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Massaker von Sharpeville: "Sie krepierten unter den Schüssen und Tritten"

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Massaker von Sharpeville "Sie krepierten unter den Schüssen und Tritten"

Dieses Blutbad wurde für Südafrika zur Zäsur: Im März 1960 erschossen Polizisten in Sharpeville hinterrücks 69 Schwarze. Das Massaker entsetzte die Welt, isolierte Südafrika und trieb Nelson Mandela in den Untergrund. Björn Pätzoldt traf fünf Jahre danach vor Ort einen Zeugen des Dramas.

Am 21. März 1960 ließen Zehntausende schwarze Südafrikaner absichtlich ihre Ausweise zu Hause und marschierten zu den Polizeistationen des Landes, um sich wegen Verstoßes gegen das rigide Passgesetz verhaften zu lassen. Doch in Sharpeville bei Johannesburg eröffneten Polizisten das Feuer und töteten 69 schwarze Demonstranten, rund 180 Menschen wurden verletzt.

Nach dem Massaker von Sharpeville wurde Südafrika zum Austritt aus dem britischen Commonwealth gezwungen. Der Burenstaat rief sich zur Republik Südafrika aus und verbot die führenden Schwarzenorganisationen PAC und ANC. Deren Führer um Nelson Mandela sahen daraufhin keine Alternative mehr als den gewaltsamen Kampf gegen das Apartheid-Regime.

Heute ist der 21. März in Südafrika nationaler Gedenktag für Menschenrechte. Die Vereinten Nationen erklärten das Datum schon 1966 zum Internationalen Tag gegen Rassismus.

"Wie komme ich nach Sharpeville?" Ich konnte diesen Ort auf keiner Landkarte finden. Also fragte ich mich durch. "Da kommst du überhaupt nicht hin. Für Weiße verboten", hieß es. "Aber du kannst ja nach Vereeniging fahren und von dort weiter nach Vanderbijlpark. Auf halber Strecke steigst du dann einfach bei Sharpeville aus." Ich nahm diesen Rat dankend an und stellte mich an den Straßenrand. Mit ausgestrecktem Arm und winkender Hand versuchte ich, eines der vorbeirauschenden Autos anzuhalten.

Ich hatte auf meiner Reise durch das südliche Afrika bereits einiges gesehen: Kapstadt und die Kalahari, Windhoek und Ovamboland, Pretoria, Johannesburg. Was die Rassentrennung betraf, war ich aber stets ein Zuschauer geblieben, der nur die Oberfläche sah. Was es wirklich bedeutete, ein Leben lang als minderwertig betrachtet zu werden, konnte ich noch nicht nachempfinden. Deshalb wollte ich nach Sharpeville. Dorthin, wo fünf Jahre zuvor, im März 1960, ein Massaker an Schwarzafrikanern stattgefunden hatte, das blutige Geschichte schrieb.

Bald nahm mich ein Bure mit. Er wirkte freundlich und sah nicht aus wie ein Rassist. Nur beiläufig sprach er abfällig über die "Kaffern". In Vereeniging verabschiedete ich mich und stieg bei einem Engländer ein, der mich bis nach Vanderbijlpark mitnehmen sollte. Er bezeichnete sich selbst als Liberalen. "Nigger" würde er nie über die "Blackies" sagen, meinte er. Sie seien ja auch irgendwie Menschen.

"Is this Sharpeville?"

Als ich auf halber Strecke durch das Seitenfenster in einiger Entfernung eine Ansiedlung sah, fragte ich: "Ist das dort Sharpeville?" Der Engländer bejahte meine Frage. Also begann ich fieberhaft darüber nachzudenken, wie ich den Wagen zum Stehen bekommen könnte. "Ich muss mal", war das Beste, was mir einfiel. "Ich auch!", sagte der Engländer und hielt seinen Wagen an. Wir stiegen beide aus. Während der Engländer tat, was er tun musste, öffnete ich die hintere Wagentür, ergriff mein Gepäck vom Rücksitz, dankte und verabschiedete mich.

Der Engländer stand breitbeinig am Straßenrand mit geöffnetem Hosenschlitz und schaute mir verblüfft nach. Ich fragte einen Passanten: "Is this Sharpeville?" Er bejahte meine Frage. Als ich ihn aber auf das Massaker ansprach, verstummte er plötzlich und betrachtete mich voller Argwohn. Ganz offensichtlich überlegte er, wer ich war und was ich mit meiner Frage bezweckte. Nach ein paar Minuten des Schweigens und Grübelns sagte er: "Warten Sie hier, ich hole unseren Sprecher!"

Ich blieb stehen und wartete. Schließlich kam ein Mann, offensichtlich eine Autorität am Ort, und fragte mich misstrauisch, was ich hier wolle. Ich sei Student und Journalist, behauptete ich, und würde gern mehr über das Massaker erfahren. "Warum und wogegen demonstrierten die Menschen damals?" Der Mann beäugte mich in meinen kurzen Hosen und mit dem Tornister auf dem Rücken, als wolle er mich auf die Probe stellen. Dann sah er mir direkt in die Augen, so als könne er darin lesen, was ich wirklich vorhatte. Ich schaute so schuldlos wie möglich zurück. Ohne dem Blick des anderen auszuweichen, verharrten wir für einen Moment. Kein Wort fiel und keine Geste. Stille.

