Von verzweifelt bis uneinsichtig

Der St. Galler Verkehrspsychologe Martin Keller hat ein gewichtiges Wort mitzureden beim Entscheid, ob jemand seinen Führerausweis zurückerhält oder nicht. «Das sind nicht einfach alles Unmenschen», sagt er über seine Verkehrssünder.

Daniel Walt
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Der St. Galler Verkehrspsychologe Martin Keller muss auch ältere Menschen bezüglich Fahrtüchtigkeit testen. (Bild: ky/ Ennio Leanza)

Der St. Galler Verkehrspsychologe Martin Keller muss auch ältere Menschen bezüglich Fahrtüchtigkeit testen. (Bild: ky/ Ennio Leanza)

ST. GALLEN. Die 85jährige Frau war verzweifelt. «Sie müssen mir das Autofahren erlauben, bis ich 100 bin!», sagte sie zu Verkehrspsychologe Martin Keller. Dieser beurteilte die Situation aber anders und empfahl dem Strassenverkehrsamt, der Seniorin die Fahrberechtigung nicht mehr zu erteilen. Für ihn durfte keine Rolle spielen, dass die Frau in einem abgelegenen Haus wohnte. «Die Sicherheit der Öffentlichkeit geht vor», sagt Keller.

Viele junge Lenker

In seiner Funktion als leitender Neuropsychologe an den Kliniken Valens hat es Martin Keller mit Menschen zu tun, die beispielsweise nach einem Schlaganfall die Fähigkeit zum Autofahren wieder neu erlernen müssen. Als freischaffender Verkehrspsychologe am Kantonsspital St. Gallen hingegen beurteilt er vornehmlich Menschen, die ein Suchtproblem haben. Oder dann weisen die Personen, die ihm von den Strassenverkehrsämtern geschickt werden, charakterliche Defizite auf. «Betroffen sind oftmals jüngere Lenker. Es kommt im Einzelfall aber auch vor, dass ein 50jähriger Unternehmer meint, auf der Autobahn so schnell fahren zu können, wie er will», sagt Martin Keller.

Leistung und Charakter testen

Wie rasch reagiert jemand? Wie ist es um seine Aufmerksamkeit bestellt? Und wie gut kann die Person den Überblick über eine Verkehrssituation behalten? – Diese und weitere Fragen stehen bei den Leistungstests im Zentrum, die Martin Keller mit Betroffenen an einem Monitor durchführt. Um den Charakter des Verkehrsteilnehmers hingegen geht es dann bei einem Fragebogen – die Themen reichen von Alkohol und Drogen am Steuer bis hin zu Tempoexzessen. «Bei der Auswertung erkennen wir, was jemand beispielsweise über die Wirkung von Betäubungsmitteln im Strassenverkehr weiss, und wie das eigene Risikoverhalten eingeschätzt wird», sagt Verkehrspsychologe Martin Keller. Basierend auf dem Leistungstest, dem Fragebogen und den Vergehen der jeweiligen Person auf der Strasse führt Martin Keller noch ein Interview durch. Er versucht herauszufinden, weshalb sich der Verkehrsteilnehmer falsch verhalten hat und wie es um seine Änderungsbereitschaft steht.

Viele negative Empfehlungen

Resultat der verkehrspsychologischen Untersuchung ist schliesslich der Antrag, den Martin Keller ans zuweisende Strassenverkehrsamt stellt: Ist der entsprechenden Person das Billett zurückzugeben oder nicht? «Eine verantwortungsvolle Aufgabe», ist sich der Verkehrspsychologe bewusst. In den meisten Fällen folgen die Strassenverkehrsämter Keller, wenn er empfiehlt, jemanden zu einem Gruppenkurs, zum Suchtberater oder zum Verkehrstherapeuten zu schicken, bevor eine Rückgabe des Führerscheins wieder in Frage kommt. Und Martin Keller muss oft so entscheiden: Bei rund zwei Dritteln all jener, deren Charakter er unter die Lupe nehmen muss, kann Keller keine sofortige Rückgabe des Billetts empfehlen.

Was wollen Sie eigentlich?

Gewisse Verkehrsteilnehmer seien ängstlich und wüssten nicht, was auf sie zukomme, sagt der St. Galler. Andere sind eher abwartend, aber freundlich. Und dann gibt es die Unbelehrbaren, die nicht verstehen, weshalb sie überhaupt zum Verkehrspsychologen müssen. «Was wollen Sie eigentlich? Ich bin doch normal!», bekomme er dann zu hören, so Martin Keller.

Wutausbrüche seien glücklicherweise sehr selten. Der Verkehrspsychologe erinnert sich an einen Fall: «Ein Mann war wegen eines Streits um einen Parkplatz absichtlich in ein anderes Auto gefahren.» Als Keller bei der Untersuchung bemerkte, dass der Mann immer aggressiver wurde, brach er das Gespräch ab. Was für den Richter dann Bände sprach.

Herzlich, aber hart

Ohne Führerausweis weniger Lohn und im schlimmsten Fall sogar der Jobverlust: Dieses Szenario kann Berufschauffeuren drohen. Kein Wunder also, dass Martin Keller im Rahmen der Untersuchungen immer wieder angefleht wird, ein positives Urteil über jemanden abzugeben. Oft komme einiges zusammen bei Menschen, die ein schweres Strassenverkehrsdelikt begangen hätten: Ärger im Job, Geldsorgen, teils auch Spannungen in der Familie. Das berührt Martin Keller durchaus – «denn das sind nicht einfach alles Unmenschen», sagt er. Beeinflussen lässt er sich davon aber genauso wenig wie von den Bitten der 85-Jährigen, die noch 15 Jahre weiterfahren wollte.