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Amanal Petros

Amanal Petros

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Matthias Hangst / Getty Images

Jan Göbel

Newsletter »SPIEGEL läuft« Amanal Petros ist der König der Langstrecke

Liebe Leserinnen, liebe Leser,


was verbindet Laufprofis mit uns Amateuren? Auf den ersten Blick wenig, trotzdem soll die neue Ausgabe unseres Lauf-Newsletters keineswegs abschreckend, eher anspornend wirken. Bei vielen Läufen stehen wir gemeinsam mit Berufssportlern und -sportlerinnen an der Startlinie. Sobald der Startschuss fällt, sehen wir nur noch den Schatten der Profis. Das ist auch in Ordnung so. Die einen verdienen damit ihr Geld, die anderen sollen Spaß haben.

Als ich im vergangenen Jahr beim Berlin-Marathon mitlief und mich bis Kilometer 30 vorgekämpft hatte, rief jemand von der Seite: »Eliud Kipchoge ist gerade Weltrekord gelaufen«. Kipchoge war wie ich in Berlin gelaufen und nur wenige Minuten vor mir gestartet, aber klar, als er im Ziel war und feiern konnte, begann für mich erst die richtige Marathon-Tortur. Stichwort: Mann mit dem Hammer. Am Ende trennten Kipchoge und mich knapp 90 Minuten.

Als Amateur sollte man sich zwar nicht mit den Profis und ihren Leistungen vergleichen, aber ich finde es motivierend zu sehen, was man erreichen kann, wenn man sich ganz dem Sport verschreibt. Bemerkenswert ist auch die Karriere von Amanal Petros. Der 27-Jährige ist einer der schnellsten deutschen Läufer und der König der Langstrecke. Er hält den deutschen Rekord im Marathon (2:06:27 Stunden), im Halbmarathon (1:00:09 Stunden) und seit Sonntag auch über zehn Kilometer auf der Straße (27:32 Minuten).

Zehn Kilometer in 27:32 Minuten – das ist ein Schnitt von 21,8 km/h, 2:45 Minuten pro Kilometer. Selbst als Radfahrer wäre es nicht leicht, hier mitzuhalten.

Vor knapp zehn Jahren hätte wohl kaum jemand mit einer solchen Karriere gerechnet. Damals, 2012, floh Petros aus Äthiopien nach Deutschland. Er war 16 Jahre alt, kam ohne Jacke, mitten im Winter und allein. Damit er schnell Anschluss fand, meldeten ihn seine damaligen Betreuer in einer Unterkunft für Geflüchtete in Bielefeld beim Fußball an. Das Kapitel war schnell wieder geschlossen. »Mit dem Ball konnte ich nichts anfangen«, sagt Petros dem SPIEGEL bei einem Interview Ende 2021. Aber auch beim Fußball fiel auf, wie beweglich er ist, wie schnell er laufen kann und wie unbeschwert er dabei wirkt.

Schon bald wurde Petros zum Läufer.

Petros hat sich dem Laufsport komplett verschrieben

Petros hat sich dem Laufsport komplett verschrieben

Foto: Roland Weihrauch / picture alliance/dpa

Bei einem Volkslauf über zehn Kilometer sollte er sich ausprobieren. Es war ein kleiner Straßenlauf ohne Profis in Espelkamp, eine Autostunde von Bielefeld entfernt. Die anderen Geflüchteten und alle Betreuer aus der Unterkunft waren gekommen, um ihn anzufeuern. Am Ende, nach 34:52 Minuten, fielen sich alle in die Arme: Petros hatte das Rennen gewonnen, mit eineinhalb Minuten Vorsprung, wie aus dem Nichts. Petros sagte dem SPIEGEL, dieses Wochenende sei das Schönste in seinem Leben gewesen.

Petros’ Leben in Deutschland war lange Zeit auch geprägt von der Angst um seine Familie, die noch in Äthiopien lebt und im dortigen Krieg um ihr Leben fürchten muss. Zum Zeitpunkt des SPIEGEL-Interviews hatte Petros über ein Jahr nichts von seiner Mutter und seinen Schwestern gehört. Anfang dieses Jahres berichtete Petros, dass er wieder Kontakt zu seiner Familie habe – Mutter und Schwestern seien am Leben.

In der aktuellen Ausgabe des SPIEGEL zeigen wir eine Grafik, die sich mit der Entwicklung der Rekordzeiten im Straßenlauf über zehn Kilometer beschäftigt. Petros mag jetzt der schnellste Läufer auf nationaler Ebene sein (und das ist eine beeindruckende Leistung), aber im internationalen Vergleich läuft er immer noch hinterher. Seine deutsche Rekordzeit von 27:32 Minuten hätte schon 1988 nicht mehr für den Weltrekord gereicht – vor 35 Jahren! Damals stellte der Kenianer John Ngugi mit 27:29 Minuten einen neuen Weltrekord über zehn Kilometer auf der Straße auf. Heute steht die Weltbestzeit bei 26:24 Minuten, gelaufen von Rhonex Kipruto aus Kenia im Jahr 2020.

Transparenzhinweis: Meine eigene Bestzeit über zehn Kilometer hätte nicht einmal für einen Weltrekord zu Beginn der Rekordaufzeichnung gereicht. Die erste offiziell registrierte Zehn-Kilometer-Bestzeit  geht auf den Briten William Howitt zurück, der 32:35 Minuten benötigt haben soll. Im Jahr 1847.

Für mich persönlich ist der Zehn-Kilometer-Lauf in einem richtigen Wettkampf die Königsdisziplin. In gewisser Weise finde ich ihn auch anstrengender als einen Marathon. Natürlich kann man das nicht wirklich vergleichen: Für zehn Kilometer braucht man weniger (oder andere) Vorbereitung als für 42,2 Kilometer, man kann die Strecke ohne Verpflegung laufen, überhaupt muss man sich um viel weniger kümmern. Aber zehn Kilometer laden im Wettkampf dazu ein, jeden einzelnen Meter so schnell wie möglich zu laufen, am Pulsanschlag, in die komplette Erschöpfung hinein. Einfach ballern! Beim Marathon klappt es mit der Vorschlaghammer-Strategie eher weniger. Wer hier zu früh ans Limit geht, verschießt sein Pulver.

Nach Verletzungsproblemen (Laufen trotz Knorpelschaden – geht das? Hier habe ich darüber geschrieben ) stand in dieser Woche seit Langem mal wieder ein Tempotraining über zehn Kilometer auf dem Programm. Und ich hatte direkt Angst vor der Belastung. Und war richtig froh, als es vorbei war. Und auch ein wenig glücklich, als mich am nächsten Morgen der Muskelkater in den Waden weckte. Und erleichtert, als es nur ein Muskelkater war und kein echter Schmerz. Es war ein gutes Gefühl und mein Laufmoment der Woche.

Welche Distanz bringt Ihre Gefühlswelt durcheinander? Viel Spaß beim Austesten!

Ihr Jan Göbel