«Sich nie anbiedern»

Ein alter Fuchs, ein arroganter Zürcher gar? Urs Haegi präsidiert seit kurzem den Schweizerischen Anwaltsverband und tourt in der neuen Funktion quer durchs Land. Auf seiner Roadshow demontiert er Vorurteile – und hört gut zu.

Brigitte Hürlimann
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Der Zürcher Wirtschaftsanwalt Urs Haegi vor seiner Kanzlei im schicken Zürcher Bahnhofstrassengeviert. (Simon Tanner/ NZZ)

Der Zürcher Wirtschaftsanwalt Urs Haegi vor seiner Kanzlei im schicken Zürcher Bahnhofstrassengeviert. (Simon Tanner/ NZZ)

Ja, es ist ein diskretes Gewerbe, und es gehört zum guten Ton, sich nicht in den Vordergrund zu stellen. Anwältinnen und Anwälte setzen sich für ihre Klientschaft ein und im besten Falle auch für den Rechtsstaat: für die Durchsetzung und Fortentwicklung des Rechts und dafür, dass jedermann vor Gericht gehört werden kann. Das klingt für Schweizer Ohren selbstverständlich, ist es aber nicht. Und darum steht also der Zürcher Wirtschaftsanwalt Urs Haegi nicht nur seinen Mandanten zur Verfügung, die er notfalls «bis aufs Blut» vertritt, wie er sagt, sondern dem Berufsstand der Anwälte überhaupt. Mitte Juni ist Haegi zum Präsidenten des Schweizerischen Anwaltsverbands (SAV) gewählt worden. Und auch in dieser Funktion fehlt es nicht an Herausforderungen.

Urs Haegi, 60 Jahre alt, FDP-Mitglied («aber nie politisch tätig!») und Familienvater, wohnhaft in Gockhausen, kein Fluglärmgegner, sondern Rechtsvertreter und -berater der hiesigen Fluggesellschaft, nimmt das neue Amt zum Anlass, einer breiteren Öffentlichkeit Red und Antwort zu stehen. Er kennt diese Zusatzaufgabe, die so untypisch für einen Anwalt ist, hat er doch zuvor den Zürcher Anwaltsverband präsidiert und diesen jahrelang im Vorstand der Landesorganisation vertreten. Nun aber, im höchsten Amt des Berufsverbands angekommen, reist er quer durchs Land, um von den Kolleginnen und Kollegen in jedem Kanton direkt zu hören, wo der Schuh drückt.

Die leidigen Kosten

Und siehe da: Schon nach den ersten Stationen hat der neue SAV-Präsident genügend Inputs für mehrere Tagungen erhalten. Themen bei den 24 kantonalen Verbänden sind etwa die hohen Gerichtsgebühren und Vorschusszahlungen, die vor allem dem Mittelstand das Prozessieren vor dem Zivilgericht schier verunmöglichen. Die Reichen können sich den Gang vor den Richter ohnehin leisten, die Armen profitieren von der unentgeltlichen Rechtspflege – auf der Strecke bleiben die Rechtsuchenden mit mittleren Einkommen.

Bemängelt wird landauf, landab jedoch auch die Ausbildung der Juristinnen und Juristen: Sie lernen mit dem Bologna-System zu sehr in die Breite und nicht mehr in die Tiefe, schliessen die einzelnen Fächer früh ab und verpassen damit die Chance, das Rechtssystem interdisziplinär, vernetzt und in einem Gesamtzusammenhang kennenzulernen. Das passe nicht mit den Anforderungen der Praxis überein, bekommt der SAV-Präsident des Öftern zu hören. Urs Haegi und mit ihm der SAV teilen solche Bedenken. Dabei ist es gar nicht so, dass der Zürcher Wirtschaftsanwalt auf Neuerungen grundsätzlich pessimistisch oder ablehnend reagieren würde. Die Digitalisierung beispielsweise ist für ihn kein Problem, sondern eine Veränderung, die er in den letzten drei Jahrzehnten als Rechtsanwalt hautnah miterlebt hat.

Natürlich gäbe es heute schon zahlreiche Plattformen, die den Gang zum Anwalt überflüssig machten, sagt er; vor allem im Bereich des Konsumentenrechts, bei einvernehmlichen Scheidungen oder einfachen Erbschaftsfragen. «Bei komplexen Fällen konsultieren die Rechtsuchenden aber immer noch eine Anwältin oder einen Anwalt», sagt Haegi: «Eine Internetseite, und sei sie auch noch so gut oder gar interaktiv, kann nie das persönliche Gespräch mit einem erfahrenen Anwalt ersetzen.»

Wie weit die Digitalisierung schon fortgeschritten ist und welche Felle der Anwaltschaft künftig womöglich davonschwimmen könnten, darüber diskutiert der SAV-Präsident regelmässig auch mit internationalen Anwaltsverbänden. Die kleine Schweiz profitiert vom Blick über den Tellerrand. Genauso oft tauscht sich der Anwaltsverband jedoch auch mit den Bundesbehörden, den obersten Gerichten oder den obersten Strafverfolgern aus. Da werden die Vertreter der Anwaltschaft einmal mit offenen Armen und ein anderes Mal mit unverhohlener Skepsis empfangen. Doch bei allem Antichambrieren und Kontaktepflegen gilt für Haegi eine strikte Devise: «Sich nie anbiedern. Die Gewaltenteilung hochhalten. Nie vergessen, dass wir in erster Linie unserer Klientschaft verpflichtet sind – und dabei dem Recht zur Durchsetzung verhelfen.»

