Tragödien für alle

Joana Mallwitz dirigierte mit Mozarts „Le nozze di Figaro“ ihre letzte Nürnberger Premiere

Schon um die ersten Minuten tobt ja ein Gelehrtenstreit. Soll die Ouvertüre zu „Le nozze di Figaro“ dahinrasen, im schäumenden Lustspielton, so, wie es der Titel „Der tolle Tag“ von Vorlagedichter Beaumarchais suggeriert? Oder braucht es, um die unzähligen Karfunkelsteine der Partitur leuchten zu lassen, ein bedächtiges Tempo, mit dem einst Harnoncourt verstörte? Im Graben des Nürnberger Staatstheaters platzt die Ouvertüre los. Eine Entladung. Ein überrumpelnder Furor. Aber auch: eine Treibjagd, vielleicht ist jemand auf der Flucht. Joana Mallwitz, scheidende Generalmusikdirektorin, gibt damit den Ton des Abends vor. Eine gemütliche Komödie wird das nicht. Kein moussierender Schampus, hier wird, man sieht’s später auf der Bühne, auch hartes Zeug gesoffen.

Eigentlich sollte die Produktion vor zwei Jahren herauskommen. Aus bekannten Gründen klappte das nicht. Um die Arbeit zu retten, gab es eine hausinterne Premiere. Nun, als öffentliches Ereignis, wird alles zur letzten Nürnberger Musiktheatertat von Joana Mallwitz. Nächste Saison wird sie Chefin des Berliner Konzerthausorchesters. Nach dreieinhalb fränkischen Premierenstunden brandet Jubel durchs Haus, doch der klingt auch nach Wehmut.

Aber das passt zum Abend. Jens-Daniel Herzog, regieführender Intendant, holt den „Figaro“ ohne Reibungsverluste und Konzeptschweiß ins Heute. Kein Grafenschloss, sondern die kargen Räume von Familie Neureich, vielleicht ist der Gatte CEO eines Unternehmens und bei der FDP, auf jeden Fall braucht der Hormondruck Entladung. Die Ehe funktioniert längst nicht mehr, auf dem großen Familienfoto wird noch gelächelt. In der Tochter, die hat Herzog als stumme Figur hinzuerfunden, spiegelt sich das ganze Beziehungsdrama. Das Mädchen muss stark sein, ist zunehmend traumatisiert und am Ende allein auf der Bühne: Böser, dunkler ging selten ein „Figaro“ aus.

Gelacht werden darf schon an diesem minutiös choreografierten und hochintelligent aufgedröselten Abend. Meist ist das Befreiung und Distanzierung, vielleicht erkennt sich mancher wieder. Bei Regisseur Herzog gibt es keine Gags, sondern Hintergründiges, dafür ist diese von Mozart und Lorenzo Da Ponte perfekt gebaute Tragikomödie auch viel zu ernst. Ausstatter Mathis Neidhardt hat eine sich auffaltende Zimmerlandschaft ersonnen. Die erlaubt Parallelhandlungen und szenische Kommentare. Außerdem haben die dünnen Wände Ohren: Vom Intrigenspiel bekommt die Gegenseite meist sofort etwas mit.

Auf dem eigentlich geplanten Höhepunkt, Figaros und Susannas Hochzeit, kippt alles. Der Graf weint, das Kind hat das Familienfoto geschwärzt, aus der betrunkenen Gräfin lallt der Zynismus, beinahe küsst sie Susanna – die Gefühle brechen sich ungewohnte Bahnen. Jeder erlebt seine Tragödie und ist doch, auch das ein Verdienst der Regie, unendlich sympathisch. Nürnberg hat dafür ein großartiges Ensemble am Start. Aktion und Reaktion greifen nahtlos ineinander, das Timing ist nahezu perfekt. An der Spitze Julia Grüter als Susanna, stimmlich auf dem direkten Weg zur Gräfin. Nichts ist bei ihr „gemacht“; die Lyrik, das Empfindsame, auch das Durchtriebene der Rolle, all das wirkt vollkommen natürlich. Samuel Hasselhorn ist als Graf eine Musterbesetzung, seinem Prachtbariton darf er gern noch zwei, drei weitere Farben abgewinnen. Emily Newton ist eine herbe, großstimmige Gräfin ohne Larmoyanz, Corinna Scheurle ein maskulin-cooler Cherubino mit feiner metallischer Mezzo-Legierung. Wonyong Kang singt einen kernigen, zupackenden Figaro, müsste sich allerdings noch mehr gegen die starke Kollegenschaft durchsetzen.

Und alle haben sie einen kurzen Draht zur Chefin im Graben. Schon in Salzburg anno 2020 hat Joana Mallwitz eine herausragende „Così fan tutte“ dirigiert. In Nürnberg erlebt man, wie es tönt, wenn sie nicht an ein eingefahrenes Traditionsorchester wie die Wiener Philharmoniker andocken muss. Hier wird alles von A bis Z selbst entwickelt und hinterfragt, die Staatsphilharmonie wächst dabei weit über sich hinaus.

Das Ergebnis: eine extrem ausgefeilte, verfeinerte Deutung, eine Lesart, die auch das Binnendrama von manchmal nur drei, vier Takten hörbar macht. Ständig grummelt es in der Musik, nichts ist gewiss und endgültig. Mallwitz führt vor, dass Sturm und Drang bei Mozart die innere, in Klang übersetzte Revolution der Figuren meint. Das kann sich in aufblitzender Komik äußern, aber auch in messerscharfer Gewalt.

Mozarts „Figaro“, eine merkwürdige, vielleicht auch vermeidbare Ballung, scheint an Bayerns Staatstheatern das Stück der Stunde. Schon Ende Juni bringt Gärtnerplatz-Hausherr Josef E. Köpplinger seine Neuversion ins Spiel, Ende Oktober folgt eine Produktion an der Bayerischen Staatsoper. Gegen die Nürnberger Vorlage dürften es die Schwesterhäuser sehr, sehr schwer haben.

Nächste Vorstellungen

am 17., 30. April, 7., 13., 18., 21. Mai sowie 5., 25. Juni;

Telefon 01801/34 42 76.

Donnerstag, 16. Mai 2024
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