Wenn Detektive Steuersünder ertappen sollen

Die Politik will Sozialdetektive, aber keine Steuerdetektive mit Observationsrechten. Die unterschiedliche Behandlung der beiden Deliktsarten hat ideologische und praktische Gründe.

Hansueli Schöchli
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Überwachen ja oder nein? Beim Thema Sozialversicherungen pocht vor allem die Linke auf den Schutz der Privatsphäre, bei den Steuern ist es vor allem die Rechte. (Bild: Simon Tanner / NZZ)

Überwachen ja oder nein? Beim Thema Sozialversicherungen pocht vor allem die Linke auf den Schutz der Privatsphäre, bei den Steuern ist es vor allem die Rechte. (Bild: Simon Tanner / NZZ)

Der Steuerpflichtige X ist aufgrund von Hinweisen aus der Nachbarschaft bei den kantonalen Behörden in den Verdacht geraten, Einkommen und Vermögen vor dem Fiskus zu verstecken. Die Steuerbeamten wollen der Sache auf den Grund gehen und beauftragen mit Bewilligung des zuständigen Geschäftsleitungsmitglieds der kantonalen Steuerverwaltung einen Privatdetektiv mit der systematischen Überwachung (Observation) während dreissig Tagen innerhalb des kommenden Halbjahrs. Würde das eidgenössische Parlament von der Überwachung erfahren, gäbe es vermutlich einen Aufschrei. Denn die bürgerliche Parlamentsmehrheit legt grossen Wert auf den Erhalt der Privatsphäre der Steuerpflichtigen und auf ein generelles Klima des Vertrauens zwischen Staat und Steuerpflichtigen.

Ähnlicher Unrechtsgehalt

Die Geschichte des Steuerpflichtigen X ist fiktiv. Doch denkt man sich anstelle eines Steuerdelikts einen missbräuchlichem Bezug von IV- oder Suva-Geldern, landet man ungefähr bei der Vorlage zum Sozialversicherungsrecht, über die das Volk im November befindet. Die Vorlage soll die gesetzliche Grundlage für die Observation von Verdächtigen schaffen. 2016 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geurteilt, dass für die Observation eines Verdächtigen eine gesetzliche Grundlage nötig sei. In der Folge beendeten die Unfallversicherer und die IV ihre Observationspraxis – bis das Gesetz geändert ist. Die Vorlage erfasst auch andere Sozialversicherungen wie etwa die Arbeitslosenversicherung, die Grundversicherung der Krankenkassen und Ergänzungsleistungen, doch in der Vergangenheit hatten nur die IV und die Unfallversicherung Observationen vorgenommen. Nicht erfasst von der Vorlage ist die Sozialhilfe; diese ist Sache der Kantone und Gemeinden.

Der Vergleich zwischen Steuer- und Sozialversicherungsdelikten liegt nahe. In beiden Fällen geht es darum, dass staatliche oder staatlich regulierte Institutionen durch illegale Falschangaben der Betroffenen um Geld gebracht werden. Ob jemand mittels Falschangaben überhöhte Leistungen vom Staat bezieht oder zu tiefe Steuern abliefert, sei bezüglich des Unrechtsgehalts vergleichbar, sagt der Zürcher Strafrechtsprofessor und SP-Ständerat Daniel Jositsch.

Doch je nach politischer Couleur fallen die Wertungen typischerweise unterschiedlich aus. Beim Thema Sozialversicherungen pocht vor allem die Linke auf den Schutz der Privatsphäre, bei den Steuern ist es vor allem die Rechte. Anders gesagt: Linke wollen in erster Linie Steuerdelikte bekämpfen, für Rechte sind dagegen Sozialversicherungsdelikte «schlimmer». Ein bürgerlicher Nationalrat sagte es einst so: «Bei den Steuern müssen die Leute etwas von ihrem wohlverdienten Einkommen an den Staat abgeben. Bei den Sozialversicherungen erhalten die Leute etwas vom Staat, weshalb man zur Vermeidung von Missbräuchen besonders genau hinschauen muss.»

