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Günter Wallraff "Ganz unten": Undercover bei Thyssen und McDonald's

Wallraffs Skandal-Reportage "Ganz unten" "Ausländer sucht Drecksarbeit, auch für wenig Geld"

Rassismus, Ausbeutung, Gesundheitsschäden: Als Türke Ali erlebte Günter Wallraff die finstersten Seiten der deutschen Arbeitswelt. 30 Jahre später erinnert er sich, wie knapp er oft der Enttarnung entging.

einestages: Herr Wallraff, Ihr 1985 erschienener Undercover-Erlebnisbericht "Ganz unten" gilt als erfolgreichstes bundesdeutsches Sachbuch. Wie lange haben Sie sich auf die Rolle des Türken Ali vorbereitet, in die Sie für die Recherche schlüpften?

Wallraff: Ich hatte bereits über zehn Jahre zuvor die ersten Versuche als türkischer Arbeiter unternommen. Es wurden schon Fernsehaufnahmen von der Verkleidung und der Arbeitssuche gemacht. Aber ich bin am Intensivkurs Türkisch gescheitert. Ich war schon in der Schule ein Versager bei Fremdsprachen.

einestages: Das Sprachproblem haben Sie mit einer Legende umschifft.

Wallraff: Ich gab an, dass mein Vater türkischer Kurde sei und meine Mutter Griechin, dass ich aber mit ihr allein in Griechenland aufgewachsen sei und kein Türkisch spreche.

einestages: Und das ging gut?

Wallraff: Zum Glück hatte ich bei Thyssen, auf Baustellen und bei McDonald's keine griechischen Kollegen. Als trotzdem einmal einer misstrauisch wurde und mich aufforderte: "Sprich doch mal Griechisch!", kamen mir meine rudimentären Altgriechisch-Schulkenntnisse zugute. So konnte ich den Anfang der "Odyssee" von Homer aufsagen. Man lernt doch nie umsonst im Leben!

einestages: Sie gaben anfangs eine Kleinanzeige auf - "Ausländer, kräftig, sucht Arbeit, egal was, auch Schwerst- u. Drecksarbeit, auch für wenig Geld". Welche Jobs wurden Ihnen angeboten?

Wallraff: Zunächst habe ich in Köln einen Reitstall renoviert, dann in Niedersachsen auf einem Bauernhof geschuftet, als Knecht, der keine Rechte hatte. Dann als illegaler Bauarbeiter auf einer Großbaustelle für Luxuswohnungen in Köln. Ich hatte mich auch in den Jurid-Werken bei Hamburg beworben, weil ich gehört hatte, dass dort Türken angeblich ohne Masken im Asbeststaub arbeiteten. Den Job habe ich zum Glück nicht bekommen. Sonst würde ich heute vielleicht nicht mehr leben.

einestages: Sie waren über 40 Jahre alt, aber haben sich als 28 ausgegeben. Wie ging das denn?

Wallraff: Die Firmen wollten nur die Jungen, Unverbrauchten. Ich war durch Ausdauer- und Krafttraining gut vorbereitet und lief Marathon in 2 Stunden 50. Nach den Dauereinsätzen bei Thyssen hatte ich schwere Bronchien- und Bandscheibenprobleme, und ich war froh, noch 20 Minuten am Stück laufen zu können.

einestages: Was wollten Sie mit "Ganz unten" zeigen?

Wallraff: Es ging mir um Aufklärung über die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Türken in Deutschland. Ich wollte den brutalen Rassismus zeigen, mit denen Türken damals konfrontiert waren. Die gängigen Bezeichnungen waren: "Kümmeltürken", "Knoblauchfresser", "Kameltreiber", "Kanaken". Und ich wollte aus meinem Leben ausbrechen und ein ganz anderer werden.

einestages: Zweieinhalb Jahre lang haben Sie so recherchiert. Hat Sie in der ganzen Zeit nie jemand enttarnt?

