Nach dem Volksentscheid: Lässt Wohnungsenteignung die Mietpreise sinken?

56 Prozent der Berliner sprachen sich Ende September in einem Volksentscheid dafür aus, private Wohnungskonzerne zu vergesellschaften. Rechtlich bindend ist das Ergebnis des Volksentscheids nicht. Doch führt die Enteignung tatsächlich zu sinkenden Mietpreisen? Darüber diskutieren für procontra David Eberhart, Vorstandsvertreter des Verbands Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen, und Reiner Wild, Geschäftsführer des Berliner Mietervereins.

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11:10 Uhr | 27. Oktober | 2021

David Eberhart (Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen): Contra 

Stellen Sie sich vor: Sie sind Geschäftsführer*in eines Wohnungsunternehmens in Berlin. Sie haben in den letzten Jahren schon ein paar hundert neue Mietwohnungen gebaut – für Familien, Singles, Senior*innen; darunter auch etliche Sozialwohnungen zur Versorgung einkommensschwächerer Haushalte. Sie haben jetzt rund 2.900 Wohnungen, 150 weitere sind derzeit in Planung. Sie haben dafür sogar schon das Grundstück.

Dann kommt der 26. September und mit ihm der Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“. Der zielt darauf ab, dass Wohnungsunternehmen mit mehr als 3.000 Wohnungen in Berlin enteignet werden sollen. Fast 58 Prozent der Berliner*innen haben dafür gestimmt. Das Ergebnis ist zwar für die Politik nicht bindend. Trotzdem sind Sie jetzt sehr verunsichert. Sie zählen nach: Mit Ihrem Neubauprojekt kämen Sie auf – genau – 3.050 Wohnungen.

Hand aufs Herz: Würden Sie jetzt dieses Neubauprojekt wirklich noch vorantreiben? Solange Sie befürchten müssten, sich genau damit über die Grenze der „Vergesellschaftungsreife“ zu bauen? Oder wenn Sie jetzt schon vielleicht 10.000 Wohnungen in Berlin hätten: Würden Sie dann noch weitere neue Wohnungen errichten, auch auf die Gefahr hin, dass Sie die sozusagen in die Vergesellschaftung hinein bauen?

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Eben. Und so wie Ihnen würde es vielen gehen. Und das nicht nur bei Entscheidungen zu Neubau. Sondern auch bei Überlegungen, ob in energetische Modernisierungen investiert werden soll. Oder in demografiegerechten Umbau. Oder in die Neugestaltung des Innenhofs. Oder, oder, oder.

Und genau deshalb ist der Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ ein Bärendienst an Berlins Mieter*innen: weil er polarisiert, Unsicherheit bringt, Investitionen behindert. Und weil er genau das nicht voranbringt, was Berlin dringend zur Entspannung der Situation am Wohnungsmarkt braucht: den Neubau günstiger Mietwohnungen. Wenn Sie 100 Betten brauchen, aber nur 80 haben, bringt es auch nichts, 30 davon zu vergesellschaften. Sie brauchen mehr Betten. Genauso ist es auch am Wohnungsmarkt.

Natürlich könnte man darauf bauen: Eine Vergesellschaftung nach den Eckpunkten der Enteignungsinitiative wäre nach vielfacher Rechtsauffassung unvereinbar mit dem Grundgesetz und mit der Berliner Landesverfassung. Oder darauf, dass eine Vergesellschaftung mit von offizieller Seite auf bis zu 36 Milliarden Euro taxierten Entschädigungszahlungen unbezahlbar wäre. Sich diese Kosten schön zu rechnen, wie es die Initiative versucht, führt ins Abseits: weil eine solche Berechnung vor keinem Gericht Bestand hätte.

Man könnte also darauf vertrauen, dass ein solches Gesetz gar nicht erst kommt, oder spätestens vom Bundesverfassungsgericht gekippt würde. Das würde aber nichts daran ändern, dass die Berliner Wohnungsmarktprobleme sich nur auf eine Weise lösen lassen: durch Kooperation statt Konfrontation. Statt ein weiteres waghalsiges wohnungspolitisches Experiment – wie schon der gescheiterte „Mietendeckel“ – braucht Berlin echtes Miteinander. Die soziale Wohnungswirtschaft steht hierfür bereit.

