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Problemschule in Sachsen-Anhalt "Wenn mir eins der Weiber dumm kommt, haue ich zu"

Bedrohung, Gewalt und Zerstörungswut unter Schülern wird gern auf gescheiterte Integrationspolitik geschoben. Doch auch in Klassen mit fast ausschließlich deutschen Kindern werden Lehrer und Mitschüler gequält. Eine Ortsbesichtigung in Sachsen-Anhalt.
Von Thomas Datt und Arndt Ginzel

Gardelegen - Tom Sauer* lehnt auf einer Harke und raucht. Gleich hat er es in die Osterferien geschafft. Eine Woche hat er die Büsche neben der Karl-Marx-Schule in Gardelegen gesäubert. Nicht freiwillig. Denn Tom hatte sich von seinem Direktor Horst-Dieter Radtke erwischen lassen, als er Sprüche wie "Alle Lehrer an dieser Schule sind Scheiße" auf die neuen Türen im Flur schmierte.

Radtke, 52, reagierte - wie er selbst sagt - schon "sehr zackig". Die Schulkonferenz schloss den 15-jährigen Hauptschüler vom Unterricht aus und unterstellte ihn dem Hausmeister. Im Gebüsch liegen immer noch jede Menge Flaschen und Papier, auf dem verkümmerten Rasen ist noch Laub vom Vorjahr. Sandra*, die Tom mit zwei anderen Schülern über die letzten Minuten hilft, weist ihn grinsend darauf hin. Tom, dessen dunkle Rasta-Haare unter einer Kapuze hervorquellen, gibt sich cool: "Der Wind hat die Blätter zurückgeweht." Zweimal ist er schon sitzen geblieben.

Gardelegen hat die Probleme vieler Orte in Sachsen-Anhalt: Abwanderung, Überalterung, hohe Arbeitslosigkeit. Fast ein Fünftel der Bevölkerung ist - offiziell - ohne Beschäftigung. In der "Karl Marx" landen viele Jugendliche, deren Eltern ohne Perspektive sind.

Sandra kommt aus dem Nachbardorf Jävenitz, dessen Schule geschlossen wurde. Die 13-jährige Realschülerin hat in dem halben Jahr an der "Karl Marx" vier schriftliche Tadel erhalten und steht kurz vor einem Verweis. In ihren sieben Schuljahren in Jävenitz war sie noch brav. "Hier", sagt sie, "kennen sie mich nicht, hier muss ich mich durchsetzen. Und wenn mir eins der Weiber dumm kommt, haue ich zu."

Hilferuf der Lehrer

Im Spätsommer 2005 wurden drei Schulen zusammengelegt. Die Kinder aus Jävenitz und aus der Goethe-Schule in Gardelegen mussten aus sanierten Gebäuden in den schäbigen Plattenbau am Rand der Stadt in der Altmark ziehen. Heute werden hier 536 Real- und Hauptschüler von 46 Lehrern unterrichtet. Nach den Winterferien wurde es richtig schlimm: "Anfang März sind zwölf Lehrer wegen Grippe ausgefallen. Die anderen haben 400 Stunden vertreten und wurden immer frustrierter, weil mutwillige Zerstörungen und Beleidigungen zunahmen", sagt der Direktor.

Sein Kollege Bernd Möller, der auch Personalvertreter ist, entwarf einen Brief an den Hauptpersonalrat. Das Kollegium unterstützte ihn. Kernsatz des Hilferufs: "Besonders schwerwiegend sind die verbalen Beleidigungen und Bedrohungen der Lehrkräfte." Die Lehrer forderten zwei Sozialpädagogen für ihre Schule. Die gab es schon einmal, doch 2003 brach die Regierung von Wolfgang Böhmer (CDU) das entsprechende Landesprogramm des Vorgänger-Kabinetts ab. Begründung: Kein Geld.

