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Das Mädchen, das den Blumen zuhörte

Das Mädchen, das den Blumen zuhörte - eBook-Ausgabe

Stephanie Knipper
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Das Mädchen, das den Blumen zuhörte — Inhalt

Der internationale Bestseller über eine ganz besonderes Mädchen, seine Fähigkeiten und über die Kraft der Liebe: Für alle Fans von Vanessa Diffenbaugh und Eowyn Ivey
Antoinette Martin leidet an einer starken Form von Autismus, noch nie in ihrem Leben hat sie ein Wort gesprochen. Aber das kleine Mädchen besitzt eine große Gabe: Ihre Berührungen sind heilend. Doch jede Heilung kostet Kraft und mit jeder Berührung riskiert sie ihr Leben. Zusammen mit ihrer Mutter Rose wohnt sie auf der großen Blumenfarm „Eden Farms“. Als Rose lebensbedrohlich erkrankt, bittet sie ihre Schwester Lily um Hilfe. Die beiden Frauen waren als Kinder unzertrennlich – bis ein trauriger Vorfall sie auseinanderriss. Nun kehrt Lily mit gemischten Gefühlen zurück auf die Blumenfarm. Doch dank der unglaublichen Liebe zu Antoinette und der einzigartigen Wunder, die das kleine Mädchen vollbringt, lernen die Schwestern endlich, einander zu verzeihen...
„Die Einzigartigkeit dieses Debüts zieht den Leser in seinen Bann.“ Publishers Weekly

€ 4,99 [D], € 4,99 [A]
Erschienen am 11.01.2019
Übersetzt von: Claudia Franz
368 Seiten
EAN 978-3-492-97796-8
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Leseprobe zu „Das Mädchen, das den Blumen zuhörte“

Roses Tagebuch

– April 2013 –

Meine Tochter, Antoinette, flüstert im Schlaf. Richtige Worte. Als ich an diesem Abend ihre Stimme höre, eile ich die Treppe hoch, aber ich komme zu spät. Sie ist mucksmäuschenstill. Und die Laute hätten von allem Möglichen herrühren können. Vom Wind. Von einer Eule. Grillen.

Sie liegt auf der Seite. Ihre rechte Hand reckt sich in Richtung Tür, in meine Richtung, als sei ich selbst im Schlaf die Sonne, um die sie kreist.

Ich strecke die Hand aus. Ohne den Raum zu betreten.

Wenn sie schläft, kann ich so tun, als merkte ich nicht, [...]

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Roses Tagebuch

– April 2013 –

Meine Tochter, Antoinette, flüstert im Schlaf. Richtige Worte. Als ich an diesem Abend ihre Stimme höre, eile ich die Treppe hoch, aber ich komme zu spät. Sie ist mucksmäuschenstill. Und die Laute hätten von allem Möglichen herrühren können. Vom Wind. Von einer Eule. Grillen.

Sie liegt auf der Seite. Ihre rechte Hand reckt sich in Richtung Tür, in meine Richtung, als sei ich selbst im Schlaf die Sonne, um die sie kreist.

Ich strecke die Hand aus. Ohne den Raum zu betreten.

Wenn sie schläft, kann ich so tun, als merkte ich nicht, dass ihre Augen ein Stück zu weit auseinanderstehen. Ihre Arme sind entspannt und klammern sich nicht an ihre Schultern, wie sie es tagsüber oft tun. Ihr weißblondes Haar, das dem zarten Flaum eines Neugeborenen ähnelt, plustert sich an ihrem Hinterkopf auf wie die Samen einer Pusteblume. Oder als würde ihr beim Herumtollen der Wind hineinfahren.

Das Fenster steht offen, und eine Brise verfängt sich in den blütenweißen Vorhängen. Obwohl wir erst Anfang April haben, ist die Luft bereits so warm, dass die Tulpen sprießen. So ist Kentucky. Unberechenbar. Heute Nacht ist es dunkel, aber hier auf dem Land raubt keine Laterne den Sternen ihren Glanz.

