Welche Farben sehen Sie? Und fragen Sie ruhig mal in Ihrem Umfeld herum, ob sich die Antworten decken. Sanne De Wilde/Noor Images

Warum deine Welt anders aussieht als meine

Wir glauben, dass wir die Dinge auf eine bestimmte Weise erleben, weil sie so sind. Doch nun zeigt die Forschung: Menschen nehmen die Welt unterschiedlich wahr, ohne dass ihnen das bewusst ist. Die Folgen sind verblüffend.

Von Gary Lupyan (Text) und Bettina Hamilton-Irvine (Übersetzung), 20.01.2024

Vorgelesen von Miriam Japp
0:00 / 28:50

Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Lösen Sie jetzt ein Abo oder eine Mitgliedschaft!

Selten hatte ein Kleidungs­stück die Leute mehr aufgewühlt als im Februar 2015. Damals postete Cates Holderness, eine «Buzzfeed»-Community-Managerin, ein Foto eines Kleides mit der Bild­überschrift: «Wir müssen das klären.» Der Beitrag wurde von einer Umfrage begleitet, an der innerhalb weniger Tage Millionen von Menschen teilnahmen. Für etwa zwei Drittel von ihnen war das Kleid weiss und golden. Für den Rest blau und schwarz. Viele Leserinnen waren fassungslos. «Lasst eure Augen überprüfen», schrieben sie in den Kommentaren und beschuldigten andere in Gross­buchstaben, sie seien Trolle.

Sehforscherinnen wiesen darauf hin, dass das unterschiedliche Erscheinungs­bild des Kleids damit zu tun hat, dass das Umgebungs­licht auf dem Foto nicht eindeutig zuweisbar ist. Interpretiert unser visuelles System das Foto als in einem Innen­raum mit wärmerem Licht aufgenommen, erscheint das Kleid blau und schwarz; wenn es im Freien aufgenommen scheint, weiss und golden.

Im Frühling des gleichen Jahres wurde das Kleid – übrigens tatsächlich blau und schwarz – auf einer Konferenz der Vision Sciences Society gezeigt und auf verschiedene Weise beleuchtet, um zu demonstrieren, wie Umgebungs­licht sein Aussehen verändern kann. All das erklärt aber noch nicht, warum das visuelle System verschiedener Menschen automatisch auf unterschiedliches Umgebungs­licht schliessen würde (wobei ein entscheidender Faktor die übliche Aufwachzeit einer Person zu sein scheint: Nacht­eulen sind häufiger wärmerem Innen­licht ausgesetzt).

Was auch immer die ganze Erklärung dafür sein mag: Es ist erstaunlich, dass ein solch zentraler Unterschied in unserem visuellen Erscheinungs­bild uns bisher so komplett hatte entgehen können. Bis #TheDress viral ging, hatte niemand, nicht einmal Sehforscher, eine Ahnung davon, dass diese spezifischen Diskrepanzen im farblichen Erscheinungs­bild existieren.

Das ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, wie einfach es ist, diesen Unterschied festzustellen. Im Fall von #TheDress reicht dafür die Frage: «Welche Farben sehen Sie?»

Doch wenn wir bereits einen so einfach zu messenden Unterschied in der subjektiven Erfahrung nicht bemerken, wie viele andere Unterschiede könnten wir wohl noch entdecken, wenn wir nur wüssten, wo suchen und welche Fragen stellen?

Verborgene Unterschiede

Schauen wir uns mal den Fall von Blake Ross an, dem Miterfinder des Firefox-Webbrowsers. In den ersten drei Jahrzehnten seines Lebens nahm Ross an, dass alle die Welt so erleben wie er. Bis er einen Artikel über Menschen las, die keine visuelle Vorstellung haben. Denn während die meisten Menschen ohne grosse Anstrengung lebhafte Bilder vor ihrem «geistigen Auge» entstehen lassen können, sind andere dazu nicht in der Lage. Dieser Zustand ist zwar schon seit dem 19. Jahrhundert dokumentiert, aber er bekam erst vor kurzem einen Namen: Aphantasie. Als Ross realisierte, dass er Aphantasie hat, war er perplex: «Stellen Sie sich vor, Ihr Telefon vibriert, eine Push­meldung kommt rein: Wissenschaftlerinnen aus Washington entdecken flossenlosen Mann. Was sind Sie dann?»

