Tierische Zuwanderung

Wenn das Wildschwein zum Stadtschwein wird: So verhalten Sie sich richtig

Wildschweine haben die Erfahrung gemacht, dass sich in Mülltonnen, Gärten und Komposthaufen jede Menge Essbares finden lässt.

Wildschweine haben die Erfahrung gemacht, dass sich in Mülltonnen, Gärten und Komposthaufen jede Menge Essbares finden lässt.

Berlin. In Berlin sperrt die Polizei in Berlin-Zehlendorf eine Straße ab, um eine Rotte von 30 Wildschweinen unfallfrei durch den Verkehr zu geleiten. In Köln buddeln die Tiere auf Friedhöfen nach Nahrung und zerstören dabei die Grabbepflanzungen. In Waren an der Müritz verschafft sich ein Wildschwein Zugang zu einem umzäunten Kita-Spielplatz. Das sind nur ein paar Beispiele, die zeigen, wie die Wildtiere mittlerweile ins Stadtbild gehören.

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230 Prozent Reproduktionsrate

Kommen tatsächlich immer mehr Wildscheine aus den Wäldern in die Stadt? „Nein“, sagt Torsten Reinwald. Der Sprecher und stellvertretende Geschäftsführer des Deutschen Jagdverbands e.V.(DJV) verweist auf eine Untersuchung des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin. „Es gibt Stadtschweine, Landschweine und einige Pendelschweine“, erklärt Reinwald die Situation, wie sie in zahlreichen Wohngebieten mittlerweile zu beobachten ist.

Die Population der Tiere sei insgesamt gestiegen, erklärt der Experte. „Die Winter sind mild – auch junge oder schwache Tiere überleben die kalte Jahreszeit oft problemlos. Außerdem gibt es überall reichlich Nahrung aufzuspüren.“ Die Reproduktionsrate liegt deshalb bei 230 Prozent – auch in den städtischen Regionen. So leben im Berliner Stadtgebiet derzeit mehrere tausend Wildschweine, 1800 haben Jäger im vergangenen Jahr erlegt.

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Veränderte Fluchtdistanz

Wildtiere in der Stadt: Seit Jahrzehnten besiedeln Fuchs, Hase, Waschbär und Co. urbane Räume in Deutschland. Im Unterschied zu den eher kleinen Tieren können Wildschweine für den Menschen gefährlich werden. „Das liegt an der veränderten Fluchtdistanz“, weiß Reinwald. „Im Wald halten die Wildschweine einen Abstand von rund 250 Metern, in der Stadt lassen sie die Menschen oft schon bis zu zehn Meter an sich ran“, so der DJV-Sprecher. „Hat aber die Bache gerade Frischlinge im Gebüsch, fühlt sie sich bedroht und greift unter Umständen dann auch an.“

Ein hausgemachtes Problem, meint Reinwald. „Vor allem, weil manche Leute die Wildscheine füttern, verlieren die Tiere die natürliche Scheu.“ Das sei ausdrücklich verboten! In Berlin zahle man dafür 5000 Euro Strafe. „Die Menschen müssen sich mit den Schwarzkitteln arrangieren“, mahnt der DJV-Sprecher. Sein genereller Verhaltenstipp: „Wildschweine haben immer Vorfahrt! Sie sollten sich nicht in die Enge getrieben fühlen, und der Hund sollte in ihrer Nähe unbedingt angeleint sein.“

Berlin vermarktet Wildschweinfleisch

Das Problem lässt sich nicht ohne Weiteres lösen: „Die Stadtschweine lassen sich nicht mehr vertreiben. Und abschießen darf man sie nur in Ausnahmefällen.“

Im Umland dagegen können die Jäger walten. Der Senat hat vor Kurzem bestätigt, dass im Durchschnitt pro Jahr 1800 Wildschweine in den Berliner Wäldern geschossen werden. Die Berliner Forsten nehmen demnach pro Jahr im Schnitt 105.000 Euro aus dem Verkauf des Wildfleisches ein. Abnehmer sind meistens Händler oder Restaurants.