Ich schließe die Augen und beschwöre einen Traum herauf. Antoinette läuft über die Farm und lässt die Finger über Narzissen und Tulpen gleiten. Ihre Beine sind stark und springen wie die Beine anderer zehnjähriger Mädchen übers Gelände. Aber das Bild wird diesem Kind nicht gerecht. In einem realistischeren Traum käme Antoinette wie eine Marionette auf mich zu, die Arme angewinkelt, die Hände vor der Brust verkrampft, die wackeligen Knie bei jedem Schritt nachgebend.

Meine Gedanken schweifen in die Vergangenheit, und Erinnerungen werden wach: wie wir uns im Schlaf aneinandergeschmiegt haben, als teilten wir immer noch ein und denselben Körper. Wie wir uns zum Gesang der Feldammern gewiegt haben. Wie wir in der Trockenscheune unter einem Regen aus Lavendelblüten getanzt haben.

Jetzt rührt sich Antoinette und dreht sich zum Fenster. Ich sehe die Felder vor mir, auf denen Tausende von weißen Tulpenknospen explodieren, viel zu früh im Jahr. Allerdings geschehen hier weitaus merkwürdigere Dinge.

Meine Schwester Lily war immer fasziniert von der Viktorianischen Blumensprache. Sie kannte die Bedeutung sämtlicher Blumen, die wir auf unserer Farm kultivieren. Eines unserer Spiele bestand darin, dass sie Sträußchen im Haus verteilte und ich die Botschaft erraten musste. Narzissen kündeten von Neubeginn, Kornblumen von Gesundheit und Kraft.

Und weiße Tulpen von Vergebung und ewigem Gedenken.

Mein Herz gerät aus dem Takt, in meiner Brust bildet sich der vertraute Druck. Ich atme tief ein und zähle jeden einzelnen Herzschlag. Als ich mich wieder beruhigt habe, betrachte ich meine Tochter.

An ihrer Wange klebt eine Haarsträhne. Ich gehe in das Zimmer, um sie ihr aus dem Gesicht zu streichen, aber meine Tochter dreht sich weg und rollt sich zu einer Kugel zusammen. Weil ich sie nicht wecken möchte, verharre ich an Ort und Stelle. Sie soll noch ein bisschen in ihren Träumen verweilen, an diesem sicheren Ort, an dem ich ihr keinen Schaden zufügen kann.

Das wird noch früh genug geschehen.

 

 

Antoinette Martin stand in der Küche und betrachtete die Alarmanlage über der Hintertür. Das rote Licht brannte nicht; das Ding würde also nicht losschreien und ihre Mutter wecken, wenn sie die Tür öffnete. Sie könnte in den Garten gehen.

Wilde Freude packte sie. Sie wippte auf den Zehenspitzen und ließ die nackten Füße auf die alten Eichendielen klatschen. Das glatte Holz fühlte sich an wie das Wasser des Bachs im Juli. Ein glücklicher Gedanke. Sie wippte noch einmal.

Als ihr Körper sich beruhigt hatte, griff sie nach dem Türknauf. Sie zögerte. Ihre Mutter und sie lebten auf einer Blumenfarm in Redbud, Kentucky. Obwohl ein Großteil der zwanzig Hektar gerodet und in Blumenfelder verwandelt worden war, wucherte dichter Wald hinter ihrem Anwesen. Antoinette durfte nicht alleine hinausgehen. Auf einer Farm konnte man sich leicht verletzen.

Sie drückte die Nase an die kalte Scheibe in der Küchentür. Draußen brauchte sie weder Musik noch Kunst, um das weiße Rauschen zu unterdrücken, das sie zu verschlingen drohte: das Brummen des Kühlschranks, das Rauschen der Spülmaschine, das Sirren der Klimaanlage. Draußen sang das Land, und das war noch besser als die Kompositionen von Mozart und Händel, die ihr Nachbar Seth Hastings auf seiner Geige spielte.