Ross fragte seine Freunde, wie es für sie ist, wenn sie sich etwas vorstellen, und stellte bald fest, dass sie das Vorhandensein visueller Bilder ebenso selbst­verständlich als Teil der menschlichen Natur betrachten wie er seinen Mangel an Vorstellungs­kraft. «Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie etwas visualisiert», schrieb Ross 2016 in einem Essay. «Ich kann weder das Gesicht meines Vaters ‹sehen› noch einen hüpfenden blauen Ball, mein Kinder­zimmer oder die Lauf­strecke, auf der ich vor 10 Minuten war. (…) Ich bin 30 Jahre alt und wusste bis jetzt nicht, dass andere Menschen das können. Und es raubt mir verdammt noch mal den Verstand.»

Wir sind verblüfft, wenn wir diese Art von verborgenen Unterschieden entdecken. Denn wir glauben, dass wir die Dinge auf eine bestimmte Weise erleben, weil sie so sind. Begegnen wir nun jemandem, der die Welt anders erlebt, müssen wir in Betracht ziehen, dass unsere eigene Wahrnehmung «falsch» sein könnte. Und wenn wir uns nicht einmal bei der Farbe eines Kleids sicher sein können, wo könnten wir uns sonst noch getäuscht haben? Wenn eine Aphantasikerin anerkennt, dass visuelle Bilder im Kopf existieren, so muss sie sich gleichzeitig eingestehen, dass zwischen ihren subjektiven Erfahrungen und denen der meisten anderen Menschen eine grosse Diskrepanz besteht.

Die Beschäftigung mit verborgenen Unterschieden wie diesen kann unser wissenschaftliches Verständnis des Geistes bereichern. So wäre es einem Sehforscher nicht in den Sinn gekommen zu fragen, ob eine Person, die später ins Bett geht, Farben anders sieht – aber eine Gruppe von Menschen, die im Internet darüber diskutiert haben, wie sie ein Kleid sehen, hat genau eine solche Studie angeregt.

Zudem sind wir auch moralisch dazu verpflichtet, solche Unterschiede zu untersuchen, weil es uns hilft, die verschiedenen Arten des Mensch­seins zu verstehen und uns in andere einzufühlen. Unsere Perspektive ändert sich grundlegend, wenn wir realisieren, dass eine Person möglicherweise nicht nur deshalb anders auf eine Situation reagiert, weil sie eine andere Meinung hat oder über anderes Wissen verfügt – sondern weil sie die Situation grundlegend anders erlebt.

Nur die Spitze des Eisbergs

Als Psychologie­forscher habe ich mich lange kaum um individuelle Unterschiede gekümmert. Wie die meisten anderen Kognitions­wissenschaftler konzentrierte ich mich darauf, einen Faktor zu manipulieren und zu sehen, wie sich das auf den Gruppen­durchschnitt auswirkt. Ich interessierte mich vor allem für die Art und Weise, wie die menschliche Kognition und Wahrnehmung durch Sprache erweitert wird. In einem typischen Experiment untersuchte ich zum Beispiel, ob das Erlernen von Namen für neue Objekte die Art und Weise veränderte, wie die Menschen sie kategorisierten, sich an sie erinnerten und sie wahrnahmen.

Das Wort «grün» zu hören, beispielsweise, hilft den meisten Menschen, die feinen Unterschiede zu erkennen zwischen grüneren und weniger grünen Farb­flecken. Oder: Wenn sie gleichzeitig eine verbale Aufgabe erledigen müssen, erschwert das den meisten Menschen, Objekte nach bestimmten Merkmalen zu gruppieren.

Aber die meisten Menschen sind eben nicht alle Menschen. Könnte es also sein, dass Sprache einigen Menschen hilft, Farben zu unterscheiden und Objekte zu kategorisieren, anderen aber nicht?

Ich fragte mich, ob dies ein weiterer versteckter Unterschied sein könnte, ähnlich wie bei der Aphantasie. Und begann, mich insbesondere mit der inneren Sprache zu befassen, von der wir lange Zeit annahmen, dass sie ein universelles Merkmal der menschlichen Erfahrung ist.

