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Neues Schulbarometer Jede dritte Lehrkraft fühlt sich mehrmals pro Woche emotional erschöpft

Gewalt in den Klassen, marode Gebäude, Lehrkräfte am Rande des Burn-outs: Das Deutsche Schulbarometer zeichnet ein schlimmes Bild des Schulalltags. Eine Forscherin spricht von »Momentaufnahmen eines kranken Systems«.
Schülerinnen im Unterricht: 36 Prozent der Lehrkräfte fühlen sich mehrmals pro Woche emotional erschöpft

Schülerinnen im Unterricht: 36 Prozent der Lehrkräfte fühlen sich mehrmals pro Woche emotional erschöpft

Foto: Maskot / Getty Images

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Mehr als ein Viertel der Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland denkt verstärkt darüber nach, den Schuldienst zu verlassen. Das geht aus der neuen Ausgabe des Deutschen Schulbarometers hervor. 27 Prozent der Befragten berichteten demnach von Abwanderungsgedanken aus dem Klassenzimmer. Die Zahlen sind nach Aussagen der Robert Bosch Stiftung, die das Schulbarometer beauftragt, repräsentativ für die Lehrkräfte in Deutschland.

»Die Qualität von Bildung wird auch dadurch beeinflusst, wie gut oder schlecht es der Berufsgruppe der Lehrkräfte geht«, sagt Uta Klusmann, Bildungsforscherin an der Humboldt-Uni Berlin und eine der Autorinnen der Umfrage. Daher sei es wichtig, belastbare Daten über das Empfinden der Lehrerinnen und Lehrer zu haben, um daraus strategisch-politische Schlussfolgerungen zu ziehen.

Das Deutsche Schulbarometer

Das Deutsche Schulbarometer erhebt seit 2019 die Stimmung und Themen der Lehrkräfte in Deutschland. Im Mittelpunkt stehen jeweils die aktuelle Situation der Schulen und der Schulalltag. Aus den Ergebnissen sollen Empfehlungen für Entscheiderinnen und Entscheider im Bildungssystem abgeleitet werden.

Die Befragten berichteten von einem ganzen Bündel an schlechten und teilweise deprimierenden Erfahrungen in ihrem Schulalltag:

  • Physische oder psychische Gewalt unter Kindern und Jugendlichen erlebte demnach fast jede zweite Lehrkraft als problematisch. 47 Prozent der Befragten hatten solche Vorfälle an der eigenen Schule mitbekommen. Schulen in sozial benachteiligtem Umfeld sind davon besonders stark betroffen (69 Prozent).

  • Als »größte Herausforderung« der eigenen Arbeit nannten 35 Prozent der Lehrkräfte das Verhalten der Schülerinnen und Schüler. Am zweithäufigsten wurde der Umgang mit der Heterogenität der Klassen genannt: Dieser Aspekt ist für 33 Prozent der Befragten die größte Herausforderung – und spielt an Grundschulen mit 45 Prozent eine deutlich größere Rolle als in älteren Jahrgängen. Beispiele sind hier individuelle Lernbiografien der Kinder und Jugendlichen, unterschiedliche kulturelle  und familiäre Hintergründe »und unter Umständen auch besondere Förderbedarfe«.

  • Das alles geht nicht spurlos an den Lehrkräften vorüber: 36 Prozent sagten, sie fühlten sich mehrmals pro Woche »emotional erschöpft«. Betroffen sind dem Schulbarometer zufolge »vor allem jüngere und weibliche Lehrkräfte sowie Grundschullehrer:innen«. Zwölf Prozent berichten sogar von täglichen Erschöpfungszuständen. »Das sind sehr hohe und bemerkenswerte Zahlen«, sagt Bildungsforscherin Klusmann: »Solche wiederkehrenden Erschöpfungszustände sind ein zentrales Symptom für Burn-out.«

  • Professionelle Rückmeldungen sind im Bildungssystem offenbar nicht überall Standard: Jede vierte Lehrkraft (24 Prozent) hat der Erhebung zufolge in den zwölf Monaten vor der Umfrage kein Feedback zur eigenen Arbeit erhalten. »Diese Zahl ist eine Katastrophe«, sagt Helmut Klemm, Leiter der Eichendorffschule Erlangen, dem Hauptpreisträger beim Deutschen Schulpreis 2023.

»Wir sehen in den Ergebnissen die Momentaufnahme eines kranken Systems«, fasst Dagmar Wolf, Leiterin des Bereichs Bildung der Robert Bosch Stiftung, die Ergebnisse zusammen. Lehrkräfte müssten bereits seit Langem die Folgen des massiven Personalmangels  ausgleichen und immer neue Belastungen bewältigen. »Das führt dazu, dass bereits Berufseinsteiger:innen den Schuldienst gar nicht erst antreten oder schnell wieder verlassen wollen.«

Gefährdete Attraktivität des Lehrberufs

Wolf prognostiziert, dass es in Zukunft »enorm wichtig« sein werde, das berufliche Wohlbefinden der Lehrerinnen und Lehrer zu fördern, um sie an den Schulen zu halten und den Beruf für junge Menschen wieder interessanter zu machen. Angesichts des dramatischen Lehrkräftemangels in den kommenden Jahren sei das eine Kernaufgabe der Bildungspolitik. Bis Mitte der Dreißigerjahre werden verschiedenen Prognosen zufolge zwischen 60.000 und 160.000 Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen in Deutschland fehlen.

Die Befragten zeigten sich beim Blick auf die Rahmenbedingungen ihrer Arbeit kritisch. Den »dringendsten Handlungsbedarf« an ihren Schulen identifizierten sie beim Kampf gegen den Personalmangel (41 Prozent, an Grundschulen sogar 51 Prozent), bei den Investitionen in marode Bausubstanz der Schulen (35 Prozent) und bei der technischen und digitalen Ausstattung (35 Prozent).

Und noch ein weiterer Aspekt gebe ihr zu denken, sagt Dagmar Wolf von der Bosch-Stiftung: die schlechten Werte im Bereich der Personalentwicklung und der Fortbildung. Insbesondere im internationalen Vergleich seien hier riesige Unterschiede zu erkennen. So hatten in Deutschland nur 23 Prozent der Befragten an Fortbildungen zu pädagogischen Kompetenzen teilgenommen, während es international nach OECD-Zahlen  73 Prozent waren. Von Seminaren zu individualisiertem Lernen – das aus Sicht der Schulforschung pädagogischer Standard sein sollte – berichtete in Deutschland jede fünfte Lehrkraft (20 Prozent), während es international fast jede Zweite war (49 Prozent).

»Die Überlastung der Lehrkräfte im Alltag zeigt sich auch beim Thema Fortbildung«, sagt Dagmar Wolf. Es brauche eine Kultur des gemeinsamen Lernens. Im internationalen Vergleich seien die Lehrkräfte in Deutschland »noch viel zu sehr auf sich selbst fokussiert«.

Das Schulbarometer hält immerhin auch eine positive Nachricht bereit: Drei Viertel der Lehrkräfte sagten, sie seien mit ihrem Beruf grundsätzlich zufrieden.

him