Abends saß Antoinette auf der Veranda hinter dem Farmhaus und lauschte, wenn Seth Geige spielte, oder blätterte in einem der Kunstbücher ihrer Mutter herum. Ralph Vaughn Williams’ The Lark Ascending erkannte sie schon beim ersten Trillern der Geige. Und wenn sie die Augen schloss, konnte sie das geheimnisvolle Lächeln von Leonardos Mona Lisa oder das Gefälle des Hügels in Wyeths Christinas Welt vor ihrem inneren Auge heraufbeschwören, Pinselstrich für Pinselstrich.

Ungewöhnlich für eine Zehnjährige. Andererseits war kaum etwas gewöhnlich an Antoinette.

Gleißendes Sonnenlicht fiel durch die Tür. Tränen schossen ihr in die Augen, und sie kniff sie zusammen. Sie fühlte sich innerlich wie eingeschnürt, als wären ihre Muskeln zu stramm. Vor ihren Lidern glühte die Sonne immer noch, aber der Schmerz war fort, und so traf sie eine Entscheidung. Sie brauchte Musik, um sich zu beruhigen.

Nun, da ihr Geist leer war, zwang sie sich, den Arm auszustrecken, bis ihre Fingerspitzen den abgeblätterten Lack an der Tür berührten. Er schien ihre Haut aufzuschlitzen, und sie hätte fast einen Rückzieher gemacht. Aber wann war die Alarmanlage schon einmal ausgestellt?

Um die Kontrolle wiederzuerlangen, wedelte sie mit der Hand und stieß gleichzeitig mit der anderen die knarrende Tür auf.

Nun knallte ihr das Sonnenlicht noch gleißender ins Gesicht. Mit geschlossenen Augen reckte sie sich der Sonne entgegen und wünschte, sie würde sie ins Freie ziehen. Oft fehlte ihr die Kontrolle über ihren Körper, aber an diesem Morgen bewegte sie sich wie eine Ballerina, wiegte sich in den Hüften und glitt wie ein Seidenband zur Tür hinaus.

Auf der Veranda warf sie die Arme in die Luft und wäre am liebsten zur Sonne geflogen. Dann lauschte sie. Das Land sang für alle, die lange genug stillstanden, um die Melodie in sich aufzunehmen.

Die Menschen sangen auch, aber Antoinette musste sie berühren, um ihre Melodie zu hören. Manchmal griff sie nach der Hand ihrer Mutter und spürte, wie der sanfte, süße Klang einer Panflöte ihren Körper erfüllte. In diesen Momenten hatte Antoinette das Gefühl, alles tun zu können. Selbst sprechen.

Heute klang die Außenwelt klagend, wie die Oboe in Peter und der Wolf. Antoinette wankte. Fast hätte sie die Augen geöffnet, aber dann besann sie sich eines Besseren. Das wäre unweigerlich das Ende. Ihr Gehirn würde sich an den Grashalmen verhaken und zu zählen beginnen. Eins, zwei, drei … vierhundert, vierhunderteins, vierhundertzwei. Sie wäre für Stunden blockiert.

Mit geschlossenen Augen stieg sie von der Veranda hinab. Ein Lüftchen umspielte ihre Knöchel, und ihr Nachthemd bauschte sich. Ihrer Kehle entrang sich ein schrilles Kichern. Wenn sie die Arme emporreckte, könnte sie vielleicht fliegen, leicht, wie sie sich fühlte. Sie hob die Hände und ließ sie so heftig wieder fallen, dass sie ihr auf die Oberschenkel klatschten.

Der gepflasterte Pfad würde sie zu den Blumenfeldern führen, aber heute wollte sie nicht nur den Stein unter ihren Füßen spüren. Sie verließ den Pfad und bohrte die Zehen in die Erde. Der Boden sirrte. Eine vibrierende Elektrizität schoss ihr in die Beine und beruhigte ihre Muskeln, sodass sie auf dem Weg in den Garten nicht unwillkürlich hüpfen oder mit den Händen wedeln musste oder die Kontrolle über ihre Beine verlor.

Sie ging weiter, bis sie mit den Füßen gegen den Erdwall stieß, der den Rand des Narzissenfeldes markierte.