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Reiner Wild (Berliner Mieterverein), Pro:

Das Ziel des Volksbegehrens ist rechtlich zulässig und politisch nachvollziehbar. Die überwiegenden juristischen Gutachten halten das Ziel des Volksbegehrens zur Ausgestaltung eines Vergesellschaftungsgesetzes nach Artikel 15 im Grundgesetz (Art. 15 GG) für möglich. Die Privatisierungen der 1990er und der 2000er Jahre haben den kommunalen Wohnungsbestand stark minimiert, die Folgen sind bis heute spürbar. Um ein relevantes Gegengewicht zu renditeorientierten Anbietern zu schaffen und damit wieder mehr Steuerungsmöglichkeiten auf dem Wohnungsmarkt zu erreichen, braucht es mittelfristig mindestens 50 Prozent der Berliner Wohnungsbestände in gemeinwohlorientierter beziehungsweise öffentlicher Hand.

Damit wäre dieses Segment ebenfalls marktbestimmend und hätte Einfluss auf Miet-, Immobilien- und Grundstückspreise. Der Wohnungsneubau sowie die Ankäufe der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften können das Ziel eines definierten, gemeinwohlorientierten Wohnungssegments mittelfristig nicht schaffen. Mit einer Vergesellschaftung großer Bestände über ein Vergesellschaftungsgesetz könnte dieses Ziel hingegen erreichbar sein. Das schließt nicht aus, dass es im Detail noch Gestaltungsbedarf am Gesetz geben kann. Wohnen ist ein Grundrecht und als solches in der Berliner Verfassung verankert. Land und Bezirke müssen über ausreichend Wohnungen verfügen, um große Teile der Bevölkerung mit leistbarem und angemessenem Wohnraum versorgen zu können.

Der Volksentscheid vom 26. September sieht die Überführung von knapp 240.000 Wohnungen großer Wohnungsunternehmen in eine Anstalt des öffentlichen Rechts vor. In deren Satzung soll die demokratisch organisierte Verwaltung der Bestände sowie der Ausschluss eines weiteren Verkaufs der Wohnungen in der Zukunft festgeschrieben werden. In den vergangenen zehn Jahren ist das Bedürfnis der Mieterinnen und Mieter, über ihre Mietshäuser und Wohnungen mitzubestimmen, wieder größer geworden. Viele Mieterinnen und Mieter der privatwirtschaftlichen Wohnungsunternehmen wünschen sich Transparenz im Hinblick auf ihren Vermieter und dessen Vorhaben in der Zukunft. Wenn wir in Berlin über mindestens 50 Prozent gemeinwohlorientiert und sozial bewirtschaftete Wohnungen verfügen und die hohe Nachfrage der letzten Jahre nachlässt, werden sich privatwirtschaftliche Wohnungsanbieter mehr um Mieterinnen und Mieter bemühen müssen, um ihre Wohnungen vermieten zu können.

Die Folge könnte eine Mietpreis-Dämpfung im gesamten Wohnungsmarkt sein, indirekt gäbe es somit auch einen Effekt auf die Immobilien- und Bodenpreise. Das Vergesellschaftungsgesetz, das der Senat nun nach dem erfolgreichen Volksentscheid erarbeiten muss, hat nun genau zu begründen, ab welcher Größe eine Vergesellschaftungsreife besteht und wie die Entschädigung bestimmt wird.

Die vom Volksbegehren adressierten Unternehmen tragen kaum zum Neubau bezahlbarer Wohnungen bei. Für breite Schichten der Bevölkerung wird leistbarer Wohnraum überwiegend von kommunalen Wohnungsunternehmen geschaffen. Die Enteignungskampagne ist nicht wirtschaftsfeindlich, sie richtet sich gegen eine bestimmte Art des Wirtschaftens.

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