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Neue Hochrechnung Kirchenmitglieder sind nur noch eine Minderheit in Deutschland

Über Jahrhunderte war es in Deutschland normal, einer der großen Kirchen anzugehören. Jetzt ist der Anteil der Kirchenmitglieder auf unter 50 Prozent gefallen. Forscher sprechen von einer »historischen Zäsur«.
Der Kölner Dom: Die Volkskirchen verlieren Mitglieder

Der Kölner Dom: Die Volkskirchen verlieren Mitglieder

Foto: Krystof Kriz / imago images

Die römisch-katholische und evangelische Kirche verlieren weiter an Einfluss in Deutschland. Laut Hochrechnungen von Experten sind erstmals seit Jahrhunderten mehr als 50 Prozent der Menschen in Deutschland weder römisch-katholisch noch evangelisch. »Es ist eine historische Zäsur, da es im Ganzen gesehen, seit Jahrhunderten das erste Mal in Deutschland nicht mehr ›normal‹ ist, Kirchenmitglied zu sein«, sagt der Berliner Sozialwissenschaftler Carsten Frerk von der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid), die von der religionskritischen und humanistischen Giordano-Bruno-Stiftung ins Leben gerufen worden ist.

Im vergangenen Jahr waren noch 51 Prozent der deutschen Bevölkerung römisch-katholisch oder evangelisch. 1990 lag der Anteil bei 72 Prozent. Offiziell werden die neuesten Zahlen (Stand für Ende 2021) erst im Sommer von den Kirchen veröffentlicht. Aus veröffentlichten Zahlen der EKD gehen rund 19,7 Millionen Mitglieder zum Ende des vergangenen Jahres hervor (20,2 Millionen im Vorjahr). Prognosen etwa von der Fowid sehen zudem noch etwa 21,8 Millionen Katholiken (22,2 Millionen im Vorjahr).

»Die Abwärtsentwicklung ist schon seit Längerem zu beobachten«, sagte Frerk. »Sie hat sich in den vergangenen sechs Jahren aber stärker beschleunigt als vorher angenommen.« Verloren die Kirchen in den Jahren 2000 bis 2015 pro Jahr etwa 0,6 bis 0,8 Prozentpunkte am Bevölkerungsanteil, so sind es seit 2016 etwa 1,0 bis 1,4 Prozentpunkte. Neben einem Aussterben der Kirchenmitglieder gibt es auch zahlreiche Austritte. Zuletzt gab es nach der Vorstellung eines Missbrauchsgutachtens  im katholischen Erzbistum München und Freising eine Flut an Kirchenaustritten in Bayern.

Die Motive reichten vom Steuernsparen bis zum Protest gegen die Amtskirche und ihren Umgang mit Missbrauchsfällen in den eigenen Reihen, sagte Robert Stephanus, Vorsitzender des überkonfessionellen Vereins REMID (Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst). Regional gebe es in Bezug zur Kirche große Unterschiede, sagt Stephanus. In Bayern sei es anders als in Niedersachsen oder aber im Gebiet der früheren DDR, wo die Mitgliederzahl der evangelischen Kirche zwischen 1950 und 1989 von fast 15 Millionen auf 4 Millionen sank, die der Katholiken sich auf etwa eine Million halbierte.

Der Niedergang der Volkskirche

»Früher haben die Kirchen in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens hineingewirkt«, sagt der Religionssoziologe Detlef Pollack von der Uni Münster. In den Fünfzigerjahren seien sie im Alltag der Menschen präsent gewesen, bestimmten die allgemein akzeptierten Familien-, Moral- und Wertvorstellungen und stabilisierten die neu entstehende politische Ordnung. Auch in den Jahrzehnten danach seien sie in der Öffentlichkeit gehört worden, »etwa wenn es um die Aussöhnung mit den osteuropäischen Nachbarn ging oder um Fragen sozialer Gerechtigkeit oder um bioethische Fragen an den Grenzen von Leben und Tod«.

Die katholische Peter-und-Paul-Kirche in Potsdam: Die Wege führen noch zur Kirche, nur sind immer weniger Teil davon

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Foto: Michael Kneffel / imago images

Seit den Sechzigern mit wirtschaftlichem Aufschwung, sich verändernden Familienstrukturen und der Emanzipation der Frauen setzte der kulturelle Umbruch ein, sagte Pollack. Statt materieller Sicherung und sozialer Stabilisierung wurden politische Mitbestimmung und individuelle Selbstverwirklichung wichtig. Der Niedergang der Volkskirche begann. Religiöse Bindungen schwächten sich ab. Vor der Abwendung vom Glauben und den Kirchen stehe dabei meist der Verzicht auf die Teilnahme am kirchlichen Leben. »Wenn die religiöse Praxis aufgegeben wird, geht auch der Einfluss der Religion auf die Lebensführung zurück.«

In Deutschland sind inzwischen mehr als 40 Prozent der Einwohner konfessionslos, etwa vier Prozent der Bevölkerung werden als konfessionsgebundene Muslime gezählt, die übrigen verteilen sich auf andere Religionen, darunter sind etwa Juden. Da es außerhalb der großen Kirchen noch ein paar Millionen weitere Christen gibt, zum Beispiel Freikirchler und Christlich-Orthodoxe, liegt die Quote der Christen hierzulande nach wie vor bei mehr als 50 Prozent.

hba/dpa