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Kriegsende 1945: Das Meer als Braut

Foto: ullstein bild

Kriegsende 1945 Polens Vermählung mit dem Meer

Doppelhochzeit: Gleich zweimal "heirateten" die Polen das Meer. 1920 und 1945 bekräftigte die polnische Nation symbolisch ihren Anspruch auf die Ostseeküste. Und ein junger Soldat nahm ein ganzes Meer zur Braut.

Das Denkmal steht direkt an der Strandpromenade im polnischen Kolobrzeg, die im Sommer von einer dichten Touristenmasse bevölkert ist. Und doch steht es irgendwie abseits. Kaum jemand macht ein Foto davon oder liest die Tafel mit der Inschrift. Vielleicht liegt es daran, dass das Denkmal am Waldrand im Schatten der Bäume steht. Ein Schatten, den keiner der Sonnenhungrigen haben möchte.

Oder daran, dass die Geschichte Kolobrzegs, zu Deutsch: Kolberg, eine Geschichte des Krieges ist. 1807 hatte Napoleon Bonaparte die Stadt vergeblich belagert, 1945 stürmten polnische und sowjetische Soldaten das zur Festung erklärte Kolberg in blutigen Kämpfen. Selbst in Deutschland verbinden viele den Namen der Stadt eher mit dem gleichnamigen Propagandafilm der Nationalsozialisten von 1945 als mit einem Ferienort an der Ostsee.

Vor diesem Hintergrund erscheinen die zahlreichen Restaurants und Souvenirbuden als eher zweifelhafte Urlaubsidylle. Am Fuß des Denkmals aber findet man Ruhe. Es nimmt den Betrachter mit auf eine Reise durch die polnische Geschichte, in der der Zugang zum Meer eine wichtige Rolle spielte.

Das Meer als Braut

Bis heute gilt das Meer den Polen nicht nur als Symbol der Freiheit, sondern ist auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Das Denkmal erinnert an diese Verbindung, genauer: an jene Vermählung Polens mit dem Meer, die hier am Strand am 18. März des Jahres 1945 stattfand.

Strenggenommen war es schon die zweite Hochzeit. Ende des 18. Jahrhunderts hatten die Nachbarmächte Russland, Preußen und Österreich den Polen nicht nur das Meer genommen, sondern mit der Aufteilung des Territoriums die politische Existenz des ganzen Staates für mehr als hundert Jahre beendet. Erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, 1918, erschien Polen wieder als eigenständiger Staat auf der europäischen Landkarte, zwei Jahre später war auch der ersehnte Zugang zum Meer wieder hergestellt.

Dieses Ereignis von nationaler Bedeutung nahm der polnische General Józef Haller von Hallenburg im Februar 1920 zum Anlass, das wiedererstandene Polen erstmals - wie er es nannte - mit dem Meer zu vermählen, ein symbolischer Akt, damit dieses Bündnis ewig halten möge. In einem feierlichen Ritual, das eine aus dem Jahr 1000 stammende Tradition namens "Festa della Sensa" aus Venedig aufgriff und die besondere Beziehung zwischen Mensch und Meer ausdrücken sollte, ließ er in Anwesenheit von zahlreichen Offizieren, Geistlichen und staatlichen Würdenträgern in der Stadt Puck, ehemals Putzig, einen Ring ins Meer werfen und eine Gedenksäule errichten.

Ehe ohne Scheidungsmöglichkeit

Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde diese Ehe gewissermaßen zwangsgeschieden. Die Gedenksäule wurde 1939, kurz nach dem Einmarsch der Wehrmacht, von den deutschen Besatzern zerstört.

Als es Anfang März 1945 polnischen und sowjetischen Soldaten gelang, Kolberg einzunehmen, erinnerte man sich jener Zeremonie von 1920. Viele Soldaten hatten in ihrer Schulzeit davon gehört. Schon wenige Stunden nach dem Ende der Kämpfe versammelten sich deshalb am 18. März 1945 um Punkt 16 Uhr Soldaten der 1. und 2. Polnischen Armee neben den Ruinen des Kolberger Leuchtturms.

Sie feierten eine Messe und spielten die polnische Hymne. Vier Soldaten liefen schließlich mit einer Fahne ins Meer. Dem Gefreiten Franciszek Niewidziajlo fiel danach die Ehre zu, einen Ring in die Fluten zu werfen mit den Worten: "Indem ich diesen Ring in deine Wellen werfe, vermähle ich mich mit dir, denn du warst unser und wirst es immer sein."

In seiner feierlichen Ansprache sagte Oberst Piotr Jaruszewicz: "Erinnert euch daran, das ist Geschichte! Irgendwann werden die zukünftigen Generationen ehrfurchtsvoll über den heutigen Tag sprechen, wie wir es über unsere großen Vorfahren tun."

Fernstecher statt Kanonen

Die symbolische Vermählung mit dem Meer wurde zum festen Bestandteil einer politischen Propaganda, die das Urpolentum derjenigen deutschen Gebiete beschwor, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs polnisch wurden. Deshalb ging sie schnell ins kollektive Bewusstsein all jener Polen ein, die zu Zeiten der Volksrepublik Polen aufgewachsen sind.

Das damalige Pathos der Reden scheint noch immer von dem 1963 errichteten Denkmal zu tropfen. Es stellt eine stilisierte, steinerne Fahne dar, die von ebenso steinernen Soldaten getragen wird. Zugleich bildet das Denkmal ein großes Tor, durch das man aufs Meer hinausblicken kann.

Doch kaum jemand nutzt diese Aussicht, die den Polen einst so wichtig war. Das Meer scheint selbstverständlich geworden zu sein, eine neuerliche Zwangstrennung im vereinten und friedlicher gewordenen Europa zu unwahrscheinlich.

Statt Kanonen stehen auf dem Aussichtsgelände des Leuchtturms, auf dem einst die Zeremonie stattfand, nun Fernstecher. Man muss zwei Zloty-Stücke einwerfen, um den Blick zum Horizont genießen zu können. Allzu teuer ist den Polen das Meer nicht. Doch in einer wahren Ehe sollte dieser Blick umsonst sein.

Zur Person
Foto: Martin Glufke

Matthias Kneip (*1969) arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Polen-Institut in Darmstadt sowie als freier Schriftsteller, Publizist und Polenreferent. Für seine Verdienste um die deutsch-polnische Verständigung erhielt er 2012 das Kavalierskreuz der Republik Polen vom polnischen Präsidenten Bronislaw Komorowski. Kneip lebt in Regensburg und Darmstadt. Zuletzt erschien sein Sammelband "Polen. Literarische Reisebilder" sowie sein Gedichtband "Keiner versteht mich, klagte das Gedicht und wurde berühmt..." (beide Lektora-Verlag). Gerade ist sein neues Buch "111 Gründe, Polen zu lieben" (Schwartzkopf & Schwartzkopf Verlag) erschienen.