"Gefangene im eigenen Land"

Schließlich kam der Mann, ein Bantu, wohl zu der Einsicht, dass ich harmlos sei. Er nahm mich beiseite und sagte: "Nimm Platz! Die Welt muss erfahren, was damals passiert ist." Wir setzten uns beide auf den sandigen Boden und er begann zu erzählen, was am 21. März 1960 in Sharpeville geschehen war. "Wir hatten hier vor fünf Jahren eine große Demonstration. Mehr als 20.000 Menschen waren gekommen, aus allen möglichen Homelands. Sie kamen ohne Ausweispapiere, um friedlich gegen die Passgesetze zu protestieren. Wir wollten erreichen, dass wir uns frei im Land bewegen konnten."

"Passgesetze? Was haben die für eine Bedeutung?", fragte ich nach. Statt zu antworten fragte er mich: "Woher kommst du?" Ich antwortete: "Aus Deutschland." "Und was machst du hier?", wollte er wissen. "Ich reise durch Afrika", gab ich zurück. "Und, kannst du dich hier frei bewegen?" In diesem Moment leuchtete etwas in seinen Augen auf, was mich dazu brachte, ihm den Kapstadt-Zwischenfall zu verschweigen, der mir eine Festnahme eingebracht hatte, weil ich mich verbotenerweise tagelang in Bonteheuwel, einem schwarzen Vorort Kapstadts, aufgehalten hatte. Für Weiße gab es damals keinen Zutritt, aber dort lebte ein Freund, den ich als Deckhand auf einem Frachter nach Afrika kennengelernt hatte. Es schien mir in diesem Moment nicht angemessen, davon zu erzählen. Also antwortete ich: "Ja."

"Du kommst aus einem fernen Kontinent und kannst hier frei reisen", erwiderte mein Gesprächspartner. "Wir aber sind Gefangene im eigenen Land. Wir müssen uns registrieren und klassifizieren lassen. Herkunft und Körpermerkmale, Farbe und Struktur der Haare, Lippen und Fingernägel - alles wird fein säuberlich dokumentiert. Sogar unsere Gewohnheiten werden unter die Lupe genommen und unsere Aussprache überprüft. Dann werden wir Reservaten zugeordnet. Sie haben uns zwangsumgesiedelt, um die verschiedenen Rassen voneinander zu trennen. Wir dürfen mit Angehörigen anderer Rassen keine Ehe eingehen, sogar Sex mit ihnen ist uns verboten."

Drei Mann sind ein Aufruhr

"Und was ist mit Sharpeville?", hakte ich nach. "Ein Township, eine künstlich geschaffene Stadt für Arbeiter, die man in diesen Gebieten benötigt", sagte der Bantu. "Aber hier wohnen wir nur und leben nicht. Unsere Familien sind in den 'Bantustans', wie sie die Reservate nennen. Die kommen da nicht raus und wir nicht hinein. Und aus Sharpeville hinaus dürfen wir auch nur zur Arbeit in den Bergwerken. Wir müssen ständig ein Passbuch bei uns tragen. Darin steht nicht nur unser Name und wie viel Steuern wir zahlen. Dort ist auch verzeichnet, ob wir eine Aufenthaltsgenehmigung haben. Die bekommt aber nur, wer in einem begrenzten Gebiet Arbeit hat."

Mein Gegenüber machte eine kurze Pause. "Wir werden ständig kontrolliert", fuhr er schließlich fort. "Wer unerlaubt im Freien außerhalb seines Homelands aufgegriffen wird, muss mit Verhaftung rechnen. Die Verfahren wegen Verstoßes gegen die Passgesetze gehen in die Millionen! Viele, die sich dagegen wehrten, erhielten Hausarrest und durften nicht mit mehr als einer Person als Begleitung angetroffen werden. Stell dir mal vor: Drei Menschen nebeneinander gelten schon als aufrührerische Versammlung!"

Dagegen also hatten die Männer und Frauen hier vor fünf Jahren demonstriert. Die Befreiungsbewegung Pan African Congress hatte dazu aufgerufen - und wurde noch im gleichen Jahr verboten, genauso wie der African National Congress von Nelson Mandela, der 1964 wegen Hochverrats zu lebenslanger Haft auf der Gefängnisinsel Robben Island verurteilt wurde. "Und wie ist die Demonstration ausgegangen?", wollte ich wissen.

Schüsse in die Menge

"Die Polizei hat wild in die Menge geschossen und Hunderte der Flüchtenden hinterrücks getötet und verletzt", erzählte mein Gesprächspartner, dem die Erinnerung daran offensichtlich hart ankam. "Ein Massaker! Grauenvolle Bilder. Schreie. Es war absolut chaotisch. Verwundete wälzten sich im Sand, der sich mit ihrem Blut vermischte. Andere rannten in Panik davon und trampelten über die Opfer am Boden. Sie krepierten unter den Schüssen und Tritten. Zwanzigtausend von uns wurden verhaftet. Tage danach war das ganze Land in Aufruhr, Massenproteste und Streiks. Seitdem agiert der Widerstand im Untergrund."

Plötzlich verstummte der Bantu. Wortlos strich er sich über eine große Narbe am Bauch. Er schien mich nicht mehr wahrzunehmen. Seine Augen wurden leer und sein Blick wanderte versonnen zum Himmel. Er begann mit tiefer Stimme, eine Melodie erst zu summen, dann ein Lied anzustimmen. Auf isiXhosa, der Sprache des Volkes von Nelson Mandela, sang er "Nkosi Sikelel' iAfrika" - Herr, segne Afrika.

Der Verleger und Politologe Björn Pätzoldt, Jahrgang 1944, heuerte nach dem Abitur als Deckhand auf einem südafrikanischen Frachter an und bereiste anschließend per Anhalter Afrika. Dieser Text ist ein leicht überarbeiteter Auszug aus seinem Buch "Draußen ist Freiheit. Eine deutsche Nachkriegsbiographie" (Deutsche Literaturgesellschaft, Berlin 2009)

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