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Aufstand in Auschwitz-Birkenau: "Wie bei einer Hasenjagd"

Foto: Str/ picture alliance / dpa

Aufstand in Auschwitz-Birkenau 1944 "Besser mit der Waffe in der Hand sterben, als in die Gaskammer geschmissen werden"

Mit Steinen, Äxten und selbst gebauten Granaten griffen am 7. Oktober 1944 jüdische Häftlinge SS-Männer in Auschwitz-Birkenau an. Die Erhebung scheiterte zwar. Dennoch machte sie Mut - und rettete Menschenleben.

Am 7. Oktober 1944 kurz nach 12 Uhr kommt SS-Unterscharführer Johann Gorges mit etwa 20 bewaffneten SS-Männern zum Krematorium 4 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.

Hier wohnen 325 Häftlinge des sogenannten Sonderkommandos, einer Sklavenarbeitertruppe aus griechischen, polnischen und ungarischen Juden, die Leichen aus den Gaskammern ziehen und in die Verbrennungsöfen schieben muss.

Gorges ruft die Häftlinge zum Appell auf den Hof, um den sich Stacheldraht zieht. Einer der SS-Männer geht eine Liste mit Häftlingsnummern durch. Die Aufgerufenen sollen auf die andere Seite des Hofes gehen. Angeblich benötigt die SS die Zwangsarbeiter in einer nahegelegenen Stadt, um Trümmer zu räumen.

Bei mehreren Nummern meldet sich niemand. Ein SS-Mann greift nach seiner Pistole. Da tritt der Häftling Chaim Neuhof hervor. "Mit dem Ruf 'Hurra' schlug er dem SS-Mann mit einem Hammer so auf den Kopf, dass er zu Boden geworfen wurde", berichtete der Gefangene Jehoshua Rosenblum später. Daraufhin werfen Häftlinge Steine auf die SS-Männer oder schlagen mit Äxten, Eisenstangen oder bloßen Fäusten auf sie ein, wie die Holocaustforscher Gideon Greif und Itamar Levin anhand von Zeitzeugenberichten und Akten rekonstruiert haben.

So beginnt am Mittag des 7. Oktober 1944 eine verzweifelte Rebellion, die ein Krematorium zerstören, einige Leben retten und vielen im Lager Mut machen wird: der Aufstand des Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau.

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Aufstand in Auschwitz-Birkenau: "Wie bei einer Hasenjagd"

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Die Erhebung war teils spontan, teils lange geplant. Schon Ende 1942, wenige Monate, nachdem die SS alle vier großen Krematorien in Betrieb genommen hatte, kontaktierten Häftlinge aus dem Sonderkommando die Widerstandsbewegung im Stammlager Auschwitz, in der sich hauptsächlich nichtjüdische politische Gefangene organisierten.

Man war sich einig, dass ein Aufstand oder eine Massenflucht nur bewaffnet gelingen könne. Um die einzelnen Lager zogen sich Wachtürme und Stacheldrahtzäune, die die Deutschen nachts und bei Alarm unter Strom setzten. Mehr als 3000 SS-Angehörige bewachten das Areal mit abgerichteten Hunden und Maschinengewehren.

Beide Widerstandsgruppen beschlossen, sich ruhig zu verhalten, den industriellen Massenmord zu dokumentieren, Berichte und Fotos zu vergraben oder in den Westen zu schmuggeln. Zusätzlich aber wollten sie sich bewaffnen.

Schwarzpulver im BH

Die Sonderkommando-Häftlinge sammelten Hämmer und Äxte aus Werkstätten im Lager, schliffen Messer, die sie bei Leichen fanden und die ursprünglich dazu gedacht waren, das Sabbatbrot zu schneiden. Da sie den Toten die Goldzähne herausbrechen mussten, konnten sie bisweilen etwas Edelmetall vor der SS verbergen. Dafür kauften sie über Mittelsmänner einige Pistolen bei polnischen Partisanen, die sich in den Wäldern versteckten. Ein paar Revolver bekamen die Häftlinge von Zwangsarbeitern, die abgeschossene alliierte Flugzeugwracks zerlegen mussten und in den Bruchteilen Waffen der Piloten fanden.

Auch die Zwangsarbeiterinnen einer Munitionsfabrik im Lager belieferten das Sonderkommando: In Stoffsäckchen unter ihren Büstenhaltern schmuggelten sie kleinste Mengen Schwarzpulver aus dem Produktionsraum. Dieses Pulver stopften die Häftlinge mit Nägeln und Stacheldrahtstücken in Konservendosen und brachten Fetzen von Wolldecken als Zündschnüre an.

