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Amokläufer Wenn Schüler zu Tätern werden

Was macht einen Schüler zum Amokläufer? Soziale Ausgrenzung und Frust sind Risikofaktoren. Jetzt haben Berliner Forscher einen weiteren "Schlüsselfaktor" ausgemacht: massive Konflikte mit Lehrkräften.
Von Armin Himmelrath und Saskia Ibrom
Täter-Typologie: School Shooter haben im Vorfeld Probleme mit Mitschülern und Lehrern

Täter-Typologie: School Shooter haben im Vorfeld Probleme mit Mitschülern und Lehrern

Foto: Daniel Karmann/ picture alliance / dpa

Columbine, Erfurt oder Winnenden: Was bringt junge Menschen dazu, bei sogenannten School Shootings auf Mitschüler und Lehrer zu feuern und möglichst viele von ihnen zu ermorden? Eine einfache Erklärung geht so: Da ist der verbitterte Außenseiter, der von seinen Mitschülern gemobbt wird, weder Freunde noch Freundin hat und eines Tages zur Waffe greift. Eine neue Studie von Forschern der FU Berlin zeigt: So simpel ist es nicht.

Denn: Ein eindeutiges Täterprofil bei solchen Schulanschlägen gibt es nicht. Obsessives Computerspielen, dunkle Kleidung oder Einzelgängertum - alles das macht einen Jugendlichen noch lange nicht zum Amokläufer. Das bestätigt auch die am Mittwoch vorgestellte Untersuchung, die von einem Team rund um den Psychologen Herbert Scheithauer verfasst wurde.

Im Rahmen des Projekts TARGET (Tat- und Fallanalysen hochexpressiver zielgerichteter Gewalt ) haben die Psychologen zum ersten Mal die gesamte Forschungsliteratur zu School Shootings analysiert. In der Metastudie wurden 37 Untersuchungen mit insgesamt 126 Fällen von Amokläufen in 13 Ländern untersucht, darunter USA, Kanada und Deutschland. Das Ziel: Erste Anzeichen für mögliche School Shootings sollen früher erkannt werden als bisher. Eine Präventionscheckliste mit klaren Risikofaktoren könne allerdings niemand erwarten, sagt Scheithauer: "Durch das Projekt soll die Sensibilität der Lehrkräfte für das Thema gestärkt werden."

Auf der Suche nach Frühwarnsignalen

Was die Erforschung von Amoktaten in Schulen schwierig macht, sind die geringen Fallzahlen, denn es lassen sich nur bedingt allgemein gültige Schlüsse ziehen.

Trotzdem gibt es klare Auffälligkeiten: So erlebten fast 90 Prozent aller zukünftigen Täter soziale Konflikte in der Schule - allerdings nicht immer nur als Opfer. Etwas mehr als die Hälfte der späteren Täter erlebten Ablehnung durch Mitschüler in Form von Hänseleien, Beschimpfungen und unterstellter Homosexualität. In neun der 126 Fälle mobbte jedoch der spätere Amokläufer selbst andere Schüler, ohne dass er schikaniert worden wäre. Diese Fälle widersprechen also der Grundannahme, dass stets nur Opfer später zu Tätern werden. Die Autoren betonen: "Die Ergebnisse zeigen, dass es Fälle von School Shootings gibt, in denen Mobbing definitiv keine Rolle spielt."

Bei rund einem Drittel der Amokläufer ging vor der Tat eine Beziehung kaputt oder wurde Liebe erst gar nicht erwidert. Bei einigen Tätern waren Probleme in Liebesbeziehungen der einzige Konflikt im Schulumfeld.

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Foto: Sebastian Kahnert/ dpa

Häufig Stress mit Lehrern

Darüber hinaus fanden die Forscher auch einen neuen Indikator: Massive Konflikte mit Lehrern traten bei fast der Hälfte der späteren Täter auf. Laut den Autoren ein Aspekt, der in der Forschung bisher vernachlässigt werde. Für sie sind solche Konflikte ein "Schlüsselfaktor" - etwa dann, wenn Schüler beispielsweise von der Schule geflogen waren.

Korrekturbedarf bei der Bewertung der Täterpersönlichkeit sehen die Psychologen auch an einem anderen Punkt: der subjektiv empfundenen Ausgrenzung. Laut Studie stimmt das Gegenteil: Während in fast der Hälfte der Fälle die Täter von anderen als Einzelgänger beschrieben wurden, bezeichneten sich nur 24 Prozent der späteren Attentäter selbst als Außenseiter.

Auch mit Blick auf School Shootings in Deutschland stimmt das Bild des Einzelgängers nur eingeschränkt. In einer zweiten Studie untersuchten die Berliner Wissenschaftler gezielt Amokläufe in Deutschland, indem sie Zeugenaussagen, polizeiliche Ermittlungsakten, persönliche Schreiben der Täter und mehr auswerteten. Sieben deutsche Schulanschläge zwischen 1999 und 2006 haben die Forscher dafür genauer unter die Lupe genommen, darunter die Taten in Erfurt und Emsdetten. Der Amoklauf in Winnenden dagegen gehörte wegen der zeitlichen Begrenzung der Untersuchung nicht dazu.

Hier zeigte sich: Sechs der sieben späteren Täter verbrachten ihre Freizeit mit mehreren Freunden, gingen aus, spielten Computerspiele, drehten Filme, machten Sport und mehr. Nur eine Person passte zum Klischee des Amokläufers: Er hatte sich vor der Tat komplett von Freunden und Bekannten isoliert. "Anti-Mobbing-Programme sind zwar gut", sagt Psychologe Herbert Scheithauer. "Aber wenn eine Schule sagt, sie wolle mit diesen Programmen gegen School Shootings vorgehen, dann reicht das eben nicht."

Chronologie: Junge Amokläufer in Deutschland