Die meisten Menschen geben an, eine innere Stimme zu haben. In einer unserer Untersuchungen stimmten 83 Prozent von gut 4000 Personen der Aussage zu: «Wenn ich lese, höre ich normalerweise eine Stimme in meinem Kopf.» 80 Prozent stimmen der Aussage zu: «Ich denke über Probleme in meinem Kopf in Form eines Gesprächs mit mir selbst nach.» Und 85 Prozent stimmen der Aussage zu: «Wenn ich über ein gesellschaftliches Problem nachdenke, spreche ich es oft im Kopf durch.»

Aber 85 Prozent sind nicht alle. Was ist mit denen, die diesen Aussagen nicht zustimmen? Einige von ihnen berichten, dass sie nur in bestimmten Situationen eine innere Stimme wahrnehmen. Beim Lesen beispielsweise sagen einige, dass sie eine Stimme nur dann hören, wenn sie bewusst langsamer werden oder etwas Schwieriges lesen. Und ein kleiner Prozent­satz (2 bis 5 Prozent) gibt an, überhaupt nie eine innere Stimme zu hören.

Wie Menschen mit Aphantasie, die ihr Leben lang davon ausgehen, dass visuelle Bilder nur eine Metapher sind, gehen auch Menschen mit Anendophasie – also einer fehlenden inneren Stimme – davon aus, dass die in Filmen so häufig vorkommenden inneren Monologe nur ein künstlerisches Hilfs­mittel sind und nicht etwas, was die Menschen tatsächlich erleben. Menschen mit Anendophasie berichten, dass sie nie vergangene Gespräche wiederholen und dass sie zwar eine Vorstellung davon haben, was sie sagen wollen, aber nicht wissen, welche Worte aus ihrem Mund kommen werden, bis sie zu sprechen beginnen.

Es ist naheliegend zu glauben, dass es einen Konflikt gibt zwischen dem Denken mit Sprache und dem Denken mit Bildern. Dazu passt die weitverbreitete Vorstellung, dass Menschen unterschiedliche «Lernstile» haben, wobei einige visuelle und andere verbale Lern­typen sind (was übrigens weitgehend falsch ist). Klar ist: In Bezug auf Bilder und innere Sprache gibt es eine leicht positive Korrelation zwischen der Lebendigkeit visueller Bilder und innerer Stimme. Das heisst, diejenigen, die angeben, mehr visuelle Bilder zu haben, berichten im Durchschnitt auch von einer ausgeprägteren inneren Stimme. Die meisten, die angeben, keine innere Stimme zu hören, berichten auch, weniger Bilder zu sehen.

Doch Unterschiede in der visuellen Vorstellung und der inneren Stimme sind nur die Spitze des Eisbergs. Es gibt weitere verborgene Unterschiede im Bereich der Synästhesie, griechisch für «gleichzeitige Empfindung», bei der Menschen Lichter hören oder Töne schmecken. Oder beim Eigengrau, dem «inneren Grau», das wir sehen, wenn wir unsere Augen schliessen. Nur sehen eben nicht alle von uns Eigengrau. Etwa 10 Prozent unserer Studien­teilnehmerinnen geben an, dass ihre Wahrnehmung nicht mit Eigengrau vergleichbar ist. Stattdessen berichten sie, dass sie, wenn sie die Augen schliessen, bunte Muster oder eine Art visuelles Rauschen sehen, wie bei einem analogen Fernseh­gerät, das nicht auf einen Kanal eingestellt ist.

Auch bei unserem Gedächtnis scheint es grössere Unterschiede zu geben als bisher angenommen. Im Jahr 2015 veröffentlichten die Psychologin Daniela Palombo und ihre Kollegen eine Arbeit, in der sie das «stark defizitäre auto­biografische Gedächtnis» beschrieben. Es führt dazu, dass eine Person vielleicht weiss, dass sie vor fünf Jahren eine Reise nach Italien unter­nommen hat, aber sie kann keinen Erlebnis­bericht abrufen: Sie kann also keine «mentale Zeitreise» unternehmen wie die meisten von uns. Auch den meisten dieser Menschen ist es nicht bewusst, dass sie ungewöhnlich sind. So ging Susie McKinnon, einer der ersten beschriebenen Fälle mit «stark defizitärem auto­biografischem Gedächtnis», immer davon aus, dass Menschen, die ausführliche Geschichten über ihre Vergangenheit erzählten, die Details erfanden, um andere zu unterhalten.

