Nach Kritik von SVP-Nationalräten: Dragqueen-Vorlesestunde für Kinder kann nur mit Polizeischutz stattfinden

Nach dem Eklat um den Gender-Tag an der Schule Stäfa wird nun auch die privat organisierte «Drag Story Time» zum Ziel einer Online-Kampagne.

Giorgio Scherrer 4 min
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Erregt gerne Aufsehen mit scharfen Aussagen: SVP-Nationalrat Andreas Glarner.

Erregt gerne Aufsehen mit scharfen Aussagen: SVP-Nationalrat Andreas Glarner.

Peter Schneider / Keystone

Eine Vorlesestunde für Kinder von drei bis acht wird mit Polizeischutz stattfinden. Verschwörungstheoretiker wollen eine «Mahnwache» dagegen abhalten. Und auch eine linke Solidaritätsaktion ist geplant.

Zürich erlebt nur eine Woche nach der Aufregung um einen Gender-Tag an der Schule Stäfa schon die nächste Kampagne zum Thema. Und mittendrin ist wieder: der Aargauer SVP-Nationalrat Andreas Glarner.

Am Montag äusserte dieser sich auf Twitter kritisch über eine für Samstag geplante private Veranstaltung in Zürich. Dabei lesen Dragqueens und Dragkings – Erwachsene, die sich im Stil des jeweils anderen Geschlechts verkleiden – interessierten Eltern und ihren Kindern aus einem Kinderbuch vor. Am selben Morgen kritisierte auch Glarners Nationalratskollege Roger Köppel die Vorlesestunde.

Daraufhin dauerte es nicht lange, bis Online-Follower Glarners zu Protest und einer «Mahnwache» vor Ort aufgerufen hatten. Auch in den einschlägigen Telegram-Kanälen von Verschwörungstheoretikern machte die Einladung dazu die Runde. Es kam zu Beschimpfungen und Todeswünschen. Laut den Tamedia-Zeitungen sollen auch Personen aus der sogenannten Reichsbürger-Szene involviert sein.

Die Veranstalter – darunter eine Buchhandlung und die städtisch geförderte Pestalozzi-Bibliothek – wurden gemäss mehreren Medienberichten mit Drohungen und Beschimpfungen eingedeckt.

Die Folge: Die Stadtpolizei Zürich hat Polizeischutz angekündigt. Die Veranstalter sehen sich gezwungen, private Sicherheitsleute zu engagieren. Und in linken Kreisen wird für eine Solidaritätskundgebung mobilisiert.

Gender als Wahlkampf-Thema

Der Fall erinnert an die Online-Kampagne gegen die Schule Stäfa von vergangener Woche. Damals hatten SVP-Mann Glarner und weitere Parteiexponenten einen dort seit zehn Jahren stattfindenden Gender-Tag kritisiert, bei dem mit Schülern über das Thema Geschlecht diskutiert wird. In den sozialen Netzwerken entwickelte sich daraufhin ein regelrechter Shitstorm. In der Folge sagte die Schule die Veranstaltung wegen Drohungen ab.

Dass ausgerechnet die «Drag Story Time» das nächste Ziel einer solchen Kampagne wird, kann nicht überraschen. Bereits im Herbst war die Veranstaltung – damals im Zürcher Tanzhaus – Ziel einer Aktion der Neonazi-Gruppierung «Junge Tat» gewesen. Wobei die Stadtzürcher SVP sich deren Kritik im Nachgang zu eigen gemacht und einen Stopp der Veranstaltung gefordert hatte.

Damals wie heute scheint die Kritik an der Veranstaltung weniger mit deren tatsächlichem Inhalt und mehr mit dem zu tun zu haben, wofür sie in den Augen ihrer Kritiker steht. Die SVP hat den Kampf gegen die «Gender-Ideologie» zum nationalen Wahlkampfthema erklärt und sieht in der Vorlesestunde den Versuch, junge Kinder damit zu indoktrinieren.

Es gehe dabei darum, so erklärte etwa Roger Köppel in einem Video, biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu leugnen. Er spricht von einer «zwanghaften Sexualisierung aller Lebensbereiche», sein Kollege Glarner von einer «Unterwanderung».

Zuschauen statt urteilen

Doch was geschieht tatsächlich an einer solchen Veranstaltung? Bei einem Besuch der NZZ vor einigen Monaten las eine Drag-Performerin ein Kinderbuch mit dem Titel «Kati will Grossvater werden» vor. Es wurde getanzt. Nach Lust und Laune spielten Kinder mit Fasnachtsartikeln, Kostümen und Schminke. Am Ende verkleideten sich etwa gleich viele von ihnen als Kürbisse oder Haifische, wie sich welche mit Schminke und Glitzer eindeckten.

Und eine Mutter sagte glücklich über ihren Sohn: «Das war das erste Mal, dass er sich getraut hat, sich zu verkleiden!»

Will Kinder für Geschlechterrollen sensibilisieren: die Aktivistin und Schauspielerin Brandy Butler.

Will Kinder für Geschlechterrollen sensibilisieren: die Aktivistin und Schauspielerin Brandy Butler.

Karin Hofer / NZZ

Laut den Veranstaltern geht es bei der «Drag Story Time» darum, Eltern eine Möglichkeit zu geben, ihre Kinder in Berührung mit «verschiedenen Geschlechteridentitäten und Rollenvorbildern» zu bringen. Mit Sexualisierung habe das nichts zu tun.

Im vergangenen Herbst sagte die Organisatorin der «Drag Story Time», Brandy Butler, gegenüber der NZZ, sie finde es problematisch, dass Männer in Frauenkleidern als Gefahr für Kinder dargestellt würden. «Das bedient doch nur homophobe Stereotype. Mit unserer Veranstaltung hat das nichts zu tun.» Zumal dort nicht über Sex gesprochen werde und die Eltern stets anwesend seien.

Und Butler lud ihre Kritiker ein: «Schaut euch an, was hier passiert – bevor ihr urteilt.»

SVP lädt zu Streitgespräch

Ob Glarner und Köppel das getan haben? Der Gemeinderat von Stäfa jedenfalls liess am Mittwochabend an die Adresse der Kritiker des dortigen Gender-Tags verlauten: «Nicht eine dieser Personen hat sich zuvor (oder danach) über den Sachverhalt orientiert.»

Man verurteile die «Hetze» gegen die Schule Stäfa und ihre Mitarbeitenden «aufs Schärfste», schrieb der Gemeinderat in einer scharf formulierten Mitteilung. Dass ein schulischer Anlass wegen Drohungen abgesagt werden müsse, sei ein «unerhörter Vorgang», für den Glarner und seine Mitstreiter die Verantwortung trügen. «Wohlwissend, dass solche Leute nie die Verantwortung für das übernehmen, was sie auslösen, sondern sich selbst zum ‹Opfer› emporstilisieren.»

Statt um eine konstruktive Debatte, so die Stäfner Exekutive, gehe es den SVP-Exponenten nur um Wahlkampf und «masslose Gier nach politischer Aufmerksamkeit».

Glarner selbst wies auf Twitter die Kritik von sich. Die Zürcher SVP pochte ihrerseits auf die Meinungsfreiheit, wobei sie Drohungen an die Adresse der Schule verurteilte. Und sie lud – «um die Lage zu beruhigen» – den Gemeindepräsidenten von Stäfa öffentlich zu einem Streitgespräch mit Nationalrat Roger Köppel ein.