Leichenschmaus in der Tiefe

Die Kadaver von Walen stellen eine der wenigen üppigen Nahrungsquellen am Meeresgrund dar. Dies macht sie auch wichtig für die Evolution des Tiefsee-Lebens.

Kurt de Swaaf
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Krabben wie diese Paralomis gehören zu den ersten Tieren, die sich auf versunkenen Walkadavern einfinden (im Bild auf einem Kieferknochen). (Bild: Craig Smith / University of Hawaii)

Krabben wie diese Paralomis gehören zu den ersten Tieren, die sich auf versunkenen Walkadavern einfinden (im Bild auf einem Kieferknochen). (Bild: Craig Smith / University of Hawaii)

Der Zufall stand Pate. Als im November 1987 das Forschungs-U-Boot «Alvin» in 1240 Metern Tiefe vor der Küste Kaliforniens vom geplanten Kurs abkam, bemerkte der Pilot auf dem Sonar etwas Grosses, Seltsames. Neugierig beschloss die Besatzung, sich das unbekannte Objekt genauer anzusehen, und stiess auf den weitgehend verwesten Kadaver eines Blauwals. Als leblos konnte er allerdings nicht wirklich bezeichnet werden. Auf dem Skelett tummelte sich allerlei Getier, vor allem Muscheln und Schnecken. Man sammelte ein paar der besiedelten Knochen und brachte sie an die Oberfläche. «Es war sofort klar, dass dies eine besondere Lebensgemeinschaft war», berichtet der damalige Expeditionsleiter Craig Smith. Nie zuvor hatte der Meeresbiologe Derartiges gesehen.

Ein Kadaver als Ökosystem

Die Entdeckung sorgte in der Fachwelt für viel Aufsehen. Smith und seine Kollegen hatten zum ersten Mal eine sogenannte «whale fall community» gefunden – einen toten Wal als weitgehend autarkes Ökosystem. Über die Existenz solcher spezialisierter Gesellschaften war zwar schon lange spekuliert worden, doch bis dahin fehlten konkrete Belege. Heute, knapp zwei Jahrzehnte später, weiss man mehr. Wissenschafter spürten weitere versunkene Walkadaver auf und versenkten andere gezielt, um sie über Jahre hinweg beobachten zu können. In einem Experiment wurden sogar tote Kühe in die Tiefe herabgelassen. Auch sie locken scharenweise Organismen an, wie neue Studien zeigen.¹, ²

Solche Untersuchungen bringen immer wieder Überraschungen hervor. So sind die Kadaver-Bewohner zum Teil Bekannte. Forscher hatten die Tiere bereits zuvor im Umfeld von hydrothermalen Schloten, heissen Quellen in der Tiefsee, beobachtet. Dort leben sie in Symbiose mit sogenannten chemoautotrophen Bakterien. Letztere nutzen aus der Erdkruste hervortretende Schwefelverbindungen oder auch Methan zur Energieerzeugung. So können die Lebensgemeinschaften in der ewigen Finsternis auch ohne Pflanzen und Algen als Nahrungsgrundlage überleben. Fotosynthese ist nicht erforderlich. Was aber haben solche Kreaturen auf Kadavern zu suchen?

Sie besiedeln sie in vier Phasen.³ Zuerst kommen die Aasfresser: Krabben, Tiefseehaie und Inger, urtümliche, aalartige Wesen mit einer Vorliebe für Gammliges. Ist das meiste Fleisch vertilgt, treten immer mehr «Resteverwerter» auf den Plan, wie Borstenwürmer, Kleinkrebse und Schlangensterne. Diese ernähren sich nicht nur von den letzten Kadaver-Krümeln, sondern haben es auch auf die Bakterienmatten abgesehen, die auf dem Gerippe und dem angrenzenden Boden gedeihen. Für sie ist der Tisch noch immer üppig gedeckt.

In der dritten Stufe schlägt die Stunde der Symbiosen. Einige Tierarten, etwa Würmer der Gattung Osedax oder die Muschel Vesicomya gigas, beherbergen in ihrem Körper sogenannte chemoautotrophe Bakterien. Diese Einzeller oxidieren Sulfid zu Sulfat und nutzen die dabei freigesetzte chemische Energie zur Produktion von organischen Molekülen. Einen Teil davon geben sie an ihren Wirt ab. Dieser versorgt sie im Gegenzug mit den Grundstoffen dieser Moleküle.

