Im Puzzeln weniger gut, dafür im Tanzen umso besser

Kindern mit Williams-Beuren-Syndrom fehlen einige Gene. Wie sich das auf ihr Leben auswirkt und warum eine liebevolle Unterstützung
so wichtig ist.

Felicitas Witte 4 min
Drucken
Neela, 12, besucht die Regelschule.

Neela, 12, besucht die Regelschule.

Jara Gantenbein

Neela wirkt auf den ersten Blick wie viele zwölfjährige Mädchen. Sie liebt Französisch, mag Mathe überhaupt nicht, kommt manchmal weinend von der Schule nach Hause, weil andere Kinder sie geärgert hätten, sie singt gerne und tobt gerne im Wasser. Wer sich mit ihr unterhält, würde nicht vermuten, dass ihr von Geburt an ein Stück vom Chromosom sieben in allen Körperzellen fehlt und damit einige wichtige Gene. Sie hat das Williams-Beuren-Syndrom, eine seltene Erbkrankheit.

«Natürlich haben wir im Medizinstudium oberflächlich darüber gelernt», erzählt Andreas Gantenbein, der Vater von Neela und Neurologe in Bülach. «Was es aber für Eltern bedeutet, mit so einem Kind zu leben, wird einem nicht beigebracht.» Als Baby schrie Neela ständig, vor allem nachts, sie wollte nicht trinken und erbrach oft. «Wir konnten sie kaum beruhigen», erinnert sich die Mutter Monika, auch sie Ärztin. «Kein Kinderarzt konnte uns helfen.»

Etwas stimmt nicht

Gut ein Jahr sollte es dauern, bis die Diagnose gestellt wurde, und das auch nur per Zufall. Eine Tante kannte ein Kind mit dem Syndrom und sagte: «Das sieht ähnlich aus, findet ihr nicht?» Typisch sind eine breite Stirn, eine kugelige Nasenspitze, ausladende Nasenflügel, Pausbäckchen, kleines Kinn und volle Lippen.

Die Diagnose sei ein Schock gewesen, erinnert sich Monika. «Ich wollte keine anderen Eltern sehen, weil ich es nicht ertragen konnte, dass die gesunde Babys hatten. Wir lernten erst langsam, dass diese Krankheit nun zu unserem Alltag gehört.»

Von 7500 Babys wird etwa eines mit Williams-Beuren-Syndrom geboren. Elke Reutershahn, Leiterin des Williams-Beuren-Syndrom-Zentrums in der Helios-St.-Johannes-Klinik in Duisburg, vermutet aber, dass es mehr sind. «Ich kenne einige Geschichten von Familien, die jahrelang auf der Suche nach einer Erklärung waren. Wurde endlich die Diagnose gestellt, waren sie erleichtert, dass sie mit dem Gefühl ‹etwas stimmt nicht› recht hatten.»

Wurde endlich die Diagnose gestellt,
waren sie erleichtert, dass sie mit dem Gefühl ‹etwas stimmt nicht› recht hatten.

Meist fehlen den Kindern 25 bis 28 nebeneinanderliegende Gene. Immer ist es das Elastin-Gen, das dafür sorgt, dass sich Herz und Blutgefässe elastisch bewegen. Viele Kinder haben deshalb Fehlbildungen an Herz und Gefässen. Fast jedes zweite Kind entwickelt einen Bluthochdruck, was eine Reaktion auf die in ihrer Struktur veränderten Blutgefässe ist. Andere fehlende Gene spielen vermutlich eine Rolle für die Hirnreifung und für die Übertragung von Nervenreizen.

Seltene Erbkrankheit

25–28

nebeneinanderliegende Gene, die auf dem Chromosom 7 liegen, fehlen Kindern mit dem Williams-Beuren-Syndrom.

1993

Seit dem Jahr ist bekannt, dass der Gendefekt spontan auftritt, wenn Ei- oder Spermienzelle heranreifen.

Dies könnte erklären, warum sich die Kinder motorisch und geistig langsamer entwickeln. Sie fangen später an zu laufen und zu sprechen, ihr Intelligenzquotient liegt etwas unter dem Durchschnitt, und sie haben Probleme, sich räumlich zu orientieren und zum Beispiel ein Puzzle zusammenzusetzen oder schreiben zu lernen.

Doch sie sind sehr wortgewandt und können sich vorgesagte Wörter gut merken. Sie lieben Musik, und der Rhythmus liegt ihnen im Blut. «Wir waren überrascht, als Neela einmal als Kleinkind plötzlich anfing zu tanzen und es so aussah, als hätte sie das wochenlang geübt», erzählt Andreas.

Neugierig und interessiert begegnet Neela Fremden und lächelt sie warmherzig an – auch das ist typisch. Die Kinder spüren keinerlei Scheu, andere Menschen anzusprechen, und verwickeln einen sofort und eloquent in ein Gespräch. Gleichzeitig leiden viele unter Ängsten oder gar Phobien. Auch werden sie durch laute Geräusche erschreckt, etwa durch einen Händetrockner, ein Gewitter oder laute Musik – es sei denn, sie machen sie selbst.

Verschiedene weitere Symptome können auftreten, von denen grösstenteils noch nicht geklärt ist, warum sie entstehen. Der Zuckerstoffwechsel kann bis zum Diabetes gestört sein und die Schilddrüsenfunktion verringert. Manche sehen nicht so scharf und schielen oder haben immer wieder einmal Mittelohrentzündungen. Die Mädchen bekommen ihre erste Regel meist zwei Jahre früher als der Durchschnitt, und als Jugendliche oder Erwachsene kann sich eine Skoliose entwickeln oder verschlimmern. Erbrechen und Verdauungsprobleme als Baby können durch einen Anstieg von Kalzium bedingt sein.

Umgang mit Gleichaltrigen

Problematisch für den Umgang mit Gleichaltrigen sei, sagt die Kinderärztin Reutershahn, dass die Kinder zwar ihrem Alter entsprechend reden und so aussehen, aber sich so verhalten, als seien sie viel jünger. «Umarmt zum Beispiel eine Vierzehnjährige spontan während des Unterrichts ihre Mitschülerin, weil sie sie so gerne hat, oder kennt ein Achtjähriger die Regeln eines Brettspiels nicht, was er in seinem Alter eigentlich müsste, kann das andere Kinder verstören oder ärgern.»

Die Behandlung des Syndroms besteht aus verschiedenen Bausteinen. Dazu gehören zum Beispiel eine kalziumarme Diät, Blutdruckmittel, Ergotherapie, um besser schreiben zu lernen, eine Psychotherapie, um mit Ängsten und anderen Alltagsproblemen besser klarzukommen, eine Operation am Herzen, eine Brille gegen das Schielen oder ein Paukenröhrchen im Falle ständiger Ohrenentzündungen.

Empfohlen wird zudem, das Kind in seiner Selbständigkeit zu unterstützen, und auch, dass es regelmässig andere Kinder trifft. Neela ist jetzt in der fünften Klasse in der normalen Schule. Stundenweise bekommt sie Extra-Unterricht von einer Logopädin und einer Heilpädagogin. «Wir werden sehen, wie lange sie noch in der Regelschule bleiben kann», sagt Monika. «Aber mit der geistigen Stimulation glauben wir, dass es bisher der richtige Weg war.» Das findet Neela offenbar auch: «Demnächst lerne ich Spanisch und fahre nach Spanien», sagt sie strahlend.

NZZ am Sonntag, Wissen

Mehr von Felicitas Witte (wif)