Was im Übrigen für Urs Haegi gilt, daran hält sich auch der Schweizerische Anwaltsverband: Er betreibt keine Politik. Das hat dem Verband schon harsche Kritik vonseiten der Mitglieder eingebrockt, etwa im Vorfeld der Durchsetzungsinitiative. Doch Haegi, wie seine Vorgänger auch, sagt klipp und klar, der SAV stehe als Experte zur Verfügung, und dies nur im Vorfeld einer Abstimmung, nie als Teil des Abstimmungskampfs. «Die Anwaltschaft ist sehr heterogen», sagt der neue Präsident, «und wir vertreten alle.»

Der Schweizerische Anwaltsverband zählt heute über 10 000 Mitglieder. Davon sind knapp ein Drittel Frauen, und gut ein Drittel stammt aus dem Kanton Zürich. Der Zürcher Anwaltsverband ist mit seinen fast 3200 Mitgliedern mit Abstand die grösste kantonale Sektion. Auf dem Platz Zürich befinden sich auch die grossen Wirtschaftsanwaltskanzleien, ein ähnliches Bild zeigt sich nur noch in Genf. In aller Regel sind die Schweizer Anwältinnen und Anwälte jedoch in mittleren, kleinen und kleinsten Kanzleien organisiert – ähnlich wie in Deutschland. Und stimmt eigentlich das Gerücht, dass die Anwälte so saumässig gut verdienen?

Urs Haegi schmunzelt und stellt sich dem ungeliebten Thema. Ein Partner eines Wirtschaftsanwaltsbüros in Zürich verrechne wohl zwischen 350 und 800 Franken pro Stunde, einzelne auch mehr, das sei ihm bewusst. Eine Grenze nach oben gebe es nicht, das reguliere der Markt. Manche der Topverdiener, betont er, seien aber jeden Franken wert, nämlich dann, wenn sie der Klientschaft dank ihrem Einschreiten dreistellige Millionenbeiträge an Ausgaben ersparten. Dass ihm und seinem Team kürzlich so ein Coup gelungen ist, erfüllt ihn mit Stolz. Auch ein Anwalt ist schliesslich nur ein Mensch.

Das Image aufpolieren

Die Wirtschaftsanwälte gehören zu den Topverdienern ihrer Branche, die Strafverteidiger beispielsweise arbeiten eher am unteren Ende der Einkommensskala; vor allem dann, wenn sie vom Staat vergütet werden. Dem neuen SAV-Präsidenten ist nicht verborgen geblieben, dass die Anwaltschaft hierzulande nicht gerade den besten Ruf geniesst. Das wurmt ihn, und das gedenkt er in seiner Präsidialzeit anzupacken. Über Anwälte, sagt er, werde in den Medien oft nur negativ berichtet, wenn es einen Aufreger gebe; ganz nach dem Motto: Good news is no news. Einen noch schlechteren Ruf hätten wohl nur noch die Banker. Und nun kommt also ausgerechnet ein Zürcher Wirtschaftsanwalt daher und will den Berufsstand in der ganzen Schweiz vom Negativimage befreien. Kann das gelingen?

Wer Urs Haegi in der Zürcher Kanzlei im Bahnhofstrassengeviert besucht, betritt ein modernes Bürogebäude mit erlesener Kunst: eine blitzblank polierte Ducati im Gang vor den Sitzungszimmern, Skulpturen oder Lichtinstallationen sowie eine Reihe von Pipilotti-Rist-Videostills im Treppenhaus und in den Räumen im Erdgeschoss. Haegi begrüsst seine Gäste im dunklen Anzug und offeriert einen hervorragenden Espresso – und doch ist er nicht einer, der als ausgefuchster Besserwisser oder arroganter Zürcher auftritt. Wer daran zweifelt, soll auf seiner Roadshow eines anderen belehrt werden.

Für die Besuche in der Westschweiz bessert Haegi sein Französisch derzeit noch auf, und über die Berufskollegen in kleineren Kantonen und ländlichen Gebieten spricht er mit dem grössten Respekt. Der neue Präsident ist weder ein Draufgänger noch ein Haudegen. Vor überstürzten Gesetzesrevisionen warnt er, die ungebrochene Änderungseuphorie der Politiker kann er nicht nachvollziehen. Anwalt ist er deshalb geworden (und zwar zielstrebig), weil ihn das Recht fasziniert und weil er schon immer selbständig und ohne Altersguillotine arbeiten wollte.

Als Gründungspartner der Kanzlei Vischer ist er zwar Teil einer eher grossen Anwaltskanzlei, mit Sitz in Zürich und Basel. Aber Grösse ist ja bekanntlich relativ. Das erfährt Urs Haegi spätestens dann, wenn er mit seinen US-amerikanischen Berufskollegen oder mit Vertretern global agierender Unternehmen am Tisch sitzt.