Schauplatz Messehalle: Ein Aufbau-Team soll mit einem Seilzug eine 200 Kilogramm schwere Traverse in die Höhe befördern. Um Zeit zu sparen, wurden keine technischen Schutzmaßnahmen ergriffen. Vielmehr wurden Sicherheitsmängel wissentlich übergangen.
Als die Traverse über den Köpfen der drei Mitarbeiter „schwebt“, rutscht sie plötzlich den Männern entgegen. Einer von ihnen hält das Teil, das sie erschlagen könnte, geistesgegenwärtig mit seiner rechten Hand auf. Es gelingt ihm zwar, die Traverse zu bremsen, doch er kugelt sich dabei den Mittelfinger aus – so schwer, dass eine monatelange Behandlung und Reha-Maßnahmen nötig sind. Doch auch danach kann der Betroffene seinen weiterhin leicht gekrümmten Finger nicht mehr so einsetzen wie zuvor.
(Not)Lügen aus Angst um den Job
Nach dem Unfall stellen die Mitarbeiter den Hergang so dar, dass der betroffene Kollege falsch gehandelt hat und somit selbst schuld an seiner Verletzung ist. Dieser lügt ebenfalls, weil er Konsequenzen des Arbeitgebers befürchtet, wenn er wahrheitsgemäß von den nicht erfolgten Schutzmaßnahmen berichten würde. Zumal ihm bewusst ist: Ohne Sicherung hätte er die Arbeit gar nicht aufnehmen dürfen, vielmehr hätte er die Sicherheitsmängel schon im Vorfeld melden müssen. Schon dies unterließ er jedoch aus Angst, seinen Job zu verlieren.
Generell haben Arbeitnehmende Bedenken, auf Missstände im Unternehmen hinzuweisen, denn dies wird ihnen nicht selten als „Anschwärzen“ und illoyales Verhalten ausgelegt. Aus diesem Grund waren die Kollegen des Unfallopfers auch nicht bereit, als Zeugen auszusagen. Sicherheitsbeauftragte waren nicht anwesend oder involviert. Er kann als Beispiel für viele andere dienen, denn immer wieder kommt es aufgrund von missachteten Schutzvorkehrungen und/oder bewusst falschem Verhalten zu Sach- oder Personenschäden in Betrieben. Doch wie ist es rechtlich zu bewerten, wenn Beschäftigte sich derart in der Bredouille befinden? Hätte der betroffene Mitarbeiter womöglich Schmerzensgeld einfordern können, weil er wegen der fehlenden Schutzmaßnahmen und offensichtlichen Sicherheitsmängel einen bleibenden Schaden am Finger erlitten hat?
Kein Anspruch auf Schmerzensgeld
„Wenn es wegen der Verletzung der Fürsorgepflicht oder einer Schutzvorschrift zu einem Arbeitsunfall kommt, besteht zunächst auch Versicherungsschutz gemäß § 8 SGB VII“, erläutert Fachanwältin Babette Kusche. „Ein Anspruch auf Ersatz des Personenschadens besteht darüber hinaus nicht.“ Der Grund dafür liegt in der sogenannten Haftungsprivilegierung für Personenschäden bei Arbeitsunfällen (§§ 104, 105 SGB VII). Im Klartext bedeutet dies, dass bei einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit nur gegenüber der zuständigen Berufsgenossenschaft Anspruch auf Heilbehandlung besteht. Anders verhält es sich allerdings, wenn der Arbeitgeber den Schaden vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt hat. Sofern dies nachgewiesen werden kann, drohen ihm erhebliche Konsequenzen.
Mögliche Folgen für Arbeitgeber
Arbeitgeber, die vorsätzlich oder grob fahrlässig handeln beziehungsweise erforderliche Handlungen zum Schutz ihrer Beschäftigten unterlassen und so einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit ihrer Beschäftigten herbeiführen, können von der Berufsgenossenschaft in Regress genommen werden. Sie müssen dann also Schadensersatz als Verursacher leisten.
Je nachdem, ob das Gericht Vorsatz oder Fahrlässigkeit feststellt, kann der Schaden unterschiedlich geregelt werden. Die Strafe fällt also mehr oder weniger hart aus. Bei Fahrlässigkeit wird das Urteil zudem nach dem Schweregrad gefällt. Doch wie unterscheiden sich Vorsatz und Fahrlässigkeit? Vorsatz liegt vor, wenn eine Person wissentlich und willentlich nicht nur einen Pflichtverstoß begangen, sondern dadurch auch wissentlich und willentlich einen Schaden herbeigeführt hat. Von Vorsatz ist in der Rechtsprechung also die Rede, wenn einer Person bewusst ist, dass sie eine Straftat begeht. Bezogen auf einen Arbeitsunfall bedeutet dies: Vorsatz besteht, wenn der Arbeitgeber den Unfall und die hierdurch entstandenen Folgen billigend in Kauf genommen hat. In dem realen Fall hätte der Arbeitgeber demnach den Unfall und die Verletzung des Verunfallten beabsichtigt oder zumindest wissentlich einkalkuliert. „Es genügt jedoch nicht, dass gegebenenfalls auch vorsätzlich Unfallverhütungsvorschriften missachtet wurden und der Unfall darauf zurückzuführen ist“, ergänzt die Juristin.
Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Arbeitgeber die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. So ist beispielsweise der Verstoß gegen Unfallverhütungsvorschriften, die Beschäftigte vor tödlichen Gefahren schützen, als schwer einzustufen. Bei Abstürzen von mehr als fünf Metern Höhe infolge ungenügender Sicherungen etwa ist also in der Regel grobe Fahrlässigkeit gegeben.
Treuepflicht der Arbeitnehmer
Aber dies alles hängt auch davon ab, wie sich im jeweiligen Fall involvierte Arbeitnehmer verhalten (haben): Wenn ein Arbeitnehmer einen Missstand erkennt – wie die fehlende Sicherung der Traverse in dem Unfallbeispiel –, ist er verpflichtet, den Arbeitgeber darüber in Kenntnis zu setzen. Grundlage dafür ist die sogenannte Treuepflicht des Arbeitnehmers, die ihm nebenvertraglich obliegt. Sie gilt für alle Beschäftigten.
Anonyme Meldung von Sicherheitsmängeln möglich
Damit das Melden von Missständen nicht aus Angst um den Arbeitsplatz unterbleibt, kann es auch anonym erfolgen. Dies ist insbesondere durch die seit Dezember 2019 in Kraft getretene EU-Richtlinie zum Schutz von Hinweisgebern (Whistleblowern) gewahrt. Mit der Richtlinie sollen Arbeitnehmer europaweit besser geschützt werden, wenn sie Missstände in öffentlichen Verwaltungen und Unternehmen aufdecken und beseitigen wollen. Auch nach § 17 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) haben Arbeitnehmer ein sogenanntes „Beschwerderecht“. Der Ablauf ist dort klar geregelt: Zunächst haben sich Betroffene intern an die zuständigen Personen wegen etwaiger Missstände zu wenden. Erst, wenn der Arbeitgeber trotz der Hinweise nicht tätig wird, darf der Arbeitnehmer die zuständige Arbeitsschutzbehörde einschalten. „Dasselbe Vorgehen kann man von Sicherheitsbeauftragten erwarten“, betont Roswitha Kranefuß.
Mögliche Folgen für Arbeitnehmer
Der betroffene Mitarbeiter hätte richtig gehandelt, wenn er auf die Sicherheitsmängel, konkret auf die fehlenden Sicherheitsvorkehrungen hingewiesen hätte. Er hätte darauf bestehen müssen, dass sie eingehalten werden, und andernfalls seine Arbeitsleistung verweigern können. Tut er dies nicht, kann er sogar selbst juristisch belangt werden: „Wenn er bewusst darauf verzichtet hat, könnte ihm sogar mehr als leichte Fahrlässigkeit vorgeworfen werden.“
Besonders heikel ist es, wenn es klare Anweisungen und Unterweisungen gegeben hat und der Arbeitgeber grundsätzlich auf die Einhaltung der Schutzmaßnahmen achtet. In solchen Fällen kann der Beschäftigte für die Schäden mit haftbar gemacht werden, sodass diese nicht von den Versicherungen getragen werden – oder zumindest nicht vollständig.
Wenn Arbeitnehmer einen Schaden verursachen
Dies gilt auch, wenn Arbeitnehmende durch Missachtung von Regeln einen Sachschaden verursachen. Ein Beispiel: Ein Arbeitnehmer schließt am Abend weisungswidrig die Firmeneingangstür nicht ordentlich ab. Ein Einbruch in dieser Gegend ist extrem unwahrscheinlich, da die Firma gegenüber einer Polizeiwache liegt. Trotzdem kommt es zum Einbruch durch unbekannte Täter. „In diesem Fall ändert weder die geringe Wahrscheinlichkeit eines Einbruchs noch die Tatsache, dass der Arbeitnehmer ja nicht der ‚wahre Schuldige‘ ist, etwas an der Kausalität zwischen dem Pflichtverstoß, also dem unzureichenden Abschließen, und dem Schaden, in diesem Fall dem Diebstahl von Firmeneigentum.“ Es geht hier also um Ursache und Wirkung: Hätte der Arbeitnehmer sich sorgfältig verhalten, wäre es nach dem Motto „Gelegenheit macht Diebe“ wohl nicht zu dem Einbruch gekommen. Wenn ihm gar Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit nachgewiesen werden kann, droht auch ein Strafverfahren. Je nach rechtlichem Verstoß und Schwere könnte dann eine Geld- oder Freiheitsstrafe verhängt werden.
