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Gino Bartali: "Radelnder Oskar Schindler"

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Radelnder Judenretter Gino Bartali Waden aus Stahl, Herz aus Gold

Der Sieger des Giro d'Italia 2018 steht schon fest: Radsportlegende Gino Bartali. Ihm zu Ehren wird das Rennen am 4. Mai in Jerusalem starten. Im Krieg rettete Bartali Hunderte Juden - als Fahrradkurier des Widerstands.

Florenz - Assisi - Genua - Rom. Mal sind es 100 Kilometer am Tag, mal 200 oder 300. Kreuz und quer durch Mittelitalien, über staubige Schotterstraßen und wellige Hügel jagt er dahin, der Mann mit der knolligen Nase und dem grünen Legnano-Fahrrad. Den Namen auf seinem Trikot kennt jedes Kind in Italien: Gino Bartali, großer Champion, Doppelsieger des Giro d'Italia, König der Tour de France.

1943/44 steckt die Welt mitten im Krieg - und was macht Bartali? Er radelt. Lange schöpft niemand Verdacht: Ein Spitzensportler muss sich auch in Kriegszeiten fit halten. Doch Bartali trainiert nicht. Er riskiert sein Leben als Kurier einer katholischen Widerstandsgruppe.

Der fromme Radchampion, seit 1937 Laienbruder im Karmeliterorden, transportiert gefälschte Ausweise und andere Dokumente durch Italien. Sie verhelfen Juden zu einer neuen Identität, zur Flucht. Die Papiere hat Bartali penibel eingerollt und mal im Sattelrohr, mal im Lenker versteckt. Ein Postino im Dienste der Menschlichkeit.

Geschätzt mindestens 800 Juden rettete Bartali, von italienischen Medien "radelnder Oskar Schindler" getauft, vor Deportation und Ermordung. "Als gläubiger Katholik hat Opa keine Sekunde lang gezögert, Menschen in Not zu helfen", sagt Gioia Bartali, 46, im einestages-Gespräch. Sie ist das älteste Enkelkind der im Jahr 2000 verstorbenen Radsportlegende.

"Gewisse Medaillen heftet man sich nicht an die Jacke"

Der berühmte Großvater vererbte ihr nicht nur sein Haus, er machte ihr auch vor, worauf es ankomme im Leben: Demut, Aufrichtigkeit, Bescheidenheit. "Gewisse Medaillen heftet man sich nicht an die Jacke, sondern an die Seele", habe er ihr eingeschärft.

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Gino Bartali: "Radelnder Oskar Schindler"

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Was Opa genau damit meinte, wusste Gioia als Kind nicht. Denn Gino Bartali sprach nie darüber, was er während des Zweiten Weltkrieges für die Juden getan hatte. Nicht einmal seine Ehefrau Adriana hatte er eingeweiht, als er im Herbst 1943 spätabends einen rätselhaften Anruf von Kardinal Elia Dalla Costa bekam. Der Erzbischof von Florenz, ein guter Freund der Familie, bat um ein Treffen. Es sei dringend.

Schon ab November 1938 erließ Benito Mussolini "Rassengesetze", die Juden in Italien systematisch entrechten sollten. Der "Duce" wollte gleichziehen mit der Menschenverachtung seines Bündnispartners Hitler. Italienische Juden wurden fortan ausgegrenzt, jedoch nicht deportiert.

1943 änderte sich ihre Situation grundlegend: Im Juli wurde Mussolini gestürzt, die "Achse Berlin-Rom" zerbrach, im September erklärte Italiens Regierung einen Waffenstillstand mit den Alliierten. Die Wehrmacht besetzte Mittel- und Norditalien - ab sofort wurden Juden systematisch gejagt und in Konzentrationslager verschleppt, rund 9000 fielen dem Mordprogramm der Deutschen zum Opfer.

Mit Passfotos und falschen Ausweisen durch die Toskana

Das einzige, was half zu überleben, war eine neue, nicht-jüdische Identität. Neue Papiere ermöglichten eine Flucht ins Ausland oder ins von den Alliierten befreite Süditalien. Hier kam Bartali ins Spiel: Kardinal Dalla Costa, führender Kopf im katholischen Widerstand, übertrug ihm die Aufgabe, Passfotos, gefälschte Ausweise, Passagierscheine durch die von der Wehrmacht besetzte Toskana zu transportieren.

Der perfekte Job für Bartali, der wegen seines zu langsam schlagenden Herzens vom Kriegsdienst befreit war. Er kannte die Region gut, war als Radprofi zu prominent, um ständig kontrolliert zu werden. Seine Hauptroute: Florenz - Assisi. Mindestens 40 Mal klopfte Bartali an der Pforte des Klosters San Quirico, eines Zentrums der geistlichen Resistenza.

Direkt neben dem Kloster fertigte Drucker Luigi Brizi nachts heimlich die neuen Ausweise. "Um den Krach zu übertönen, den die Druckerpresse machte, öffneten die Ordensschwestern die Fenster und sangen die ganze Nacht", erzählt Bartalis Enkelin Gioia.