Wallraff: Ein junger türkischer Arbeiter bei Thyssen, Orhan Türk, hat gemerkt, dass ich heimlich filme. Der dachte, ich arbeite für eine türkische Organisation, und flüsterte, auf meine Arbeitstasche zeigend: "Mit oder ohne Ton?" Ich bat ihn inständig zu schweigen. Und das hat er auch getan.

einestages: Unter welchen Bedingungen haben Sie bei Thyssen gearbeitet?

Wallraff: Die Arbeiten waren mit solchen Gesundheitsbelastungen verbunden, dass sie den Stammbelegschaften nicht zugemutet wurden. Nach wenigen Jahren waren die meisten verschlissen, litten an Atem- und Lungenbeschwerden. Ich war Leiharbeiter. Unsere Chefs, die Menschenhändler, bekamen von Thyssen ein Vielfaches von dem, was sie uns zahlten. Wenn sie überhaupt zahlten. 6 bis 8 D-Mark brutto die Stunde waren so der Schnitt. Der niedrige Lohn ließ sich durch Überstunden mit Doppelschichten von bis zu 16 Stunden am Stück etwas kompensieren.

einestages: Was waren die schlimmsten Momente in Ihrer Zeit als Ali?

Wallraff: Etwa, als wir in Doppelschichten bei Thyssen in enge Schächte geschickt wurden, um mit Pressluftgeräten die Anlage freizukriegen, die voll von giftigen Stäuben und Ölen war. Wir schluckten und rotzten, wurden ständig angetrieben. Trotz der Giftstäube erhielten wir weder Atemmasken noch Schutzkleidung.

einestages: Sie hatten keine Arbeitskleidung?

Wallraff: Nein. Wir bekamen auch keine Schutzhelme. Nachdem ich mir einen Helm gekauft hatte, sagte mir eines Morgens der Vorarbeiter: "Der deutsche Kollege hat seinen Helm vergessen. Du ihm Helm geben." Als ich widersprach, befahl er: "Du ihm geben, sonst du entlassen auf der Stelle."

einestages: Haben Sie sich je gefragt, ob es das noch wert ist?

Wallraff: Es war ein Selbstexperiment. Ich war dann der Türke Ali, und der konnte nicht einfach hinschmeißen. Außerdem hätte ich das als Feigheit und als Verrat an meinen Kollegen empfunden, die nicht einfach so aussteigen konnten.

einestages: Als "Ganz unten" erschien, kamen drei Druckereien nicht mit dem Nachdrucken hinterher, es gab Raubdrucke. Warum verkaufte sich das Buch so gut?

Wallraff: Es ist ein erfühltes, erlittenes Buch und gleichzeitig auch ein Sachbuch. Das, was den Ali ausmacht, ist ein Stück von mir. Ali steht im Spannungsfeld zwischen verschiedenen Kulturen, er träumt etwas vorweg, die Verständigung und Versöhnung unterschiedlicher Kulturen und Nationalitäten.

einestages: Die betroffenen Firmen waren sicher weniger versöhnlich gestimmt. Wie haben die reagiert?

Wallraff: Juristisch. Zunächst wurde ein kleiner Bauunternehmer vorgeschoben, aber der scheiterte, das Buch vom Markt zu klagen. Auch McDonald's ging vor Gericht. Etlichen Kunden war der Appetit nach den Schilderungen in meinem Buch gehörig vergangen: Das Klo in der Filiale war verstopft, da wurdest du mit dem Schaber vom Royal-Grill zum Klo geschickt und musstest das wieder gängig machen. Und dann zurück zum Royal-Grill. McDonald's hatte einen erheblichen Umsatzrückgang. Leider nicht, weil die Kunden sich über die miesen Arbeitsbedingungen empört haben, sondern wegen der mangelnden Hygiene. Das war ein Schlag in den Magen.

einestages: Hatte McDonald's vor Gericht Erfolg?