Tom wünscht sich Frau Nagy zurück. Die Sozialarbeiterin half ihm bei den Hausaufgaben, mit ihr konnte er über seine Probleme reden. Tom verschläft öfter. Seine Mutter, die Hartz IV bezieht und ihn allein großzieht, steht meist nach ihm auf. Tom bewundert an seiner "Mum", dass sie nicht gleich ausflippt. Selbst dann nicht, wenn er jähzornig auf vermeintliche Ungerechtigkeiten reagiert. "Ich habe einem Lehrer gedroht", erzählt Tom, "dass ich mir sein Auto raussuche."

Radtke kennt solch hilflos liebenden Eltern zur Genüge. Als eine Mutter beim Sprechtag hörte, dass ihr Sohn seinen Mathe-Lehrer als "Wichser" beschimpft hatte, flehte sie müde: "Das kannst du doch nicht sagen." Der Junge erklärte ihr trotzig: "Aber wenn ich doch Recht habe." Radtke kann seine Kolleginnen verstehen, die es sich nicht gefallen lassen wollen, wenn ihnen "Fick dich" oder "Fotze" hinterher gerufen wird. Es ist dieser ausfällige Ton, der die Lehrer - von denen die jüngsten 40 Jahre alt sind - schockiert.

Auch Mädchen werden aggressiver

Radtke spricht von Werteverfall, von fehlendem Unrechtsbewusstsein. Die knapp 50 "Problemschüler" würden gar nicht merken, wie sehr ihre Umgangssprache die Erwachsenen verletze. Der Direktor glaubt eine Ursache zu kennen: "Die Hälfte von ihnen kommt aus Hartz-IV-Haushalten. Viele Eltern haben sich aufgegeben." Die Resignation überträgt sich auf die Kinder.

Sandra fühlt sich an der Schule abgeschrieben: "Wenn in der Bewerbung 'Karl-Marx-Schule' steht, denken die doch gleich 'Assi-Schule' und man hat keine Chance." Das Stigma, Sammelbecken der Schulversager zu sein, haftet. Radtke sieht den Fehler auch im System, das die Kinder bereits nach vier Jahren in Gymnasiasten, Realschüler und Hauptschüler trennt: "Ein längeres Zusammenbleiben wäre schon sinnvoll. Aber die Leistungsstärkeren und die Schwächeren müssten natürlich speziell gefördert werden." Als Fortschritt empfand er die Förderstufe, bei der die Schüler auch in den Klassen fünf und sechs gemeinsam lernten.

Radtke bedauert, dass die CDU-FDP-Koalition sie nach ihrem Wahlsieg vor vier Jahren wieder abschaffte: "Die Eltern und Schüler waren sicherer, weil die Entscheidung über den weiteren Bildungsweg erst später fiel." Doch er erinnert sich auch mit Grausen an die letzten Jahre der Förderstufe, als die Gelder gekürzt wurden und vernünftige Projektarbeit nicht mehr möglich war.

Lehrer Möller, der Wirtschaft und Technik unterrichtet, kann die Perspektivlosigkeit nur bestätigen. Unternehmen in der Region nehmen kaum Hauptschüler. Von den 22 Schülern seiner zehnten Klassen haben erst fünf eine Lehrstelle. Möller: "Der Rest hängt in der Luft. Hauptschüler landen meist beim Bildungswerk oder im Jugendförderzentrum, wo sie zu irgendwelchen Assistenten ausgebildet werden. Damit hat man eigentlich keine Chance."

Für Mädchen ist es noch schwerer als für Jungen, in der Gegend eine Lehrstelle zu finden. Radtke hat beobachtet, dass sie härter und rücksichtsloser als früher auftreten: "Die Mädchen sind vielleicht selbstbewusster geworden, aber sie übernehmen teilweise auch das aggressive Verhalten der Jungen."

13.32 Uhr. Tom sieht auf die Uhr und jubelt: "Ich bin schon zwei Minuten drüber." Strafe überstanden. Sandra will zum Bus nach Jävenitz. Heute ist schließlich nicht Montag. Denn da hat sie sieben Stunden und muss anschließend 90 Minuten an der Haltestelle warten.

* Name geändert