Von ihrem Zimmerfenster aus konnte sie die leuchtend gelben Köpfe im Sonnenlicht nicken sehen, aber hier konnte sie sie fühlen.

Sie hockte sich hin und vergrub die Hände im lehmigen Boden. Er glitt an ihren Fingern entlang und setzte sich unter ihren Nägeln und in den Fältchen ihrer kleinen Hände fest. Mit jedem Atemzug füllte sich ihre Lunge mit den Gerüchen des Gartens: Erde, Kompost, frisches grünes Gras.

Wenn ihre Hände in der Erde steckten, schwoll die Musik an. Ein ganzer Holzbläserchor durchflutete ihren Körper: Flöten, Klarinetten, Fagotte. Aber das Tempo war zu langsam, und es mischten sich ein paar Missklänge darunter. Dur und Moll gingen wild durcheinander. Das Herz klopfte ihr in den Ohren, und ihre Arme verkrampften sich. Der Drang zu wedeln wurde übermächtig, aber sie zwang sich stillzuhalten. Ein Bild stieg vor ihr auf: das Bild von einer Blumenzwiebel im Lehmboden und einer durch Wurzelfraß geschwächten Pflanze.

Antoinette summte, zog das Tempo an und korrigierte die Töne. Sobald alles stimmte, verstummte sie. Ihr Körper war jetzt ruhig, sank aber plötzlich in sich zusammen, vollkommen erschöpft. Mulch piekte sie in die Wange, aber sie rührte sich nicht. Sie atmete tief durch und lauschte auf die Rotkehlchen, die aus dem nahe gelegenen Wald herüberriefen.

„Antoinette?“

Sie hörte ihren Namen nicht, weil sie sich in den Eindrücken um sie herum verloren hatte. Dann legte sich eine raue Hand in ihren Nacken. Die Berührung erschütterte sie, und sie fiel hintüber, die Augen weit aufgerissen vor Angst.

„Entschuldigung“, sagte der Mann und nahm die Hand schnell wieder fort.

Sie wollte sich aufrichten, aber ihre Muskeln versagten ihr den Dienst.

„Antoinette.“ Der Mann sprach ruhig. „Antoinette. Was ist los? Ich bin’s, Seth. Schau mich an. Ist alles in Ordnung?“

Er berührte ihre Wange und drehte ihren Kopf zu sich hin. Als sie sich in seine schwielige Hand schmiegte, beruhigte sich ihr rasendes Herz, und sie entspannte sich. Seth war eine Konstante in ihrem Leben, wie ihre Mutter. Wie ihre Mutter begriff er, dass man nicht nur durch Sprache kommunizieren konnte.

Er ging vor ihr in die Hocke. Die Spitzen seiner langen, dunklen Haare kitzelten sie an der Wange. „Kannst du mir sagen, was los ist?“, fragte er.

Ihr Arm fühlte sich schwer an. Trotzdem zeigte sie an ihm vorbei, wo sich hinter einem Meer von Narzissen das blaue Holzhaus erhob.

„Nach Hause?“, fragte er. „Möchtest du nach Hause?“

Antoinette zeigte in die Richtung und öffnete den Mund. Nach Hause. Sie hätte es gerne gesagt. Sanft wie ein Flüstern wären die Worte, wenn sie sie nur herausbrächte.

Seth schob den Arm unter ihren Körper. Sie pflückte eine Narzisse, bevor er sie hochhob. Die Blumen von den Feldern waren nicht dafür gedacht, das eigene Heim zu schmücken, aber die gelbe Narzisse würde ihrer Mutter Freude machen.

Seth wiegte sie in den Armen, als er zum Haus zurückging, und sie verschmolz mit ihm. Er roch nach grünem Gras und Tabak. Unter seinem dünnen T-Shirt spürte sie das gleichmäßige Pochen seines Herzens, eine eigene Melodie.

 

Mit einem dumpfen Geräusch öffnete sich die Küchentür. Antoinette hob den Kopf aus Seths Armen und sah, dass der Raum leer war. Wahrscheinlich schlief ihre Mutter noch.

