Die Singapurer werden reicher – aber sie sterben langsam aus

Die Bürger hat die Singapurer Regierung im Griff, aber in einer Angelegenheit ist sie machtlos: Die Kosten für Kinder sind exorbitant, und das Single-Dasein blüht. Die einheimische Bevölkerung hat daher zu wenig Nachwuchs.

Manfred Rist, Singapur
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In Singapur sind immer mehr Menschen unverheiratet und kinderlos. (Bild: Irham Mast / EPA)

In Singapur sind immer mehr Menschen unverheiratet und kinderlos. (Bild: Irham Mast / EPA)

«Astronomische Kosten!» Der Schauspieler Kevin Chua zieht die Augenbrauen hoch und seufzt laut in Reaktion auf die Frage, weshalb er ein ungebundenes Single-Leben vorziehe. Die Arbeitskultur in Singapur sei Gift für jede Liebesbeziehung, fährt der 30-Jährige fort. Und die naheliegenden nächsten Schritte, nämlich Ehe, Kinder und deren Ausbildung, das komme für ihn überhaupt nicht infrage: «You kill your own pockets before it is all over.»

Auch die 31-jährige Irene und die etwas ältere Priscilla sind fröhliche Singles, wenn auch aus anderen Gründen. Beide haben anspruchsvolle Jobs im Immobiliengeschäft und in der Verwaltung. Zeit für eine Partnersuche oder eine Beziehung bleibe da kaum. Irene geht in ihrer Freizeit gemeinnützigen Tätigkeiten nach, unter anderem mit Projekten des Lions Club. Priscillas Ziel sodann ist klar: Sie will es finanziell zu etwas bringen. Und in ihrem Alter, so fügt sie an, sei das Anbandeln sowieso etwas schwierig geworden.

Weltweit tiefste Geburtenrate

Die drei Beispiele sind keine Einzelfälle, im Gegenteil: Sie sind in Singapur gar zusehends die Norm geworden. In Kevins Altersgruppe (30 bis 34 Jahre) ist der Anteil der unverheirateten Männer in den vergangenen zehn Jahren von 34 auf 37,8% gestiegen; in der Kohorte darunter (25 bis 29 Jahre) liegt der Prozentsatz mittlerweile bei 78,8%. Im Vergleich dazu sind die Frauen in diesen zwei Alterskategorien vorderhand zwar noch etwas heiratsfreudiger, aber die Vorliebe für ein Single-Dasein kommt auch hier klar zum Ausdruck: Die Zahl der jungen Frauen ohne feste Beziehung hat markant zugenommen, und der Trend dürfte sich noch verstärken.

Anteil von Single-Frauen in der Bevölkerung

Nach Altersgruppen
2007
2017

Anteil von Single-Männern in der Bevölkerung

Nach Altersgruppen
2007
2017

In Singapur wird weniger und später geheiratet, und als logische Folge davon hat man weniger Kinder. All dies äussert sich in einer dramatischen Abnahme der Geburten- und der Fertilitätsraten. Die Geburtenziffer (Anzahl Geburten pro 1000 Einwohner) ist auf 7 gefallen; die Fertilitätsrate hat 2018 mit 1,14 Kindern pro Frau einen Tiefststand erreicht; dies entspricht weniger als der Hälfte des globalen Durchschnitts von 2,4 Kindern. Bezüglich Fruchtbarkeit liegt der Stadtstaat damit zusammen mit Japan und Südkorea ganz am Ende der Statistik. Nicht einmal ein Abflachen des Trends ist in Sicht. Und noch etwas anderes bereitet den Politikern Sorge: Je höher die Einkommen, desto weniger gibt es Nachwuchs. Überspitzt formuliert: Die Gattung «Singaporean» wird statistisch gesehen zwar immer reicher, aber sie stirbt langsam aus. Dies trifft übrigens auf die Chinesen, also die Bevölkerungsmehrheit, besonders stark zu. Deren Fruchtbarkeitsrate unterschritt 2018 erstmals die Marke von 1,0.

Immer weniger Kinder pro Frau

Fruchtbarkeitsrate in Singapur

Singapur geniesst den Ruf, für ein wirtschaftliches Erfolgsmodell zu stehen. In vielen Bereichen durchaus zu Recht: Der Stadtstaat hat seit der Gründung im Jahr 1965 eine Prosperitätsphase durchlebt, die in Asien ihresgleichen sucht. Die Regierung gilt als effizient, plant langfristig und geht Probleme proaktiv an. Aber alle ihre Bemühungen zur Förderung der Geburtenzahlen scheinen zu verpuffen.

Eigentlich wäre alles vorhanden: Krippenplätze, luxuriöse Kindergärten, saubere Luft. Die Kindersterblichkeit (pro 1000 Lebendgeburten) liegt seit über 15 Jahren unterhalb der Marke von 3, ist also tiefer als in der Schweiz. Die Sicherheit im öffentlichen Raum gilt als nahezu perfekt. Auch Kindermädchen aus den Philippinen, Indonesien oder Burma gibt es en masse. Aber der Schein trügt.

Druck und Überstunden am Arbeitsplatz

Laut einer Studie der global tätigen Krankenkasse Cigna zählen Singapurer heute zu den weltweit am meisten gestressten Arbeitskräften. An erster Stelle figuriert diesbezüglich der Druck am Arbeitsplatz, darauf folgen finanzielle Sorgen. Alle geben an, unter dem sogenannten Always-on-Phänomen zu leiden, also unter dem Zwang, permanent erreichbar zu sein. Diese Hektik wird von Ängsten überlagert, fürs Alter nicht genügend abgesichert zu sein. Beruf, Karriere und Geld auf der hohen Kante werden deshalb als vordringlicher erachtet als die Gründung neuer Familien.

Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen des Leistungsdrucks sind offensichtlich und gravierend: Die kleine Republik, die bloss 5,6 Mio. Einwohner zählt, altert rapide. Und weil der Stadtstaat, hier wohnhafte Ausländer nicht gerechnet, gerade einmal 4 Mio. Bürger zählt, stellen sich grundsätzliche Fragen zur kritischen Masse, zur Innovationskraft und gar zur Überlebensfähigkeit des Staats dringlicher denn je. Dem kleinen Land mangelt es also nicht nur an Lebensraum und an Hinterland, auch der Nachwuchs fehlt. Hat ein Staat, in dem pro Tag lediglich noch hundert Babys zur Welt kommen, überhaupt eine Zukunft?

Die Bevölkerung in Singapur wird immer älter

Altersmedian

Karrierebruch und andere Verluste

Für Millennials wie Kevin und Irene herrscht hierzulande ein Lebensstandard, von dem deren Eltern nur träumen konnten. Doch ihre Einschätzungen sind mittlerweile typisch für die Stimmung im Land, gerade auch unter Frauen. Eine Ehe mit Kindern wird zunehmend als einschneidende Wende empfunden. Denn damit assoziieren vor allem Frauen unter anderem einen Karrierebruch, den Verlust von Freunden und Freiheiten (die es früher nie gab), weniger Reisen, Stress mit Verwandten und eine hohe Verschuldung für den Kauf einer Wohnung. Letztgenannte sollte ja auch Platz für den Nachwuchs bieten. Und Kinder sind in Singapur teuer: Als Faustregel gelten 0,5 Mio. $ je Kind. Das entspricht ziemlich genau dem Betrag für eine neue grössere Wohnung in einem Aussenquartier.

Ein Sonderfall sind mitunter Frauen, die aus ärmeren Verhältnissen stammen. Dank dem guten Bildungssystem haben sie Zugang zu besseren Positionen und höheren Einkommen. Dann ist aber üblich, dass die Unterstützung der Eltern und der Geschwister eine höhere Priorität einnimmt als die Gründung einer Familie. Eine akademische Ausbildung und mehr Vermögen lassen die Ansprüche an einen Partner steigen. Da zudem der traditionelle Druck aus dem Familienkreis abnimmt, verzögern sich die Eheschliessungen weiter – oder entsprechende Pläne für feste Bindungen werden ganz begraben.

In den vergangenen Jahrzehnten setzte die Regierung alles daran, die Bürger an ihr kleines Territorium zu binden. Man schuf erschwingliches Wohneigentum, zelebrierte landestypische Vorzüge und appellierte an patriotische Gefühle. Der Militärdienst wurde (und wird) als Lebensschule und als Dienst am Vaterland gepriesen. Auswandern gilt nach wie vor als verpönt. Inzwischen haben die Landesväter noch zusätzliche Sorgen: eine Generation, die auf den Errungenschaften der Eltern ausruht, das Leben geniesst und teilweise wie besessen auf die Wertsteigerung von Immobilien setzt. Zur defensiven Mentalität gehören Bindungsängste und die Scheu vor Verantwortung.

Finanzielle Anreize funktionieren nicht

Wo Probleme auftauchen, reagiert die Singapurer Regierung in der Regel mit finanziellen Anreizen. Das funktioniert im Strassenverkehr bestens, wo mit Road-Pricing und Zulassungsgebühren der Verkehrsfluss und die Gesamtzahl der Autos gesteuert werden. Bei den Babys funktioniert das nicht. Im Jahr 2015 wurden der Baby-Bonus um 2000 $ auf 8000 $ und der Zustupf für die Krankenkasse der Neugeborenen (Medisafe) um 1000 $ auf 4000 $ erhöht. Dass die Wirkung ausblieb, verwundert heute niemanden. In einer Gesellschaft, in der Erfolg fast ausschliesslich am Einkommen und an materiellen Statussymbolen gemessen wird, haben Familien- und Kinderpläne fast automatisch das Nachsehen.

Was die Geburtenförderung angeht, hat die Regierung vermutlich viel zu spät und zu zögerlich reagiert. Erst vor drei Jahren wurde etwa der Vaterschaftsurlaub auf zwei Wochen verdoppelt; es dauerte bis 2016, ehe unverheiratete Frauen bezüglich des Mutterschaftsurlaubs von 16 Wochen mit Verheirateten gleichgestellt wurden. Solche kleinen Schritte genügen offenbar nicht, um die Einheimischen davon zu überzeugen, dass Kindersegen erstrebenswert ist.

Um das offizielle Bevölkerungsziel von 6 bis 6,5 Mio. Einwohnern zu erreichen sowie der Alterung der Gesellschaft entgegenzuwirken, verfügt die Regierung letztlich nur über zwei Optionen. Entweder gelingt es ihr, die Zahl der Geburten auf mirakulöse Art anzukurbeln, oder sie fördert die Zuwanderung. Derzeit setzt sie auf grosszügige Einbürgerungen. Aber in der Bevölkerung, die sich mit dem Wachstumsziel von rund 1 Mio. Einwohner nicht identifizieren kann, stösst diese Massnahme zunehmend auf Skepsis. Auch die Wirtschaft klagt: Der Inländervorrang verlangt, dass Ausländer nur eingestellt werden, wenn sich keine einheimische Arbeitskraft finden lässt. Diese Knappheit verschärft sich zusehends.

Geburtenrate in Singapur nimmt ab

Bürgerinnen und permanente Aufenthalter