Leiser als üblich, aber die Critical Mass fährt auch ohne Bewilligung – und die Polizei schaut lange zu

Obwohl der Umzug jetzt offiziell eine unbewilligte Demo ist, fand er am Freitagabend erneut statt. Er wurde nicht gestoppt.

Marius Huber 4 min
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Mehrere hundert Velofahrer sind erneut durch Zürich gerollt: Hinter dem Stauffacher kommt es zum Konflikt mit einem erbosten Autofahrer.

Mehrere hundert Velofahrer sind erneut durch Zürich gerollt: Hinter dem Stauffacher kommt es zum Konflikt mit einem erbosten Autofahrer.

Walter Bieri / Keystone

Himmel gewittrig, juristische Lage wechselhaft, Zürich im Einfluss eines politischen Hochdruckgebiets: Die umstrittene Velodemonstration Critical Mass lebt von ihrer Unberechenbarkeit und hat den Puls der Stadt dadurch schon oft erhöht. Aber eine Konstellation wie an diesem Freitag gab es noch nie. Von einer Eskalation bis zu einem Nicht-Ereignis war alles denkbar.

Auf dem Bürkliplatz, dem üblichen Versammlungsort des Umzugs, steht am frühen Abend ein ungläubig amüsiertes Dialog-Team der Polizei. Es hätte eigentlich eine neue Botschaft gehabt: Gehen Sie nach Hause! Bloss: Da ist niemand, dem man das sagen kann. Nur ein Haufen Journalisten, die sich unter dem Dach des Pavillons vor dem Regen in Sicherheit bringen.

Bis vor kurzem war die Critical Mass für ihre manchmal weit über tausend Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine sorglose Party auf Rädern – im Wissen, dass sie die Zürcher Stadtregierung im Rücken haben. Diese übernahm die Argumentation, dass dieser lange Umzug, der den Verkehr zum erliegen bringt, lediglich eine spontane Zusammenkunft von Gleichgesinnten ist. Keine Demonstration. Ergo brauche es auch keine Bewilligung.

Doch seit Anfang Juli ist alles anders. Statthalter Matthias Kläntschi hat dem jahrelangen Stillhalteabkommen ein Ende gesetzt. Er hat all jene bestätigt, die sich schon lange über den pfleglichen Umgang mit der Critical Mass ärgerten. Namentlich Autofahrer und bürgerliche Politikerinnen und Politiker.

Es handle sich bei dieser Veranstaltung offensichtlich um eine Demonstration, die politische Ziele verfolge, urteilte Kläntschi. Wenn diese sich weiterhin um eine Bewilligung foutiere, müsse die Polizei einschreiten. Sonst verletze diese das Recht.

Eine Bewilligung hätte man an diesem Freitag auch noch kurzfristig vor Ort einholen können, bestätigt die Polizistin vom Dialogteam. Aber da ist noch immer so gut wie niemand auf dem Bürkliplatz, der das tun könnte. Und der Wille wäre sowieso nicht gegeben.

Falsche Fährte: Am Bürkliplatz ist diesmal kaum jemand aufgetaucht.

Falsche Fährte: Am Bürkliplatz ist diesmal kaum jemand aufgetaucht.

Walter Bieri / KEYSTONE

In den sozialen Netzwerken, in denen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer absprechen, hat sich im Vorfeld schnell abgezeichnet, dass niemand bei den Behörden anklopfen würde. Der trotzige Tenor: Wer solle dies überhaupt tun, wo es doch keine Organisatoren gebe?

Jene, die sich äusserten, schienen gewillt, wie gehabt weiterzumachen und nicht einmal eine Radbreite von ihrer schlaumeierischen Position abzuweichen. Stellvertretend dafür steht dieser Kommentar: Wenn die Critical Mass verboten werde, werde man die freie Zeit halt für eine spontane, gemeinsame Velofahrt durch die Stadt nutzen.