Bartali beließ es nicht beim Kurierdienst im Untergrund. Er versteckte auch die jüdische Familie Goldenberg im Keller seines Hauses in Florenz und brachte Flüchtlinge auf Schleichwegen über den Appenin in Sicherheit.

Verhört vom "italienischen Himmler"

Trotz seiner Berühmtheit: Unantastbar war auch Bartali nicht. Mehrmals rettete er sich vor Schüssen durch Sprünge in den Straßengraben und landete dabei einmal in einem Misthaufen. Als ein Streckenposten partout den Sattel seines Rennrads abschrauben wollte, redete Bartali so lange auf den Mann ein, bis der schließlich aufgab.

"Radelnder Mönch": Bartali 1946

"Radelnder Mönch": Bartali 1946

Foto: Keystone/ Getty Images

Im Juli 1944 wäre der antifaschistische Fahrradkurier beinah aufgeflogen: Ihn bestellte Mario Carità ein, als "italienischer Himmler" für seine Brutalität gefürchtet. Der Faschist warf Bartali vor, dem Vatikan Waffen geliefert zu haben. Drei Tage wurde der Spitzensportler in der Villa Triste in Florenz festgehalten, wo Caritàs Schergen Gefangene aufs Grausamste folterten. Bartali kam frei, weil ein Carità-Mitarbeiter sich für ihn einsetzte.

Kurz nachdem 1945 endlich die Waffen schwiegen, wurde Bartali 31 Jahre alt. Der Krieg hatte ihm die besten Sportlerjahre geraubt. Freunde wie Feinde begannen, ihn einen "alten Kauz" zu nennen, schrieb Bartali 1979 in seiner Autobiografie. Unbeeindruckt schwang er sich aufs Rad, gewann 1946 erneut den Giro d'Italia und zwei Jahre später die Tour de France - mit bereits 34 Jahren.

Der "alte Kauz" einte das Land

Der Legende nach soll Bartalis Überraschungssieg 1948 sogar einen Bürgerkrieg abgewendet haben: Nach einem Attentat auf Kommunistenchef Palmiero Togliatti befand sich das Land in Aufruhr. Erst die Nachricht von Bartalis Tour-Triumph befriedete die zürnenden Arbeiter und ließ die Menschen feiern, statt sich zu bekriegen.

"Ihr sollt trampeln wie Bartali, um ins Himmelreich zu kommen", predigte Papst Pius XII. den Italienern. Der "alte Kauz" avancierte zum Retter der Nation, eine Lichtgestalt auf zwei Rädern. Selbst mit Ende 30 gewann er noch Rennen - etwa den Giro del Piemonte:

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1954 überließ Bartali das Feld seinem ewigen Rivalen Fausto Coppi und verabschiedete sich aus dem Radsport. Nach geschätzten 600.000 Kilometern - 15 Mal um die Erde.

Auch nach dem Karriereende schwieg Bartali beharrlich über seine Rolle im katholischen Widerstand; vergeblich sucht man danach in seiner Autobiografie. "'Gutes tut man und spricht nicht darüber', sagte mein Opa immer", so Enkelin Gioia. Und erzählt, wie wütend Bartali 1985 über "Assisi Underground" war, einen Film zu den Resistenza-Aktivitäten der Geistlichen von Assisi und auch zu Bartalis Rolle: "Er war außer sich, wollte den Regisseur verklagen."

Erster Giro-Start außerhalb Europas

Erst nach Bartalis Tod im Jahr 2000 kam sein antifaschistisches Engagement ans Licht: Als einzig Eingeweihter kämpfte sein Sohn Andrea jahrelang dafür, dass Gino Bartali von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als "Gerechter unter den Völkern" geehrt wurde. Weil er nie über seine Aktivitäten gesprochen hatte, fehlten die nötigen Beweise Überlebender, das Verfahren zog sich hin.

2010 meldete sich auf einen Aufruf hin Giorgio Goldenberg, der sich einst mit seiner Familie in Bartalis Keller verstecken konnte. Weitere Zeitzeugen äußerten sich - vor fünf Jahren wurde dem Radrennfahrer endlich die Yad-Vashem-Auszeichnung zuteil.

Erneut gewürdigt wird Bartalis Mut nun während des Giro d'Italia: Die Italienrundfahrt beginnt am 4. Mai mit einem Einzelzeitfahren in Jerusalem - und damit zum ersten Mal außerhalb Europas. Enkelin Gioia wird dort sein, an ihren Großvater erinnern und gegen Antisemitismus eintreten. Ein Theaterstück mit dem Titel "Bartali, Champion und Held" wird uraufgeführt, ein Radweg nach ihm benannt.

Ob Gino der ganze Rummel um seine Person gefallen hätte? "Sicher nicht", sagt Gioia Bartali und lacht. "Er hätte abgewinkt und gebrummt: 'Ich habe doch gar nichts Besonderes gemacht. Nur das, was ich am besten konnte: Fahrrad fahren'."