Die Aargauer CVP-Nationalrätin Ruth Humbel nennt vor allem zwei Gründe, weshalb die Frage von Observationen bei Sozialversicherungsmissbräuchen anders geregelt sein soll als bei Steuerdelikten. Zum einen sei das Vertrauen über die Rechtmässigkeit von Zahlungen bei den Sozialversicherungen besonders wichtig: Gebe es viele Missbräuche, liefen alle Bezüger von Leistungen Gefahr, stigmatisiert zu werden, sagt Humbel, die an die Debatte über «Scheininvalide» erinnert. Breite Missbräuche stellen laut der Nationalrätin die Solidarität der Bevölkerung infrage.

Motion für Steuerdetektive

Man könnte allerdings Ähnliches auch über Steuerdelikte sagen. Humbel fügt aber noch eine praktische Erwägung an: Während die Observation bei Sozialversicherungsmissbräuchen nützliche Informationen liefere, sei dies im Steuerbereich fraglich. Man kann sich auch im Steuerbereich Einsatzgebiete für Observationen vorstellen – etwa bei Kontroversen über den Wohnsitz des Steuerpflichtigen; oder wenn dessen Lebenswandel kaum mit den deklarierten Finanzverhältnissen übereinstimmen kann; oder wenn der Pflichtige häufig die Bank X besucht, obwohl er gar kein Konto dieser Bank deklariert hat. In der Praxis gab es bisher aber laut einem kantonalen Steuerexperten keinen behördlichen Bedarf für Observationen. Bei Unternehmen gebe es die Buchprüfung, welche weit mehr bringe als Observationen, und auch bei Privatpersonen würden Überwachungen in der Regel kaum viel bringen.

Auch der Regierungsrat des Kantons Zürich sieht keinen Bedarf für Observationen im Steuerbereich. Eine Motion von SP-Kantonsräten vom vergangenen November verlangte für den Kampf gegen schwere Steuervergehen zusätzliche Massnahmen, darunter die Möglichkeit einer Observation. Der Regierungsrat gab in seiner Antwort diesen Januar einen Überblick über die rechtlichen Möglichkeiten der Steuerbehörden: Diese könnten Sachverständige beiziehen, Beobachtungen anstellen, Geschäftsbücher und Belege vor Ort einsehen und Zeugen einvernehmen, sofern diese einverstanden seien. Nicht vorgesehen im ordentlichen Veranlagungsverfahren sei dagegen eine «eigentliche Observation».

Der Regierungsrat erinnerte auch an die Mitwirkungspflichten der besteuerten Bürger und an die Bescheinigungspflichten von Drittpersonen (zum Beispiel Lohnausweis); solche Pflichten gibt es allerdings auch bei den Sozialversicherungen. Für schwere Fälle bietet das Steuerrecht noch eine Sonderklausel: Bei begründetem Verdacht auf schwere Steuerwiderhandlung kann der Schweizer Finanzminister eine spezielle Untersuchung bewilligen, die auch Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen umfasst.

Manche Sünder fliegen auf

Bei Sozialversicherungen können Observationen oft direkt Widersprüche offenlegen. Die Befürworter der Vorlage nennen eine Serie von Beispielen aufgrund von Bundesgerichtsentscheiden. Hier drei der genannten Müsterchen von IV-Rentnern: Einer habe über Schulter- und Kniebeschwerden geklagt, spiele aber regelmässig Golf auf hohem Niveau; ein anderer konnte angeblich wegen Schwindelanfällen nicht aus dem Haus, sei aber ausserhäuslich sehr aktiv gewesen; ein Dritter habe sich über ein «schmerzvolles Dahinvegetieren» und «leidenerfülltes Leben zwischen Bett und Sofa» beklagt, sei aber ohne ersichtliche Einschränkungen eine Harley Davidson gefahren.

Observationen haben laut dem Bund bei der IV in rund der Hälfte der Fälle den ursprünglichen Verdacht bestätigt, bei der Suva in rund zwei Dritteln der Fälle. Die IV hat gemäss dem Bund von 2009 bis 2017 aufgrund von Observationen hochgerechnet auf die gesamte Rentendauer etwa 320 Mio. Fr. gespart. In dieser Zeit führte die IV total rund 1900 Observationen durch, wovon in etwa 1000 Fällen der Missbrauchsverdacht bestätigt worden sei. Pro Fall mit bestätigtem Verdacht ergibt das im Mittel eine Deliktsumme von rund 300  000 Fr.