Anders als ihre Verwandten an hydrothermalen Schloten profitieren die chemoautotrophen Symbiose-Bakterien in Walkadaver-Gemeinschaften allerdings nicht von Schwefelverbindungen geologischen Ursprungs. Stattdessen nutzen sie Sulfid aus dem Inneren der Walknochen, welches dort bei der bakteriellen Zersetzung von Fett entsteht. Ein reichhaltiges Reservoir. Irgendwann jedoch, wenn auch oft erst nach mehreren Jahrzehnten, geht es zur Neige. Das nunmehr ausgelaugte Gerippe bleibt dennoch für Lebewesen interessant. Anemonen sowie Muscheln und Borstenwürmern bietet es einen festen Untergrund zum Ansiedeln. Es entsteht eine Art Riff.

Spezialisten für Knochentypen

Die Walkadaver-Ökosysteme sind auch aus evolutionsbiologischer Sicht hochinteressant. Smith, der diese Ökosysteme nunmehr seit Jahrzehnten erforscht, sieht sie als potenzielle Geburtsstätten für neue Arten. Allein von der Gattung Osedax, deren Vertreter ausschliesslich in versunkenen Tierknochen leben, seien der Wissenschaft inzwischen 31 verschiedene Spezies bekannt. Auf einem einzigen toten Wal finden sich mitunter sogar mehrere verschiedene Osedax-Arten. Sie sind vermutlich auf die Erschliessung unterschiedlicher Knochentypen spezialisiert.

Die Beziehung zwischen den Walkadaver-Gemeinschaften und den Gesellschaften an hydrothermalen Schloten wirft noch viele Fragen auf. Einer Hypothese nach könnten viele Bewohner der heissen Habitate evolutionäre Nachkommen von Kadaver-Bewohnern sein. Vesicomya-Muscheln wiederum nutzten die sterblichen Überreste wohl als ökologische Trittsteine zur Erschliessung jeweils neuer, geologisch aktiver Regionen. «Walskelette liegen gar nicht so weit auseinander», betont Smith, der an der University of Hawaii arbeitet. Die Distanz zwischen ihnen betrage oft nur ein paar Dutzend Kilometer.

Schon bei Sauriern

Die bizarren Lebensgemeinschaften gibt es gleichwohl nicht erst seit dem Auftreten der ersten grossen Wale vor etwa 37 Millionen Jahren. Sie datieren zurück bis ins Zeitalter der Saurier. Ein besonders schönes Beispiel hat der Paläontologe Daniel Dick vom Staatlichen Museum für Naturkunde in Stuttgart untersucht. Es ist das Gerippe eines etwa 1,80 Meter langen Ichthyosauriers aus dem Jura, gefunden bei Holzmaden auf der Schwäbischen Alb. Sein Alter: zirka 180 Millionen Jahre. Anders als viele andere Ichthyosaurier-Skelette aus denselben Schichten ist dieses Exemplar zum Teil zerfallen. Zwischen den verstreuten Knochen liegen Muschelschalen, Ammoniten und die Reste eines Schlangensterns.⁴ Einige Muscheln waren am Skelett des Sauriers festgeheftet.

Die tote Fischechse habe offenbar viele Organismen angezogen, erklärt Dick. Zwar herrschte im prähistorischen Meeresbecken von Holzmaden in Bodennähe oft Sauerstoffmangel, wodurch viele Ichthyosaurier hervorragend konserviert wurden – aber eben nur oft, nicht immer. Bei besserer Belüftung ergriffen Aasfresser und andere Profiteure sofort ihre Chance und machten sich an dem Kadaver zu schaffen. Kleine Haie waren wahrscheinlich für die erste Zerlegung verantwortlich, danach kamen Ammoniten und Schlangensterne. Am Ende liessen sich die riffliebenden Muscheln nieder. Von chemoautotrophen Symbiosen allerdings keine Spur. Dick ist dennoch davon überzeugt, dass diese auch schon während des Jura Kadaver besiedelten: «Früher oder später werden wir ihre Spuren finden», meint er.

¹ Marine Ecology 36, 71–81 (2015); ² Marine Ecology 36, 82–90 (2015); ³Annual Review of Marine Sciences 7, S. 571–596 (2015); Palaios 30, S. 353–361 (2015).

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