Selbst­einschätzung schlägt objektive Messung

Wieso sind wir uns der Unterschiede in unserer Vorstellungs­welt, inneren Sprache, Synästhesie und dem Gedächtnis nicht bewusst? Die offensichtlichste Antwort scheint: Weil wir sie nicht direkt beobachten können. Wir haben nur einen direkten Zugang zu unserer eigenen Realität – wie können wir wissen, was sich eine andere Person vorstellt, wenn sie an einen Apfel denkt, oder ob sie eine Stimme hört, wenn sie liest?

Trotzdem: Auch wenn wir die Realität einer anderen Person nicht direkt erleben können, so können wir doch Notizen vergleichen, indem wir über sie sprechen. Oft ist das erstaunlich einfach: Für #TheDress mussten wir uns nur gegenseitig fragen, welche Farben wir sehen. Wir können unser Gegenüber auch fragen, ob Buchstaben immer in Farbe erscheinen. Menschen ohne Vorstellungs­vermögen werden erklären, dass sie sich einen Apfel nicht vorstellen können, und Menschen ohne innere Sprache werden sagen, dass sie keine stummen Gespräche mit sich selbst führen. Eigentlich ist es nicht schwer, diese Unterschiede zu entdecken, wenn man sie erst einmal systematisch untersucht.

Sanne De Wilde/Noor Images

Zu den Bildern und zur Fotografin

Auf den mikronesischen Inseln Pingelap und Pohnpei leidet ein aussergewöhnlich hoher Prozentsatz der Einwohner an der seltenen Erbkrankheit Achromatopsie, eine Störung der Farb­wahrnehmung. Ende des 18. Jahrhunderts fegte ein katastrophaler Taifun über Pingelap hinweg, ein kleines Atoll im Pazifischen Ozean. Einer der Überlebenden, der König, war Träger des Achromatopsie-Gens. Durch seine zahlreichen Nachkommen wirkte sich im Laufe der Zeit die Erbkrankheit auf die isolierte Gemeinschaft aus.

Dieses Phänomen wurde erstmals von dem Neurologen und Schrift­steller Oliver Sacks in seinem Buch «Die Insel der Farbenblinden» beschrieben. Farbe ist für diejenigen, die sie nicht sehen können, nur ein Wort. Die Künstlerin und Fotografin Sanne De Wilde ist dem Phänomen fotografisch auf die Spur gegangen und experimentierte mit Schwarz-Weiss- und Infrarot-Fotografie, um sich metaphorisch vorzustellen, wie Menschen mit Achromatopsie die Welt sehen.

Doch etwas ist dabei paradox: So ist es zwar die Sprache, die es uns ermöglicht, unsere subjektiven Erfahrungen zu vergleichen und Unterschiede zu erkennen, doch kann ihre Abstraktions­kraft gleichzeitig dazu führen, dass wir diese Unterschiede übersehen, weil ein und dasselbe Wort viele verschiedene Dinge bedeuten kann. So verwenden wir das Wort «vorstellen», wenn wir uns ein Bild vor unserem geistigen Auge machen, aber wir verwenden es auch, wenn wir uns auf abstraktere Ereignisse wie die Vorstellung einer hypothetischen Zukunft beziehen. Es ist durchaus verständlich, dass ein Aphantasiker nicht weiss, dass Menschen in manchen Fällen tatsächlich mentale Bilder erzeugen, wenn sie sich «etwas vorstellen».

Das, was wir über versteckte Unterschiede wissen, beruht grössten­teils auf den Selbst­auskünften von Menschen. Wie sehr können wir darauf vertrauen? Die moderne Psychologie steht Selbst­berichten skeptisch gegenüber – eine Skepsis, die ich als Teil meiner akademischen Ausbildung geerbt habe. Entsprechend ungläubig reagieren viele auf aktuelle Berichte über grosse individuelle Unterschiede in der Vorstellungs­welt und der inneren Sprache. Woher wissen wir, dass diese Unterschiede etwas Reales widerspiegeln? Können wir die Menschen wirklich beim Wort nehmen, wenn sie sagen, dass sie keine innere Stimme haben?

