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Boris Jelzin: Wasser predigen, Wodka trinken

Foto: Grigory Dukor / REUTERS

Boris Jelzins Aufstieg und Fall Kremlherr mit Theaterdonner

Vor genau 30 Jahren wurde Boris Jelzin zum ersten Präsidenten Russlands gewählt. Dann beerdigte er die Sowjetunion, gab Oligarchen die Wirtschaft zur Plünderung frei und trank viel zu viel.

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Sensationell wirkte die Wahl, die am 12. Juni 1991 auf dem Gebiet des heutigen Russland stattfand, auf den ersten Blick nicht. Noch war Russland als »Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik« (RSFSR) Teil der Sowjetunion.

Nur hier wurde ein Präsident gewählt – und erstmals seit 1917 hatten die Bürger die Wahl zwischen Kandidaten verschiedener Parteien. Den Sieg mit 57,3 Prozent der Stimmen errang Boris Jelzin. 16,9 Prozent erhielt der Kommunist Nikolai Ryschkow als sein stärkster Gegenkandidat, 7,8 Prozent der damals schon staatlich gelenkte Populist Wladimir Schirinowski, der sich als liberal präsentierte, noch nicht als Rechtsaußen. Charakteristisch und wegweisend für Russland: Keiner der Kandidaten kam aus den Reihen liberaler Dissidenten.

Jelzins Aufstieg leitete das Ende der Sowjetunion ein. Ein halbes Jahr später löste er die Sowjetunion auf, am 8. Dezember 1991 in einer Vereinbarung mit den Staatschefs der Ukraine und von Belarus, zu Weihnachten war das rote Riesenreich am Ende. Zuvor war er im August im Widerstand gegen einen Putsch von Sowjet-Nostalgikern zum Volkshelden vor allem junger Russen avanciert. Nun wurde Jelzin unumstrittener Herr im Kreml. Das neue Russland entstand.

Das Sowjetsystem hatte sich Ende der Achtzigerjahre im freien Fall befunden. Die Kommunistische Partei war weitgehend diskreditiert. Der letzte KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow erreichte Ende 1990 nur noch Zustimmungsraten um 20 Prozent. Immer mehr ähnelte er König Lear aus Shakespeares Tragödie: dazu gezwungen, als Herrscher abzudanken und sein Reich aufzuteilen.

Mit 60 zum Demokraten gewandelt

Die Wahl Jelzins offenbarte bereits ein politisches Kräfteverhältnis, das bis in die Gegenwart in Russland fortbesteht: Der Präsident hat eine dominierende Position. Ihm stehen als zahlenmäßig stärkste Oppositionsparteien die Kommunisten und die Schirinowski-Partei gegenüber.

Profiliert hatte Jelzin sich als Kämpfer für Freiheit und gegen das Machtmonopol der Kommunistischen Partei. Dabei war er zum bekennenden Demokraten erst kurz vor seinem 60. Geburtstag gereift und dann im Juli 1991 publikumswirksam aus der KPdSU ausgetreten – nachdem er in der Staatspartei 30 Jahre lang Karriere gemacht hatte.

Mit 45 Jahren war er 1976 zum Gebietsparteichef von Swerdlowsk am Ural aufgestiegen, fünf Jahre darauf zum Mitglied des Zentralkomitees. Im Oktober 1985, nach Gorbatschows Amtsantritt, wurde Jelzin Stadtparteichef von Moskau und Mitglied des Politbüros, des obersten Führungsgremiums der Partei. Doch mit Gorbatschow geriet er rasch in Streit über Führungsfragen und das Reformtempo. Daher verlor Jelzin nach zwei Jahren beide Posten.

Sein Wiederaufstieg begann 1989, als er bei halb-freien Wahlen ein Mandat für den Kongress der Volksdeputierten erhielt und im Mai in einer viel beachteten Rede das »administrative Weisungssystem« attackierte, das unter Gorbatschow »nicht gebrochen« worden sei. Jelzin geißelte »Schattenwirtschaft und Korruption« und mahnte: »Die sittlichen Grundpfeiler der Gesellschaft werden unterhöhlt.« Und er fragte die KPdSU-Führung: »Warum leben in unserem Land Dutzende Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze, während andere ein luxuriöses Leben führen?«

Trommler für »soziale Gerechtigkeit«

»Ich bin gegen jedwede Privilegien«, verkündete Jelzin kategorisch und fuhr demonstrativ mit öffentlichen Verkehrsmitteln. »Meine Gewissensfrage ist die der sozialen Gerechtigkeit«, sagte er in einem Interview mit der Zeitschrift »Teatralnaja Shisn« (Theaterleben). Das Medium passte zum Inhalt: Denn sehr bald zeigte sich, dass Jelzins Gerechtigkeitspredigten kaum mehr als Theaterdonner waren.

1990 warf er Gorbatschow im französischen Fernsehen vor, er schwelge in »Zarenreichtum« mit »vier Datschen«, gebaut »vom Geld des Volkes«. In der TV-Debatte entgegnete der exilierte Dissident Alexander Sinowjew, dass jede Gesellschaft Hierarchien und somit auch Privilegien kenne. Jelzin verstehe offensichtlich die Gesellschaft nicht, in der er lebe, sagte Sinowjew und gab eine düstere Prognose: Die neuen Parteien in der sowjetischen Gesellschaft würden »zur politischen Mafia werden«. Und Jelzin werde »die Krankheit nur verstärken«.

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Boris Jelzin: Wasser predigen, Wodka trinken

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Bald darauf begann unter Jelzin die Privatisierung der bis dahin staatlichen Wirtschaft, die »Privatisazija«.