Wallraff: Ich hatte über Annoncen Dutzende von neuen Zeugen gefunden und schon einen Bus gemietet, um die nach München zum Prozess zu bringen. Da befürchtete das McDonald's-Management, mit der Klage zu scheitern, und zog sie zurück. Es hatte aber einen unerwarteten Effekt: "Ganz unten" ist in 38 Sprachen erschienen, zuletzt in Koreanisch, aber nie in den USA. Dort hatte ein Verlag eine Option, aber der wollte von Kiepenheuer & Witsch schadfrei gegen alle Klagen von McDonald's gestellt werden. Das Risiko konnten wir nicht eingehen, da es in den USA schnell um Millionenbeträge geht.

einestages: Von Ihren Erlebnissen als Ali hatten Sie heimlich auch Videos aufgenommen. Dokumentarfilmer Jörg Gförer machte daraus einen Film, aber der wurde in der ARD nie gezeigt. Warum?

Wallraff: Bayern und die CDU-regierten Länder verhinderten die Ausstrahlung, selbst in den Dritten Programmen. Er lief nur im Regionalprogramm von Radio Bremen und im Kino - bis nach drei Monaten der Verleih so unter Druck gesetzt wurde, dass er den Film zurückzog. Das holländische Fernsehen sendete ihn mit deutschen Untertiteln, damit wenigstens die deutschen Grenzbewohner ihn zu sehen bekamen.

einestages: Was hat "Ganz unten" verändert?

Wallraff: Es hat unmittelbare Wirkung gehabt, zunächst an den Tatorten. Wir haben mit Kollegen bei Thyssen eine Protestaktion im Personalbüro durchgeführt und gefordert, dass die Leiharbeiter fest eingestellt werden. Das ist gelungen. Thyssen wurde zu einem Bußgeld von über einer Million Mark verurteilt. Es gab fortan keine Dauerschichten mehr, dafür Staubmasken und Schutzhelme sowie ein Dutzend neuer Sicherheitsingenieure.

einestages: Wie hat die Politik reagiert?

Wallraff: Nordrhein-Westfalens Sozialminister Hermann Heinemann hat sich mehrfach mit mir getroffen, eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, intern die "Ali-Gruppe" genannt, ein mobiles Einsatzkommando, das Konzernen auf die Finger schaute. Und: Es gab eine enorme Hinwendung von Deutschen zu ihren türkischen Kollegen und Nachbarn.

einestages: Ließe sich heute mit einem neuen "Ganz unten" eine vergleichbare Wirkung erzielen? Oder sind die Menschen abgestumpft?

Wallraff: Wenn du Missstände sinnlich erfahrbar machen kannst, glaube ich schon. Jemand, der sich über zwei Jahre lang in die Welt der Billigjobs und der Ausbeutung begibt und das subjektiv aufschreibt, könnte eine ähnliche Wirkung erzielen. Eigentlich müsste alle paar Jahre so ein "Schwarzbuch" erscheinen, denn was seinerzeit die türkischen Arbeiter erlitten haben, betrifft heute die Arbeitsbedingungen zum Beispiel der Rumänen und Bulgaren - und demnächst wohl auch der neuen Flüchtlinge.

Zur Person
Foto:

Jörg Carstensen/ DPA

Der am 1. Oktober 1942 in Burscheid geborene Journalist Günter Wallraff gilt als Wegbereiter der Undercover-Reportage. Nach einer Ausbildung zum Buchhändler veröffentlichte Wallraff ab 1963 verschiedene verdeckt recherchierte Erlebnis- und Enthüllungsberichte aus der deutschen Arbeitswelt in Büchern wie den »Industriereportagen« (1963), »Der Aufmacher – Der Mann, der bei ›Bild‹ Hans Esser war« (1977) oder »Ganz unten« (1985). Für seine Reportagen nahm Wallraff regelmäßig falsche Identitäten an – etwa als Obdachloser, als Chemiefabrikant, als NPD-Spitzel oder, in »Ganz unten«, als türkischstämmiger Arbeiter Ali. Seiner Vorgehensweise wurden im Schwedischen (»wallraffa«) und Norwegischen (»wallraffe«) eigene Verben gewidmet. Heute lebt und arbeitet Günter Wallraff in Köln.

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