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Piercing: Von hygienisch bis barbarisch

Foto: DDP

Piercing-Expertin "Die meisten Mädchen wollen sich verschönern"

Ein Gesicht voller Metallschmuck als Zeichen gegen den Mainstream? Das gilt nicht mehr, sagt Pädagogin Agnes Trattner. Im Interview mit SPIEGEL ONLINE erklärt sie, warum Mädchen sich piercen - und weshalb Protest dabei kaum noch eine Rolle spielt.

SPIEGEL ONLINE: Wenn Ihnen ein Mädchen begegnet, das etliche Ringe in Nase, Lippe und Augenbrauen trägt - was geht Ihnen dann durch den Kopf?

Trattner: Erst mal gar nichts. Als Pädagogin halte ich es für zentral, Jugendlichen - ob gepierct oder nicht - vorurteilsfrei und auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. Wichtig sind in erster Linie die Motive, die hinter Piercing stehen.

SPIEGEL ONLINE: Erwachsene behaupten gern, Piercing sei Provokation. Sie haben für Ihre Studie Piercing-Trägerinnen zwischen 13 und 21 Jahren befragt - können Sie das Vorurteil bestätigen?

Trattner: Nein. Der Großteil der Mädchen will sich nur verschönern und keinen Protest damit ausdrücken. Gern wird von Erwachsenen unterstellt, Piercings seien ein Zeichen für emotionale Unausgeglichenheit, aber das ist nicht wahr. Die meisten gepiercten Mädchen tragen ein bis drei Schmuckstücke, das ist heute also absolut normal.

SPIEGEL ONLINE: Ursprünglich kommt Piercing aus der Punk-Kultur und war als Protest gegen gesellschaftlichen Mainstream gedacht.

Trattner: Das ist für die meisten heute nicht mehr von Bedeutung. Auch die Abgrenzung gegenüber Lehrern und Eltern oder die Zugehörigkeit zu einer Szene sind großteils unwichtig. Piercing ist heute ein Massenphänomen und es ist eine Möglichkeit, sich als Jugendliche darzustellen.

SPIEGEL ONLINE: Warum ist die Selbstdarstellung so wichtig?

Trattner: Da geht es um Abgrenzung, gegenüber der eigenen Kindheit, aber auch gegenüber Erwachsenen. Die Jugend ist eine Zeit der Identitätssuche. Daher ist sie zwangsläufig mit Selbstinszenierung verknüpft. Meine Untersuchung hat ergeben, dass Mädchen, die stark unter gesellschaftlichen Ansprüchen wie gutem Aussehen leiden, auch ihren Körper negativ erleben.

SPIEGEL ONLINE: Warum haben Mädchen Schwierigkeiten mit ihrem Körper?

Trattner: Fast alle Mädchen leiden unter dem gesellschaftlichen Druck, Schönheitsidealen zu entsprechen. Ein paradoxer Anspruch: Schließlich bleiben Ideale immer unerreichbar. Interessanterweise leiden die gepiercten Mädchen, die ich befragt habe, kaum unter diesen Ansprüchen. Sie haben mehrheitlich ein eindeutig positives Körpererleben.

SPIEGEL ONLINE: Sie schreiben von einer "Kultur der Unzufriedenheit"...

Trattner: Hier habe ich Frauen- und Geschlechterforscherin Karin Flaake zitiert, die das treffend auf den Punkt bringt. Mein Forschungsprojekt zeigt, dass den Mädchen angemessene Unterstützungen fehlen, um Selbstvertrauen aufzubauen. In der Schule wird ihnen wenig geholfen, sich in ihrem Körper zurechtzufinden. Die Sexualerziehung geht an den Bedürfnissen der Jugendlichen vorbei. Im Sportunterricht ist die Leistung oft wichtiger als Lust und Freude an der Bewegung. Piercing kann eine kreative Form einer positiven Körperaneignung sein.

SPIEGEL ONLINE: Und was, wenn Mutti absolut dagegen ist?

Trattner: Lässt sich darüber nicht reden, kann es passieren, dass sich die Mädchen heimlich piercen. Fast ein Drittel der Piercings entsteht nicht in einem professionellen Studio.

Das Interview führte Carola Padtberg

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