Im Volk nannte man sie auch »Prichwatisazija« – räuberische Aneignung. Denn unter wohlklingenden Worten von Einführung der Marktwirtschaft gab Jelzin das ökonomische Potenzial des weltgrößten Flächenlandes zur Plünderung frei.

Freie Bahn für Kleptokraten

Dabei wirkten Synergieeffekte von Staatsbeamten und werdenden Gaunern, darunter auch Funktionären des Kommunistischen Jugendverbands. Im Ergebnis entstand eine schmale Schicht von Milliardären. Der obszöne Reichtum dieser »Oligarchen« ließ die Privilegien früherer Parteiführer bald lächerlich erscheinen – die hatten ihre Datschen vom Staat nur gemietet.

Jelzins populäre Parolen gegen »Privilegien« erwiesen sich als Rauchvorhang; dahinter vollzog sich die größte Umverteilung von Reichtum in der Geschichte Russlands. Der von Jelzin versprochene »garantierte Schutz der Bevölkerung gegen eine Senkung des Lebensniveaus« war ein ungedeckter Scheck. Ab 1991 rutschte Russland in einen sozial ungebremsten Räuberkapitalismus.

Mehr und mehr flüchtete Jelzin sich in den Alkohol und war bei öffentlichen Auftritten oft mit schwerer Zunge zu hören. Er erwies sich binnen zehn Jahren als der zweite Suchtkranke an der Spitze des Staates, nach dem tablettenabhängigen Leonid Breschnew. Auch das spiegelte den Zustand der orientierungslosen russischen Gesellschaft wider.

Bisweilen ermahnte Jelzin die superreichen Oligarchen bei Begegnungen im Kreml vor laufenden Kameras, doch bitte im Lande zu investieren. Im Volk hinterließen solche hilflosen Gesten einen niederschmetternden Eindruck. Bettelnde Rentnerinnen und ärmliche Arbeitslose in abgetragener Kleidung bevölkerten Russlands Städte in den frühen Neunzigerjahren.

Alter Apparat nur leicht geschmiert

Das trug nicht zur Festigung friedlicher und demokratischer Verhältnisse bei. Bald wurde Jelzin weithin zu einer verhassten Figur. Kaum zwei Jahre nach seiner Wahl ließ er im Oktober 1993 das von seinem Stellvertreter Alexander Ruzkoi geführte Parlament mit Panzern beschießen. Im Dezember 1994 befahl Jelzin seinen Truppen den Einmarsch in die aufständische Teilrepublik Tschetschenien im Nordkaukasus. Die Folge waren etwa 80.000 Tote.

Den verlustreichen Krieg gegen militante Separatisten verlor Jelzin, zog seine Armee im Sommer 1996 aus Tschetschenien ab und verlor damit die Kontrolle über ein Gebiet von der Größe Thüringens.

Seine Wiederwahl im Juni 1996 erreichte Jelzin mit massiver Manipulation der Staatsmedien und mit Wahlfälschung. Nur so konnte er den Sieg des kommunistischen Gegenkandidaten Gennadij Sjuganow verhindern, der offiziell 40,3 Prozent der Stimmen erhielt.

Schon bei der Wahl im Juni 1991 hatte Jelzin im Gebiet Swerdlowsk, wo er einst KP-Chef war, verdächtige 84,8 Prozent eingesammelt. Das »Zeichnen« genehmer Wahlergebnisse, ein Erbübel aus der Sowjetära, erwies sich als hartnäckige Gewohnheit der bürokratischen Macht: In der Präsidentenadministration wie auch in den Provinzverwaltungen hatte der neue Staatschef große Teile des alten Apparates übernommen und nur leicht mit liberalem Öl geschmiert.

Kohl sah Korruption als Kavaliersdelikt

Jelzin, der Bürokratiegegner aus dem bürokratischen Apparat, mutierte vom Volkstribun zum Zarendarsteller. Dabei erwies er sich, wie Menschen aus seiner Umgebung es schildern, als ein tief zerrissener Mann, der sich in seiner Alkoholkrankheit verlor.

Bevor er der erste Präsident Russlands wurde, hatte Jelzin der Korruption den Kampf angesagt. In seiner Amtszeit erreichte sie neue Ausmaße. Dieses schwere Erbe hinterließ er Wladimir Putin , den er im August 1999 zum Premierminister ernannte. Zur Jahreswende 1999/2000 trat Jelzin zurück, gesundheitlich angeschlagen und politisch diskreditiert. So stieg Putin verfassungsgemäß zum amtierenden Präsidenten auf und gewann im März 2000 die Wahl.

Im Westen sah man Jelzin, der 2007 starb, lange als alternativlos. Er sei »der einzige, der die physische und moralische Kraft hat, dieses kaum vorstellbare Wagnis zu unternehmen«, erklärte Bundeskanzler Helmut Kohl im Januar 1993 im CDU-Bundesvorstand und meinte den beispiellosen Systemwandel in Russland. Bald darauf sagt Kohl, der mit Jelzin demonstrativ eine »Sauna-Freundschaft« inszenierte: »Jede denkbare Alternative bedeutet mit Sicherheit einen Rückschritt mit Konsequenzen negativer Art.«

Dass Jelzin sich fast ein Jahrzehnt an der Macht halten konnte, auch mit Krediten aus dem Westen, verdankte er weniger seinen Wählern als Politikern im Westen. Sie fürchteten, Russland könne ohne ihn abdriften in Chaos, Bürgerkrieg und Diktatur.