Doch bevor wir uns der komplexeren Frage zuwenden, ob wir Selbst­berichten über innere subjektive Zustände vertrauen können, wollen wir ein paar einfachere Fälle betrachten. Wenn jemand sagt, dass er Blumen­kohl nicht mag, berichtet er über seine subjektive Erfahrung, und wir neigen dazu, ihn beim Wort zu nehmen. Wir könnten die Aussage aber auch mit einem relativ einfachen Experiment überprüfen, bei dem wir beobachten, wie wahrscheinlich es ist, dass die Person Blumen­kohl isst, wenn wir ihr Alternativen anbieten. Behauptet jemand, keinen Blumen­kohl zu mögen, isst ihn aber trotzdem bei jeder Gelegenheit, so stimmt etwas nicht.

Gelegentlich treten tatsächlich solche Diskrepanzen auf zwischen den angegebenen und den offenbarten Präferenzen. Viele Forscherinnen haben ihre Karriere darauf aufgebaut, dies zu untersuchen. Lebt man beispielsweise in einer Kultur, in der das Essen von Blumen­kohl mit einem höheren Status assoziiert wird, sagt man vielleicht, man möge Blumen­kohl, obwohl das nicht stimmt. Oder vielleicht isst jemand Blumen­kohl nur deshalb, um seinen Gastgeber nicht zu beleidigen. Trotzdem gilt unter normalen Umständen: Wer das Verhalten der Menschen verstehen will, ist nicht schlecht beraten, sie in Bezug auf ihre Vorlieben beim Wort zu nehmen.

Nehmen wir einen anderen Fall. Sie teilen Ihr Büro mit einem Kollegen, der sagt, er friere, wenn der Thermostat auf 22 Grad eingestellt ist. Nehmen Sie ihn beim Wort oder sagen Sie: «Aber 22 Grad ist die richtige Raum­temperatur, wie kannst du da frieren?» Nehmen wir an, Sie messen nun die Haut­temperatur und die Kern­temperatur Ihres Kollegen. Doch egal, was diese Messungen zeigen, sie würden Ihnen nicht die Behauptung erlauben, dass Ihr Büro­kollege keine Kälte empfindet. Denn wenn es darum geht, zu verstehen, was eine Person fühlt, schlägt die Selbst­einschätzung objektive Messungen.

Dieselbe Logik gilt für andere inhärent subjektive Zustände wie Einsamkeit oder Schmerz. Um Einsamkeit zu messen, reicht es nicht aus, zu zählen, mit wie vielen Menschen jemand befreundet ist. Denn was für die eine ein aktives Sozial­leben ist, kann für den anderen tiefe Einsamkeit bedeuten. Wenn wir feststellen wollen, ob es eine Grippe­epidemie gibt, können wir das mit objektiven Tests tun, aber um eine «Einsamkeits­epidemie» zu diagnostizieren, muss man wissen, ob sich die Menschen einsam fühlen.

Das Gleiche gilt für Schmerz: Denn obwohl wir alle möglichen Technologien haben, um den körperlichen Zustand von Menschen zu messen, müssen wir uns bei Schmerzen weiterhin auf Skalen verlassen, die sich auf Selbst­einschätzung stützen. Wenn wir also introspektive Beurteilungen ernst nehmen im Zusammen­hang mit Vorlieben, Emotionen und Schmerz, warum sollten wir dann skeptischer sein, wenn es um Unterschiede in der Wahrnehmung geht?

Eine mögliche Antwort ist: Weil wir in der Lage sind, zuverlässig über Schmerzen zu sprechen oder über die Frage, ob wir Blumen­kohl mögen, während in anderen Fällen unsere Selbst­einschätzung versagt. So halten sich beispielsweise die meisten Menschen für über­durchschnittlich gute Auto­fahrerinnen.

Doch manchmal unterschätzen wir uns auch: In einer Studie zum impliziten Lernen werden die Teilnehmer einer Abfolge von blinkenden Lichtern, Tönen oder Formen ausgesetzt, die einer bestimmten Regel folgen. Anschliessend müssen sie erkennen, ob neue Sequenzen derselben Regel folgen oder nicht. Die Teilnehmerinnen haben oft das Gefühl, nur zu raten, und denken, sie hätten nichts gelernt – auch dann, wenn sie weit über dem Zufalls­niveau liegen und wohl tatsächlich etwas gelernt haben.