Je näher die Rote Armee, desto größer die Gefahr

Im Frühsommer 1944 rückte die Rote Armee rasch nach Westen vor, im Juni befreite sie das Vernichtungslager Majdanek, 300 Kilometer östlich von Auschwitz. Für das Sonderkommando bedeutete der Vormarsch der Roten Armee jedoch erhöhte Lebensgefahr - mit der deutschen Front brach auch die Logistik des industriellen Massenmords zusammen: Je weniger Züge mit Juden nach Auschwitz kamen, desto weniger Zwangsarbeiter benötigte die SS in den Krematorien. Außerdem rechneten die Häftlinge damit, dass die SS alle Augenzeugen ihrer Verbrechen würde beseitigen wollen.

"Unsere Haare, unsere Zähne und unsere Aschen": 1946 hielt der Künstler und Auschwitz-Häftling David Olère die grauenvolle Tätigkeit des Sonderkommandos in dieser Tuschezeichnung fest.

"Unsere Haare, unsere Zähne und unsere Aschen": 1946 hielt der Künstler und Auschwitz-Häftling David Olère die grauenvolle Tätigkeit des Sonderkommandos in dieser Tuschezeichnung fest.

Foto: David Olere/ Collection Yad Vashem/ DPA

Das Sonderkommando drängte die Widerstandsbewegung der politischen Häftlinge, nun endlich loszuschlagen. Beide Gruppen verständigten sich auf einen gemeinsamen Plan: Erst sollten die Sonderkommando-Häftlinge SS-Wachmänner töten, ihre Uniformen anziehen, die SS-Einheiten von den Wachtürmen locken und ausschalten. Dann sollte auch der Rest des Widerstandes angreifen und ausbrechen. Geplant war der Angriff für einen Samstag im Juni 1944.

Doch die politischen Häftlinge sagten den Aufstand kurzfristig ab. Sie rechneten sich nur eine realistische Erfolgschance aus, wenn Sowjetpanzer und polnische Partisanen die Revolte unterstützten. "Wir konnten nicht teilnehmen, weil das, was für den Häftling in Birkenau die einzige Rettung darstellte, vielleicht für die anderen Selbstmord bedeutete", schrieb der österreichische Kommunist und Auschwitz-Häftling Bruno Baum später.

Die Sonderkommando-Häftlinge begriffen: Sie waren auf sich gestellt, ihren Aufstand bereiteten sie nun allein vor. "Wir beschlossen, dass der ganze Plan sich gelohnt hätte, wenn es auch nur einem einzigen Menschen gelingen sollte zu fliehen", berichtete Häftling Leon Cohen später, "wenn wir sterben müssten, dann sei es besser, in Ehren und mit der Waffe in der Hand zu sterben, als ehrlos in die Gaskammer geschmissen zu werden."

Leichenteile der Kameraden im Verbrennungsofen

Wie bedroht das Sonderkommando war, wurde spätestens am 23. September klar: Die SS sonderte mehr als zweihundert Häftlinge ab, angeblich zur Arbeit im Nebenlager Gleiwitz. Tatsächlich aber wurden sie in eine Desinfektionskammer im Hauptlager Auschwitz geführt und vergast. Um den Mord zu verheimlichen, verbrannten SS-Männer die Toten selbst.

Am nächsten Tag fand der Rest des Sonderkommandos jedoch Teile ihrer Kameraden in den Öfen des Krematoriums. Bei der nächsten Selektion, beschlossen die verbliebenen 663 Mitglieder, würden sie angreifen. Anfang Oktober war es so weit: Die SS befahl den Vorarbeitern des Sonderkommandos, eine Liste mit den Nummern von 300 Häftlingen anzufertigen, die ab dem kommenden Sonntag Trümmer räumen sollten - offensichtlich nur ein Vorwand, um sie heimlich zu ermorden.

Die vier Todesfabriken von Birkenau lagen im Abstand von mehreren Hundert Metern an unterschiedlichen Orten im Lager: Die Krematorien 2 und 3 im Südwesten, die Krematorien 4 und 5 im Nordwesten. Der Aufstand konnte nur gelingen, wenn er überall gleichzeitig begann. Die Gefangenen verabredeten sich, am Samstag, den 7. Oktober, beim Abendappell loszuschlagen.

