steht gemäss Auftrag des Departementschefs die Strategie der Verlustminimierung.» Das Ziel sei der Verkauf der Schiffe, bevor der Bund bei einer Pleite der Reederei als Bürge einspringen müsse. Ein Beharren auf fristgerechter Einreichung von Revisionsberichten könne die Reedereien zwingen, die Bilanz zu deponieren, schreibt das BWL.

Mit anderen Worten: Die staatliche Aufsicht hat derzeit kein Interesse daran, dass die von ihr aufgestellten Regeln eingehalten werden. Priorität haben finanzielle Interessen. Das gilt auch für die Eigenmittelquote. Hier wäre ein Durchgreifen des Bundes ebenfalls ein Schuss ins eigene Bein, wie auch die EFK anerkennt. Der Bericht erinnert an eine Regel aus dem ökonomischen Lehrbuch: Gesetze, an deren Durchsetzung der Staat kein Interesse hat, sind das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben sind.

Aktivismus folgt auf Nonchalance

Darüber hinaus hält sich der Erkenntnisgewinn des EFK-Berichts in Grenzen. Kein Wunder: Rund um das Debakel um die Hochseeschiffe wurde bereits eine rekordverdächtige Zahl an Berichten erstellt. 2016 hatte Bundesrat Johann Schneider-Ammann die EFK mit einer Administrativuntersuchung beauftragt. Deren Ergebnisse befinden sich unter Verschluss, weil zwei ehemalige Mitarbeiter aus dem BWL Beschwerde gegen die Publikation eingelegt hatten. Das Bundesverwaltungsgericht gab ihnen recht: Passagen über die beiden müssen im Bericht gelöscht werden, weil sie von der EFK nicht angehört worden waren. Der Bericht wird voraussichtlich im Juni veröffentlicht.

Neben einer zweiten Administrativuntersuchung, die Schneider-Ammanns Nachfolger Guy Parmelin in Auftrag gab, befassten sich auch die Geschäftsprüfungskommission sowie die Finanzdelegation des Parlaments eingehend mit dem Debakel. Auch die EFK hat zum Thema bereits zwei Berichte angefertigt. Der Nutzen jeder zusätzlichen Untersuchung dürfte tendenziell abnehmen.

Der nachträgliche Aktivismus in Bundesbern kontrastiert mit der Nonchalance vor dem Fiasko. Noch 2008, als die Krise ihren Lauf nahm, stimmte das Parlament der Erhöhung des Bürgschaftsrahmens um 500 Mio. Fr. auf 1,1 Mrd. Fr. zu. Wirtschaftsministerin Doris Leuthard wies den Nationalrat vor der Schlussabstimmung auf zwei Punkte hin: «Seit 1948, als der Bund mit der Schifffahrtsförderung begonnen hat, haben wir noch nie – noch nie! – einen Verlust erlitten.» Das zeige, dass das Risiko minim sei.

Zudem machte sie die Parlamentarier auf eine Doppelseite im «Blick» aufmerksam: Die Zeitung hatte am Tag, an dem das Geschäft behandelt wurde, alle 33 Schweizer Schiffe abgebildet. Nur zwei Nationalräte stimmten anschliessend gegen die Erhöhung des Bürgschaftskredites. Der Ständerat hatte das Geschäft bereits zuvor ohne Gegenstimme und Diskussion angenommen. Und die EFK hielt noch 2010 in einem Bericht fest: «Zusammenfassend kann bestätigt werden, dass der Bereich ‹Hochseeschifffahrt› professionell und sachdienlich betreut wird.»

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