Selbst in solchen Fällen ist die inkorrekte Selbst­einschätzung immer noch aufschlussreich: Denn sie gibt uns einen Einblick in die subjektive Realität der Person (sie glaubt, dass sie über­durchschnittlich gut fährt; sie denkt, dass sie nur rät, sie realisiert nicht, dass sie etwas gelernt hat). Gleichzeitig ist klar, dass diese Selbst­einschätzungen nicht die objektive Realität wider­spiegeln. Sie sind entsprechend schlechte Indikatoren, um zu bestimmen, was eine Person kann oder wahrscheinlich tun wird.

Sanne De Wilde/Noor Images

Interessant ist auch der Bereich der Träume. In einer Umfrage von 1958 gaben nur etwa 9 Prozent der Befragten an, dass ihre Träume Farbe enthielten. Andere Erhebungen, die zu dieser Zeit durch­geführt wurden, zeigten ähnliche Resultate. Ein Jahrzehnt später jedoch gab eine grosse Mehrheit an, in Farbe zu träumen. Der Philosoph Eric Schwitzgebel nennt mehrere mögliche Erklärungen für diese Diskrepanz. So könnten Schwarz­weiss­fotos und das Fernsehen den Inhalt der Träume verändert haben (in einigen Studien aus früheren Zeiten hatten die Menschen nicht angegeben, in Schwarzweiss zu träumen). Als sich das Farb­fernsehen durchsetzte, kehrte die Farbe in die Träume der Menschen zurück.

Das Problem mit dieser Erklärung ist, dass es keinen Grund gibt, warum das Fernsehen einen so grossen Einfluss auf die Phänomenologie unserer Träume haben sollte. Schliesslich hat die Welt nie aufgehört, in Farbe zu sein. Die Alternative, argumentiert Schwitzgebel, ist, dass «zumindest einige Menschen sich ziemlich stark in ihren Träumen irren müssen». Vielleicht können wir uns einfach nicht auf unsere Fähigkeit verlassen, über den wahrgenommenen Inhalt unserer Träume zu berichten. Und da wir keine objektiven Massstäbe haben, an denen wir den subjektiven Bericht messen können, können wir nicht wirklich wissen, ob diese Berichte irgendeine Realität wider­spiegeln, sei sie nun subjektiv oder nicht.

Warum sollten die Berichte der Menschen aus einer bestimmten Zeit dann überhaupt überein­stimmen? Vielleicht, weil die Menschen in Ermangelung eines guten Zugangs zu ihren Wahrnehmungen die Antwort geben, die sie für die vernünftigste halten. In den 1950er-Jahren war die vorherrschende populäre und wissenschaftliche Meinung, dass Träume keine Farben haben. Und so spiegelten die Teilnehmerinnen, wenn sie befragt wurden, diese Ansicht wider. Dasselbe geschah, als sich die vorherrschende Meinung später änderte. Keiner der beiden Fälle, so Schwitzgebel, spiegelt die «richtige» Phänomenologie wider, weil wir einfach keine ausreichende Introspektion haben, wenn es um die Farbe unserer Träume geht.

Keine blosse Einbildung

Wie valide Selbst­auskünfte sind, kann man auf verschiedene Weise überprüfen. Erstens ist dafür Konsistenz nötig. Wenn jemand an einem Tag behauptet, er höre ständig eine innere Stimme, und am nächsten Tag, er höre sie nie, haben wir ein Problem. Wie sich herausgestellt hat, sind die Berichte der Menschen allerdings sehr konsistent. Fragebögen zur inneren Stimme, die im Abstand von einigen Monaten ausgefüllt wurden, zeigen hohe Überein­stimmungen.

Wir können auch feststellen, ob Unterschiede in der berichteten Phänomenologie zu Unterschieden im objektiven Verhalten führen. Auf der Grundlage bestehender Theorien können wir spezifische Vorhersagen machen, wie sich mehr oder weniger innere Bilder und innere Sprache auf das Verhalten auswirken. So können sich Personen mit weniger innerer Sprache schwerer an Wortlisten erinnern, während Personen mit weniger visuellen Bildern über weniger visuelle Details berichten, wenn sie vergangene Ereignisse beschreiben.

Es gibt auch Berichte über Unterschiede bei eher automatischen physiologischen Reaktionen. Wenn mehr Licht in die Pupille eindringt, verengt sich diese. Aber auch die blosse Vorstellung von etwas Hellem wie der Sonne bewirkt eine geringere, aber immer noch messbare Verengung.