Doch die SS machte den Plan zunichte: SS-Unterscharführer Gorges kam aus unklaren Gründen schon Samstagmittag, um die gelisteten Häftlinge aus den Krematorien 4 und 5 abzuholen.

"Wie bei einer Hasenjagd"

Und so begann die Rebellion mit dem Hammerschlag des Gefangenen Neuhof spontan und unkoordiniert. Viele Häftlinge hatten keine Waffen zur Hand. Einige von ihnen liefen in das Gebäude mit der Gaskammer und den Verbrennungsöfen, zündeten Strohmatratzen an, setzten das Gebäude in Flammen.

Nach der ersten Überraschung sammelte sich der SS-Trupp und zog sich schießend zum Hoftor zurück. Wenige Minuten später bremsten Lastwagen vor dem Hof. SS-Männer mit Stahlhelmen, kugelsicheren Westen und Maschinengewehren sprangen heraus und beschossen die Häftlinge durch den Stacheldraht hindurch. "Einer nach dem anderen fiel, wie bei einer Hasenjagd, getroffen zu Boden", erinnerte sich der Gefangene Filip Müller. Er selbst rannte zum brennenden Krematorium und versteckte sich in einem Kanal, der die Öfen mit dem Schornstein verband.

Einige Hundert Meter südlich hörten die Häftlinge aus Krematorium 2 die Schüsse, lockten einen SS-Mann ins Gebäude, warfen ihn in einen Ofen. Einige von ihnen rannten zu den Stacheldrahtzäunen, durchtrennten sie mit Zangen und flüchteten. Auf dem Weg schnitten sie ein Loch in den Zaun des benachbarten Frauenlagers. Sie gelangten bis zu einer Scheune nahe dem Lager.

Dort aber umstellte die SS die Häftlinge und eröffnete das Feuer. Die Gefangenen warfen ihre selbstgebauten Granaten. Doch gegen die Maschinengewehre der SS hatten die Flüchtenden keine Chance - alle wurden niedergemetzelt.

"Es waren Juden, die das vollbrachten"

Nach wenigen Stunden war der Aufstand des Sonderkommandos niedergeschlagen. 452 Häftlinge und drei SS-Männer waren tot. Wenige Wochen später hängte die SS auch vier Frauen aus der Munitionsfabrik, die Schwarzpulver herausgeschmuggelt hatten.

Doch der Aufstand rettete anderen das Leben. Die 17-jährige Jüdin Bella Fleischmann, die an jenem Mittag in Birkenau angekommen war und in die Gaskammer gehen sollte, nutzte die zwischenzeitliche Konfusion unter den SS-Männern und flüchtete zu einer anderen Häftlingsgruppe. Frieda Tennenbaum-Griesel, damals zehn Jahre alt, berichtete später, dass sie und ihre Mutter eigentlich zur Vernichtung vorgesehen waren. Dann aber habe die SS sie in eine andere Baracke getrieben. "In dieser Nacht wurde die Gaskammer gesprengt. Ich glaube, dass das der Grund war, warum wir nicht in die Gaskammer geschickt wurden."

Das Krematorium 4 brannte komplett nieder, beide Schornsteine fielen in sich zusammen. Die Ruine wurde zum Symbol, dass Widerstand möglich war. "An der Stelle, wo Millionen unschuldiger Opfer ermordet wurden, fielen durch die rächenden Hände von Häftlingen die ersten SS-Mörder", schrieb der jüdische Auschwitz-Häftling und Historiker Israel Gutman, "Und es waren Juden, die das vollbrachten."

Der österreichische Widerstandskämpfer Baum berichtete: "Viele Polen und Deutsche hatten bisher geglaubt, dass Juden nicht kämpfen können. Die Häftlinge des Sonderkommandos belehrten sie eines Besseren. So wurde das Blutopfer des Sonderkommandos ein starkes Band, das die internationale Lagersolidarität festigte."

Ende November 1944 stoppte die SS die Vergasungen und zwang das Sonderkommando, zwei der drei verbleibenden Krematorien abzureißen. Im dritten aber mussten Sonderkommando-Häftlinge weiter die Leichen jener KZ-Insassen verbrennen, die die SS durch Unterernährung, Zwangsarbeit oder Genickschüsse vernichtete. Am 26. Januar 1945 wurde auch dieses Krematorium gesprengt, um Spuren zu verwischen.

Einen Tag später befreite die Rote Armee Auschwitz. Von den 663 Sonderkommando-Männern, die den Aufstand gewagt hatten, überlebten etwa 80 den Holocaust.