Begrenzte Haftung
Arbeitnehmer haften aber nur begrenzt, wie folgendes Beispiel zeigt: Ein Arbeitnehmer fährt einen Lkw auf dem Firmengelände rückwärts an eine Laderampe, um ihn zu entladen. Es ist kurz vor Feierabend und für diese Aufgabe nur noch eine halbe Stunde Zeit. Das ist zu knapp; außerdem müsste noch ein Kollege zum Einweisen beim Zurücksetzen des Lkw anwesend sein. Trotzdem hat der Arbeitgeber dem Mitarbeiter die Weisung erteilt, den Lkw allein an die Rampe heranzufahren und zu entladen. Der Arbeitnehmer beeilt sich und stößt beim Zurücksetzen so heftig gegen die Laderampe, dass ein Teil der Ladung umstürzt und beschädigt wird. „Hier hat ein überwiegendes Mitverschulden des Arbeitgebers an der Entstehung des Schadens mitgewirkt, sodass die Haftung des Arbeitnehmers gemäß § 254 Abs. 1 BGB auf weniger als die Hälfte gemindert ist“, erklärt Babette Kusche.
Doch nicht nur das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) beschränkt die Haftung der Arbeitnehmer, sondern auch die Rechtsprechung, da man als Arbeitnehmer
- immer auf Anweisung des Arbeitgebers und in dessen Betrieb tätig wird, und
- oft keinen Einfluss auf die betrieblichen Abläufe und Gefahren hat, und
- in der Regel nicht in der Lage ist, mit seinem Arbeitsverdienst hohe Verluste bei betrieblichen Schadensfällen auszugleichen.
Doch Achtung: Dies gilt nur bei betrieblich veranlassten Tätigkeiten. Anders sieht es bei privaten Handlungen aus, wie das folgende Beispiel zeigt: Ein Arbeitnehmer besucht seinen Arbeitgeber in der Freizeit zu Hause. Da er mit seinem Fahrrad zu schnell in der Garageneinfahrt des Arbeitgebers einbiegt, verletzt er den dort liegenden Hund. „In diesem Fall muss der Arbeitnehmer nach den allgemeinen Vorschriften des Schadensersatzrechts für die Tierarztkosten aufkommen. Denn der Unfall hatte mit der Arbeit nichts zu tun“, verdeutlicht Babette Kusche.
Die Schweregrade von Fahrlässigkeit
- Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn jemand ganz naheliegende Sorgfaltsregeln außer Acht lässt. Von der Rechtsprechung entschiedene Fälle für diese Art von Fahrlässigkeit sind zum Beispiel im Straßenverkehr: Alkohol am Steuer, das Einfahren in eine Kreuzung bei roter Ampel oder das Telefonieren mit dem Mobiltelefon im Auto ohne Freisprechanlage.
- Wenn es keine Anhaltspunkte für grobe oder leichte Fahrlässigkeit gibt, dann ist von mittlerer Fahrlässigkeit auszugehen. Besondere Umstände des Einzelfalls können dabei zu einer Entlastung des Arbeitnehmers führen – unter anderem zum Beispiel der bisherige Verlauf des Arbeitsverhältnisses: Wie hat der Arbeitnehmer bisher gearbeitet?
- Die leichte Fahrlässigkeit ist ein Ausnahmefall. Hierbei kann dem Arbeitnehmer von vornherein nur ein ganz geringes Verschulden vorgeworfen werden. Leichte Fahrlässigkeit kommt zum Beispiel bei extremer Überforderung in Betracht, also etwa, wenn der Arbeitnehmer durch eine Anweisung des Arbeitgebers in eine Situation gebracht wurde, der er nach seiner bisherigen Arbeitserfahrung von vornherein nicht gewachsen war. In solchen Fällen ist eine Haftung des Arbeitnehmers vollständig ausgeschlossen. Solche Fälle kommen allerdings eher selten vor.
Korrektes Verhalten bei Sicherheitsmängeln
Hat der Arbeitgeber Schutzmaßnahmen nicht eingehalten, die Mitarbeitenden nicht entsprechend unterwiesen oder achtet er nicht auf die Einhaltung der Maßnahmen, verstößt er gegen seine Fürsorgepflichten. Er ist dann auch für die Folgen verantwortlich. Arbeitnehmer haben dann folgende Rechte:
- Recht auf Zurückbehaltung der Arbeitsleistung, wenn es sich um schwerwiegendere Verstöße gegen das Arbeitsschutzgesetz handelt. Es gilt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Je größer die potenzielle Gefährdung am Arbeitsplatz ist, desto eher besteht ein Zurückbehaltungsrecht an der Arbeitsleistung, bis der Missstand abgestellt ist.
- Klage auf Herstellung eines ordnungsgemäßen Zustands
- Anzeige bei der zuständigen Aufsichtsbehörde, aber erst nach internem Hinweis und Information des Arbeitgebers
- Inanspruchnahme des allgemeinen arbeitsschutzrechtlichen Entfernungsrechts bei unmittelbarer erheblicher Gefahr
Autorin:
Christine Lendt
Fachautorin und freie Journalistin