Wo Prostituierte sich in Slip und BH anpreisen
Sexarbeiterinnen im Rotlichtviertel in Amsterdam.
Quelle: Tom Sundermann
Amsterdam. An der Ziegelwand der Alten Kirche in Amsterdam trocknen die Urinflecken der letzten Nacht. Auf dem Bürgersteig davor liegen silberfarbene Fläschchen. „Das ist Lachgas“, sagt Theresa Huber, „davon kriegt man einen Kick, wird ganz entspannt, da läuft einem der Rotz aus der Nase“. Huber, 33, kommt aus München, lebt seit fünf Jahren in der niederländischen Hauptstadt und arbeitet als Stadtführerin. Sie kann die Spuren des wilden Lebens lesen: Touristen, Alkohol und Drogen, und vor allem Prostitution.
Der Bestseller ihres Unternehmens Amsterdamliebe ist eine Tour durch das Rotlichtviertel De Wallen in der Altstadt, wo Prostituierte in Slip und BH sich in Schaufenstern anpreisen. Amsterdam, das ist Europas größter Puff. In keiner anderen Stadt ist Prostitution so sichtbar, so stark verwurzelt und vor allem derart stark akzeptiert. Gut 500 Sexarbeiterinnen mieten sich in den 270 Fenstern ein, um dort auf eigene Rechnung zu arbeiten – legal und reguliert.
Huber läuft durch eine schmale Gasse, wo die Frauen direkt gegenüber der Alten Kirche stehen. „Alle denken, hier im Viertel gibt es nur Rotlicht – und dann ist da eine Kirche in der Mitte.“ In Zeiten der Seefahrt eine Notwendigkeit für gläubige Matrosen: erst Sex, dann beichten.
Heute sind moralische Schwierigkeiten überwunden – und neue dazugekommen: „Die Amsterdamer haben kein Problem mit der Prostitution, sondern mit ihren Folgen“, sagt Huber. In De Wallen tummelten sich bis vor einigen Jahren nachts nur Männer, häufig betrunken, „da war der Testosterongehalt zu hoch“. Gewalt war völlig normal. Anwohner und Prostituierte, die sich genervt fühlten, warfen Bierflaschen auf Touristen. Schwerstarbeit für die Polizei.
Der Kindergarten hat einen Augenscanner – zur Sicherheit
Dann entschloss sich die Politik zum Gegensteuern: Die Stadt kaufte Schaufenster von Eigentümern zurück und ließ sie leer stehen, um die Dichte an Prostituierten zu senken. Sie machte die Gegend für Normalbürger attraktiv. Seitdem gibt es einen Kindergarten in De Wallen – mitten zwischen den Fenstern, mit Augenscanner am Eingang, zur Sicherheit.
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Doch das größte Problem der Prostitution behebt der Wandel in Amsterdam nicht: Zwang. Etwa 80 Prozent der rund 25.000 Sexarbeiterinnen in den Niederland schaffen laut einer Regierungsstudie unfreiwillig an. Prostituierten-Organisationen kommen dagegen auf geringere Zahlen. Stadtführerin Huber wiederum sagt: „Hundert Prozent der Frauen sind gezwungen.“ Selten durch einen Zuhälter. Vielmehr durch Schulden, durch Verantwortung, etwa für ein Kind oder durch andere Umstände. Und im Rotlicht lockt schnelles Geld: Top- Verdienerinnen kommen auf Monatslöhne von 10.000 Euro, schätzt Huber.
Ziemlich ungewiss ist daher der Erfolg eines neuen Gesetzes zum Kampf gegen Zwangsprostitution. Seit drei Jahren sollen Freier in den Niederlanden zur Verantwortung gezogen werden. Verkehren sie mit einer Sexarbeiterin, bei der sie vermuten müssen, dass sie zur Arbeit gezwungen wird, müssen sie ihren Verdacht melden. Andernfalls drohen ihnen vier Jahre Gefängnis.
Warnhinweis im Rotlichtviertel: No Photos or Filming of the Sex Workers.
Quelle: Expedition EU
In der EU ist die Frage nach dem Umgang mit dem Gewerbe seit Langem ein Streitthema. 2014 hatte das Europäische Parlament empfohlen, Prostitution illegal zu machen. In einigen Ländern, darunter Schweden und Frankreich, machen sich Freier generell strafbar. Es ist ein schwieriges Ringen um den richtigen Weg: Soll die Prostitution in die Illegalität, aber damit auch aus dem Kontrollbereich der Behörden verschwinden? Oder soll sie wie in Holland oder Deutschland ein anmeldefähiges Gewerbe sein – mit dem Risiko, dass Menschenhändler wie seriöse Geschäftsleute auftreten können?
„Man braucht eine starke Persönlichkeit“
In Amsterdam sind die Regeln glasklar: Als Prostituierte dürfen nur Frauen arbeiten, die einen europäischen Pass und einen Gewerbeschein haben, das Mindestalter ist 21. Der Großteil stammt aus Bulgarien und Rumänien. Für sie sind die enormen Verdienstmöglichkeiten besonders attraktiv.
„Die meisten Frauen wissen, was sie tun – das ist aber nicht mit einem freien Willen zu verwechseln“, sagt Huber. Im Schnitt, schätzt sie, arbeiten Frauen fünf bis acht Jahre lang im Geschäft mit dem käuflichen Sex. „Man braucht eine starke Persönlichkeit, um das auszuhalten.“ Nicht jeder Kunde ist ein gepflegter Gentleman; zugedröhnte Freier können schon mal ausrasten. Sexarbeiterinnen, die dringend auf Geld angewiesen sind, können es sich nicht leisten, unsympathische Männer wegzuschicken. „Ich freue mich, wenn ich sehe, wie eine Frau einen Mann abweist. Das zeigt, dass sie nicht jeden nehmen muss“, sagt Huber.
Theresa Huber führt Touristen durch Amsterdam.
Quelle: Tom Sundermann
Eine kleine Statue an der Alten Kirche, genannt Belle, mahnt zu Respekt vor den Sexarbeiterinnen. Es ist ein Bekenntnis zu einem Phänomen, das fester Teil der Kultur Amsterdams ist. Zuletzt allerdings gab es im Stadtrat Anläufe, das Gewerbe vollständig zu verbieten. Stadtführerin Huber geht das dann doch zu weit: „Das ist die schönste Stadt der Welt“, sagt sie, „und Prostitution hat schon immer dazugehört“.
Von Tom Sundermann, Matthias Schwarzer und Joris Gräßlin/RND