„Rose?“, rief Seth. Keine Antwort. Die Luft im Haus war still und schwer. Er trat in den langen Flur, der zum Schlafzimmer ihrer Mutter führte.

Antoinette sah ihre Mutter durch die offene Tür. Sie saß in einem der beiden blauen Sessel am Fenster, das auf das hintere Feld hinausging, eine aufgeschlagene Zeitung im Schoß. Als Seth an den Türrahmen klopfte, drehte sie sich um.

Antoinette fiel es schwer, sich auf Gesichter zu konzentrieren. Mit jeder Sekunde veränderten sie sich, da sich die winzigen Muskeln bei jedem Lächeln oder Stirnrunzeln verschoben. Jeder einzelne Mensch trug wohl Hunderte von Gesichtern. Antoinette zwang sich trotzdem, das ihrer Mutter zu betrachten. Die Lippen waren bläulich angelaufen, und unter den Augen lagen dunkle Ringe. Das kurze blonde Haar stand in alle Himmelsrichtungen ab. Die Schatten ließen ihr ausgemergeltes Gesicht noch zerklüfteter erscheinen.

„Ich habe sie im Narzissenfeld aufgelesen“, sagte Seth.

Ihre Mutter schlug die Zeitung zu und erhob sich. „Antoinette wollte unbedingt nach draußen, aber ich war so müde.“ Sie beugte sich über ihre Tochter, die sich immer noch in Seths Arm schmiegte. „Du warst schon immer ein Dickkopf.“

Antoinette hielt ihr die Narzisse hin.

Ihre Mutter nahm sie mit einem Lächeln entgegen. „Narzissen stehen für Neubeginn“, sagte sie zu Seth. „Das stand in Lilys Blumenbuch. An was man sich nicht alles erinnert.“

Antoinette spürte, dass Seth zusammenzuckte. „Das kann man ja wohl kaum vergessen.“ In seine raue Stimme hatte sich etwas geschlichen, das wie Bedauern klang. „Sie hat das Buch überall mit hingeschleppt.“

Antoinette war zwischen den beiden geborgen. Zufrieden. Das Wort war irgendwo aus ihrem Innern aufgestiegen. Ihr gesamter Körper fühlte sich warm an. Sie reckte sich vor, weil sie die Melodie ihrer Mutter hören wollte.

Doch die wich zurück. „Du musst jetzt schlafen“, sagte sie. Ihre Lippen verzogen sich zu einem traurigen Lächeln.

„Sie lag zwischen den Narzissen“, sagte Seth. „Gestern Abend ist mir aufgefallen, dass ein paar der Blüten schon braune Ränder hatten, daher wollte ich sie heute Morgen schneiden. Seltsamerweise waren sie wieder ganz frisch. Antoinette lag mittendrin, halb weggedöst. Sie hat mich erst gehört, als ich bei ihr war.“ Er sprach langsam, und seine Stimme klang bedeutungsschwer. Aber Antoinette war zu müde, um darüber nachzudenken, was er wohl sagen wollte.

Er setzte sich in einen Sessel und verlagerte Antoinettes Gewicht, sodass sein Arm nun in ihrem Nacken lag.

„Sie ist so klein“, sagte ihre Mutter, als sie Seth gegenüber Platz nahm. „Es überrascht mich immer wieder, wie schwer sie nach einer Weile wird.“

Seth lachte. Antoinette mochte den Klang. Sie schloss die Augen und ließ die Geräusche über sich hinwegspülen. Um mit den Händen zu wedeln, war sie zu müde, aber ihre Finger zuckten an Seths Arm. Glücklich.

In Seths Nähe war sie meistens glücklich. Im Umgang mit anderen konnte er barsch sein, aber zu Antoinette und ihrer Mutter war er immer nett.

Einmal hatten ein paar Jungen auf dem Bauernmarkt über Antoinette gekichert, weil sie sich auf die Zehenspitzen erhoben hatte und unter dem Zeltdach des Stands der Eden Farms im Kreis herumlief. Als Seth, der gerade Kisten mit Fleißigen Lieschen auslud, es mitbekam, ging er zu Antoinette und legte den Arm um sie. In seiner Gegenwart wich die Anspannung, und das ermöglichte es ihr, innezuhalten und stillzustehen.

