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Mythos oder Medizin Warum spucken Fußballer?

Der Einwechselspieler ist kaum auf dem Feld, da spuckt er schon auf den Rasen. Das Ritual gehört zum Fußballspielen wie das Jubeln nach einem Tor. Muss das sein?
Feuchte Aussprache: Spucken gehört zum Fußball dazu - wie bei diesem Spieler des Chemnitzer FC

Feuchte Aussprache: Spucken gehört zum Fußball dazu - wie bei diesem Spieler des Chemnitzer FC

Foto: imago

Spucke zählt wie alle Körperflüssigkeiten zu den Dingen, die man am besten für sich behält oder unauffällig entsorgt. Mit Schwung und möglichst unbemerkt ins Waschbecken oder in die Hecke neben der Straße damit, so will es die Gesellschaft. Sonst droht den Mitmenschen Ekel, dieses Übelkeit erregende Gefühl des Widerwillens, wenn sich zwischen den Lippen des Gesprächspartners immer wieder feine Speichelfäden spannen.

Es gibt gute Gründe für die Abscheu gegen fremden Speichel. Grippeviren, Erkältungsviren, Noroviren - sie alle können in der Spucke überleben. Trotzdem widersetzen sich Fußballer Woche für Woche den gesellschaftlichen Konventionen. Spucken gehört zum Fußballspielen wie das Jubeln nach dem Tor. Woher kommt das?

Ein Top-Thema in Sachen Fußball und Spucke ist bis heute der Aufreger um Rudi Völler. Bei einem WM-Spiel spuckte ihm der Niederländer Frank Rijkaard 1990 in die lockige Vokuhila. Gleich zweimal. Ein Skandal, der die Spuckliebe der Fußballer aber kaum erklären kann, genauso wenig wie andere Anekdoten.

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Keine Pipipause, wenig Speichel

Besser ist es, sich dem Thema medizinisch zu nähern. Studien zu spuckenden Fußballern existieren keine, doch dem Phänomen lässt sich laut Thomas Deitmer, Chefarzt der HNO Klinik Dortmund, mit einem Gedankenmodell auf den Grund gehen. Hetzen die Fußballer übers Spielfeld, stellt sich ihr Nervensystem von Entspannung auf Angriff oder Flucht um. Ihr Körper mobilisiert alle Energiereserven, der Blutdruck steigt, die Verdauung stockt. Pipipause? Später!

Als der Mensch noch jagte und vor Säbelzahntigern flüchtete, ermöglichte das kurzzeitige Mobilisieren aller Kräfte das Überleben. Heute fordert der Durchschnittsdeutsche den Angriff-oder-Flucht-Teil des Nervensystems, den Sympathikus, meist bei aufregenden Prüfungssituationen, an einem stressigen Tag zwischen Kindern und Arbeit oder eben beim Sport. Dabei verändert sich auch die Speichelproduktion.

"Wenn sich viel Adrenalin im Blut befindet und man leistungsbereit ist, wird die Speichelproduktion gehemmt", sagt Deitmer. "Das ist auch der Hintergrund des Spruchs 'Da bleibt einem die Spucke weg'."

Schleimige Masse statt geschmeidigem Speichel

Was den Fußballer betrifft, liefert der fehlende Speichel allein noch keine Erklärung für das ständige Spucken - im Gegenteil. Wäre da nicht ein weiterer Faktor, der sich auf die Konsistenz der Spucke auswirkt. "Wenn die Fußballer über das Feld stratzen, kommen sie mit der Nasenatmung nicht mehr hin", sagt Deitmer. "Dann müssen sie auf Mundatmung umschalten."

Die Luft fängt an, durch den Mund zu zirkulieren; auf ihrem Weg trocknet sie die Schleimhäute zusätzlich aus. Als Folge beginnt der restliche Speichel im Mund, sich zu Schleim zu transformieren. "Der Speichel wird visköser, trockener, er klebt eher an Zunge und Gaumen", sagt Deitmer. "Wenn sich das in Mengen in Mund und Rachen ansammelt, ist es verständlich, dass man es loswerden will."

Damit haben die Sportler zumindest ein medizinisches Argument, mit dem sie ihr Spucken verteidigen können. Warum aber befeuchten Einwechselspieler oft schon den Rasen, bevor sie den Ball zum ersten Mal berührt haben? Und warum spucken die Frauen so viel seltener? Diese Fragen lassen sich nur mithilfe der Psychologie beantworten.

Revier markieren und negative Gedanken stoppen

"Auch wenn sie sich dessen wahrscheinlich nicht immer bewusst sind, die Fußballer spucken nicht einfach nur so", sagt der Sportpsychologe Jürgen Walter. "Zum einen hilft es den Spielern dabei, ein bisschen ihr Revier zu markieren - ähnlich wie es auch Tiere tun."

Zum anderen diene das Befeuchten des Platzes ein Stück weit dem Frustabbau. "Wer das Spucken beobachtet, merkt schnell, dass die Fußballer nicht aus Freude spucken, sondern eher, wenn ihnen etwas misslungen ist", sagt Walter. "Alles, was hilft, negative Gedanken zu stoppen, ist gut."

Wie bedeutend die mentale Stärke beim Fußball sein kann, zeigt das legendäre Länderspiel zwischen Deutschland und Schweden bei der WM-Qualifikation 2012. Mesut Özil schoss in der 56. Minute das 4:0 für Deutschland, vor dem Fernseher zuckte der Finger Richtung Fernbedienung. Was wird schon noch passieren? Sechs Minuten später erzielte Schweden den Anschlusstreffer, zwei Minuten darauf fiel das zweite schwedische Tor. Das Spiel endete 4:4.

"Die Spieler haben nur noch daran gedacht, dass jetzt kein Tor mehr fallen darf", sagt Walter. Sie haben es nicht mehr geschafft, die negativen Gedanken zu stoppen. Wer weiß, vielleicht hätten sie besser ein bisschen öfter spucken sollen.

Fazit: Eine medizinische Ausrede haben die Fußballer - rennen sie übers Feld, transformiert sich ihr Speichel zu unangenehmen Schleim. Das viele Spucken lässt sich aber eher als Form der Frustbewältigung erklären. Wer's mag!