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Die Zahlen für ganz Deutschland bestätigen den Trend: Nach Angaben vom DJV wurden im Jahr 2009/10 rund 440.300 Wildschweine erlegt, 2019/20 waren es mehr als 882.200.

„Wildschweine sind schlaue, clevere Tiere“, weiß René Sievert, Vorsitzender des Leipziger Naturschutzbundes (Nabu Leipzig). „Sie sind flexibel und anpassungsfähig, können sich problemlos neue, städtische Lebensräume erschließen“, sagt der Biologe.

„Das Problem sind nicht die Wildtiere, die in den bewohnten Gebieten leben, sondern deren veränderte Lebensräume“, betont Sievert. Vor allem die industrialisierte Landwirtschaft sowie der Klimawandel würden die Bedingungen folgenschwer beeinflussen.

„Eine gesunde Natur und auch eine Artenvielfalt kann nur erhalten werden, wenn die traditionelle Landwirtschaft unterstützt wird: kleine Felder, Vielfalt beim Anbau, auch mal Brachflächen zwischendrin“, erklärt der Fachmann, der den jüngsten EU-Beschluss kritisiert, überwiegend die Landwirte zu fördern, die große Flächen bewirtschaften.

Viel Nahrung für den Allesfresser

„Vor allem in den zahlreichen Maisfeldern im Speckgürtel der Städte finden Wildschweine ausreichend Nahrung“, sagt Sievert. Zudem würden die Kleingärten, die Rasen der Sportanlagen und die städtischen Parks den Allesfressern einen reich gedeckten Tisch bieten. „Dabei handelt es sich nicht um einzelne Tiere, die vorübergehend im städtischen Raum ihr Futter suchen, sondern um die Art, die sich wegen der Agrarwüste neu orientiert.“

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Nicht zuletzt habe die Corona-Pandemie das Leben der Wildtiere beeinflusst, so der Nabu-Experte. „Vor allem im ersten Lockdown hatten sich einige Verhaltensweisen geändert: Zum einen gab es weniger Verkehr und dadurch mehr Ruhe in den Städten. Zum anderen sind mehr Menschen in der nahen Natur unterwegs gewesen, statt in die Ferne zu reisen.“ So hätten also nicht die Tiere ihr Verhalten geändert, sondern die Menschen.

Stadtplanung anpassen

Wildtiere in der Stadt – ein Phänomen, das sich wohl nicht mehr zurückdrehen lässt. Die Lösung sei nicht, die neuen Bewohner zu erschießen, sagt Sievert. Der Biologe fordert, bei der Planung mehr Rücksicht zu nehmen. „Die Städte müssen entsprechend gestaltet werden. Die Tiere benötigen einen Lebensraum, in dem sie sich relativ ungestört bewegen können.“

Um die Wildschweine auf Distanz zu halten, sollten Kleingartenanlagen möglichst mit entsprechenden Zäunen gesichert werden. Diese sollten mindestens 1,50 Meter hoch sein, aber auch mindestens 40 Zentimeter tief in die Erde reichen, da die Tiere sonst den Zaun mit ihren kräftigen Rüsseln anheben. Generell gelte: „Wer Wildtiere in der Stadt füttert, hilft ihnen nicht, sondern verschärft nur das Problem!“

Wichtig zu wissen: „Wildschweine sind grundsätzlich nicht gefährlich. Sie greifen Menschen nicht an, wenn sie fliehen können. Daher ist es wichtig, den Tieren immer eine Rückzugs­möglichkeit zu geben“, sagt Sievert.

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Wie soll ich mich verhalten?

1. Bewahren Sie beim Zusammentreffen mit Wildschweinen Ruhe. Ziehen Sie sich langsam zurück und vermeiden Sie laute Geräusche und hektische Bewegungen.

2. Zu einem Muttertier mit Frischlingen sollten Sie einen großen Abstand halten. Nähern Sie sich auf keinen Fall dem Nachwuchs – so niedlich sie auch aussehen.

3. Nehmen Sie Ihren Hund an die Leine. Selbst ein großer, starker Hund ist einem Wildschwein immer unterlegen.

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