Während die Pupillen von Aphantasikern typisch auf tatsächliche Licht­veränderungen reagieren, verändern sich ihre Pupillen nicht bei imaginärem Licht. Gleichzeitig können viele der vermuteten Verhaltens­unterschiede nicht festgestellt werden, weil die Menschen offenbar kompensieren, indem sie beispielsweise Wege finden, sich an detaillierte visuelle Inhalte zu erinnern, ohne explizite Bilder zu verwenden.

Zudem: Wenn es sich bei den Unterschieden in den beschriebenen inneren Bildern um blosse Einbildungen handelte oder darum, dass die Menschen den Forscherinnen nur das erzählen, was sie glauben, dass diese hören wollen, liessen sich wohl auch keine Unterschiede bei Messungen im Hirn feststellen. Aber genau das ist der Fall.

In einer Untersuchung wurde das Gehirn von Personen untersucht, die als Aphantasiker und Hyper­phantasikerinnen (Personen mit besonders lebhaften visuellen Bildern) bezeichnet wurden. Als sie im Scanner lagen und auf ein Kreuz auf einem Bildschirm starrten, zeigten die Gehirn­reaktionen der hyper­phantasischen Gruppe im Vergleich zur aphantasischen Gruppe eine stärkere Vernetzung zwischen dem präfrontalen Kortex und dem visuellen Netzwerk. Die Teilnehmer wurden auch gebeten, sich verschiedene berühmte Personen und Orte anzusehen und vorzustellen. Der Unterschied in der Aktivierung zwischen Wahrnehmung und Vorstellung war bei hyper­phantasischen Teilnehmerinnen grösser als bei aphantasischen.

Andere Menschen verstehen

Und schliesslich können wir zwar nicht wissen, wie es ist, jemand anderes zu sein, aber wir können vergleichen, wie sich unsere Phänomenologie von einem Zeitpunkt zum anderen unterscheidet. So gibt es zahlreiche Berichte über Menschen mit Hirn­verletzungen, die ihre visuelle Vorstellungs­kraft verloren haben, und einige Fälle, in denen sie ihre innere Stimme verloren haben. Es spricht dafür, Selbst­berichte ernst zu nehmen, wenn Personen sagen, sie konnten sich früher Dinge vorstellen und jetzt nicht mehr – und diese Berichte durch deutliche Unterschiede im objektiven Verhalten bestätigt werden.

Als Cates Holderness damals #TheDress postete, schrieb sie dazu: «Das ist wichtig, weil ich glaube, dass ich verrückt werde.» Die Vorstellung, dass ein und dasselbe Bild für verschiedene Menschen unterschiedlich aussehen kann, ist beunruhigend, denn sie bedroht unsere Überzeugung, dass die Welt so ist, wie wir sie selbst erleben. Wenn eine Aphantasikerin erfährt, dass andere Menschen mentale Bilder erzeugen können, realisiert sie, dass etwas, von dem sie nicht einmal wusste, dass es möglich ist, für viele Menschen zur alltäglichen Realität gehört. Das ist erschütternd.

Und doch ist es sowohl aus wissenschaftlicher wie auch moralischer Sicht unerlässlich, dass wir die verschiedenen Formen unserer Phänomenologie kennen­lernen. In wissenschaftlicher Hinsicht verhindert es, dass wir behaupten, die Erfahrung der Mehrheit sei die Erfahrung aller. Moralisch gesehen ermutigt es uns, über den alten Rat «Erkenne dich selbst» hinaus­zugehen, der zu einer übersteigerten Innen­schau führen kann, und uns zu bemühen, andere zu verstehen. Und das setzt voraus, dass wir in Betracht ziehen, dass ihre Erfahrungen ganz anders sind als unsere eigenen.

Zum Autor

Gary Lupyan ist Professor für Psychologie an der Universität von Wisconsin-Madison in den USA, wo er die Auswirkungen von Sprache auf die Kognition erforscht. Dieser Essay erschien am 12. Dezember 2023 im Magazin «Aeon» unter dem Titel «What Colour Do You See?».

Unterstützen Sie unabhängigen Journalismus mit einem Monatsabonnement oder einer Jahresmitgliedschaft!