Lange scheint es an diesem Freitagabend jedoch, als sei dies ein Bluff. Als würde nur eine Gruppierung die kritische Masse erreichen: die Polizei. Am Helvetiaplatz stehen zwei Einsatzwagen und beobachten eine Handvoll Velofahrer, die intensiv auf die Bildschirme ihrer Mobiltelefone starren. Drei andere Wagen jagen mit Blaulicht zum Limmatplatz – und kehren kurz darauf unverrichteter Dinge zurück. Sie jagen ein Phantom.

Die Unterstützer der Critical Mass machen sich einen Spass daraus. Sie wurden gewarnt, sich nicht wie üblich über Apps und soziale Netzwerke zu organisieren. Stattdessen scheinen sie dort sogar gezielt falsche Fährten zu legen. Eine Stadt sucht eine Massenbewegung. Ist da überhaupt etwas?

Und dann, kurz vor acht Uhr, biegen sie plötzlich um die Ecke. Das Buschtelefon hat funktioniert. Hinter der Bäckeranlage im Kreis 4 kommen an die 300 überwiegend junge Menschen auf Velos gefahren. Zum ersten mal als offiziell unbewilligte Demo. Leiser als üblich, ohne die Musikwagen und die blinkenden Lichter. Vorsichtig, fast verzagt.

Wenn im Vorfeld bei den Unterstützern der Critical Mass Bedenken aufkamen, drehten sie stets um die Frage, was wohl von der Polizei zu erwarten sei. So wurde etwa mit Blick auf eine mögliche Eskalation dazu geraten, Übergriffe mit Mobiltelefonen zu filmen. In einem dichten Pulk zu fahren. Oder Streckenabschnitte zu meiden, die sich einkesseln lassen.

Blanke Nerven, wüste Beschimpfungen und keine Polizei mehr

Hinter dem Stauffacher fährt ein erboster junger Mann mit dem Auto nah an den Umzug ran und steigt dann aus: «Fahrt schon, lasst mich durch, Mann!» Er beginnt laut zu schimpfen, auf beiden Seiten werden sofort die Telefone gezückt. Dann starren sie sich drohend an. Eine der sattsam bekannten Konfrontationen.

Die Polizei, zuvor so präsent, ist plötzlich nicht mehr zu sehen. Über eine Viertelstunde lang bleibt das so. Sie gibt damit jenen Demonstranten recht, die sich im Vorfeld entspannt zeigten: Die Polizisten würden den Umzug kaum mit Gewalt auflösen. Denn die grüne Sicherheitsvorsteherin Karin Rykart hatte sich zwar dem Urteil des Statthalters gebeugt, aber ihre Leute zugleich angewiesen, verhältnismässig zu handeln.

Bei der Teilnahme an einer unbewilligten Demonstration handelt es sich bloss um eine Übertretung – die geringste aller Deliktarten. Sie hat eine Verzeigung zur Folge und wird vom Stadtrichter mit maximal 500 Franken geahndet. Alles andere würde kaum als angemessen taxiert. So etwa auch das vorübergehende Einziehen der Velos.

Die Demonstrantinnen und Demonstranten johlen «Hallo Velo!», während sie Richtung Autobahnauffahrt fahren.

Die Demonstrantinnen und Demonstranten johlen «Hallo Velo!», während sie Richtung Autobahnauffahrt fahren.

hub.

Erst, als der Umzug, inzwischen mutiger geworden, johlend durch den Tunnel in der Enge Richtung Autobahnauffahrt fährt, sind die Polizisten wieder da. Sie stehen auf der Überführung und machen Videoaufnahmen. Verzeigt oder weggewiesen wird hier niemand, auch wenn dies gleichzeitig via Twitter angedroht wird.

Später werden einzelne Teilnehmer berichten, sie seien doch noch gestoppt worden; die Stadtpolizei spricht am Morgen danach von 52 kontrollierten Personen, die mit einer Verzeigung wegen Teilnahme an einer unbewilligten Demonstrationen rechnen müssten, und mehreren beschlagnahmten Musikanlagen.

Trotz neuer Vorzeichen ist die Critical Mass am Freitag auch lange nach dem Feierabendverkehr weiterhin in Gang. Immerhin: Autofahrer stört sie zu dieser Zeit nicht mehr viele.