Seth sagte kein Wort. Er starrte die Jungen einfach nur an, bis sie zu zappeln anfingen. Und dann entschuldigten sie sich einer nach dem anderen.

„Kinder“, sagte er, nachdem sie sich in alle Winde verstreut hatten. „Sie wissen nicht, was sie tun. Aber es schmerzt trotzdem.“

Er hatte recht. Es schmerzte. Jedes Mal, wenn jemand sie einen Moment zu lang anstarrte oder die Straßenseite wechselte, um ihr aus dem Weg zu gehen, verspürte sie ein leises Brennen in der Brust.

Zu wissen, dass die beiden ihre Gefühle verstanden, linderte den Schmerz ein wenig.

Bei dem Gedanken an ihre Mutter riss Antoinette die Augen auf und sah, wie sich der Brustkorb ihrer Mutter langsam hob und senkte. Obwohl sie müde war, reckte sie sich nach ihr. Wenn sie nur ihre Hand halten könnte, wäre alles in Ordnung. Sie dachte an die Melodie ihrer Mutter – die Klänge einer Panflöte, sanft und rund wie Flusssteine.

„Jetzt nicht, Antoinette.“

Antoinette gab nicht auf. Während sie sich mühsam aufzurichten versuchte, betrachtete sie die länglichen Finger ihrer Mutter. Und den grün-violetten Bluterguss auf ihrem Handrücken. Er stammte von der Injektion, die sie letzte Woche in der Notaufnahme bekommen hatte.

Seth schlang beide Arme um sie und lehnte sich zurück. Jetzt war sie noch weiter von ihr entfernt. „Deine Mutter braucht ein wenig Ruhe.“

Antoinette schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr die Haare gegen die Wangen schlugen. Mommy! Wenn sie das Wort herausbekäme, würde sich ihre Mutter bestimmt erweichen lassen.

„Sie kann so nicht weitermachen“, sagte ihre Mutter mit brüchiger Stimme. „Zumal es mir, nun ja … Es ist ja nicht so, dass es mir besser geht.“

Seth seufzte. Nach ein paar ewigen Sekunden sagte er: „Es ist Zeit, Lily anzurufen. Du kannst ihr nicht für den Rest des Lebens aus dem Weg gehen, Rose.“

Antoinette wehrte sich in seinen Armen, aber er war zu stark. Die Erschöpfung, die sich ihrer bemächtigt hatte, hielt sie gefangen. Ihre Lider fielen zu, als hingen winzige Gewichte an den Wimpern. Sie war müde. Entsetzlich müde.

„Ich weiß nicht“, sagte ihre Mutter und klang wie ein verängstigtes Kind. „Es ist jetzt sechs Jahre her. Lily war schon überfordert, als Antoinette vier war, und die Dinge sind ja nicht besser geworden. Und wie wir auseinandergegangen sind … Was, wenn sie gar nicht kommt?“

Mit aller Kraft versuchte Antoinette die Augen zu öffnen, schaffte es aber nicht. Ihr Körper wurde immer schwerer und schwerer.

Sie hörte Seth sagen: „Wir sind alle drei keine Kinder mehr, Rose. Lily ist deine Schwester. Das Mädchen, das ich kenne, wird kommen, wenn du sie darum bittest.“

Antoinette konnte nicht länger dagegen ankämpfen. Sie sank in Seths Arme, als der Schlaf sie überwältigte.

Stephanie Knipper

Über Stephanie Knipper

Biografie

Stephanie Knipper ist in Kentucky, USA, aufgewachsen. Ihre Liebe zu Büchern war von klein auf grenzenlos, und obwohl die Familie nicht viel Geld besaß, sorgte ihre Mutter immer dafür, dass ihre Tochter etwas zum Lesen hatte. Ihr Vater wiederum förderte ihre Begeisterung für die Flora und Fauna und...

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