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Urteil des Bundesverfassungsgerichts Muss die Bundestagswahl in Berlin wiederholt werden?

Am Dienstag entscheidet das Bundesverfassungsgericht, ob die Bundestagswahl in Berlin wiederholt werden muss. Es kursieren drei Szenarien – besonders die Linken und Sahra Wagenknecht bangen.
Bundesverfassungsgericht (Archivbild)

Bundesverfassungsgericht (Archivbild)

Foto: Uli Deck / dpa

Es klingt nach einem recht spröden Termin, der am Dienstagvormittag um 10 Uhr im Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe stattfindet. »Urteilsverkündung in Sachen: Wahlprüfungsbeschwerde der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag gegen den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 10. November 2022«, heißt es da.

Doch was so harmlos wirkt, hat es in sich. Nachdem das oberste Gericht schon vor einigen Wochen die Bundespolitik mit dem Urteil zum Haushalt durcheinanderwirbelte, könnte jetzt das nächste weitreichende Urteil folgen. Es geht darum, ob in Berlin die Bundestagswahl wiederholt werden muss.

Die Wahl am 26. September 2021 war in vielen Wahllokalen in der Hauptstadt chaotisch verlaufen: Es gab lange Schlangen und Wartezeiten, falsche oder fehlende Stimmzettel. Wahllokale mussten vorübergehend schließen oder blieben bis weit nach 18 Uhr geöffnet.

Wegen der vielen Pannen musste bereits die Wahl für das Berliner Abgeordnetenhaus wiederholt werden. Am selben Tag fand auch die Bundestagswahl statt – hierfür fehlte es noch an einer Entscheidung aus Karlsruhe.

Der Wahlprüfungsausschuss des Bundestages hatte bereits im November 2022 entschieden, es solle in rund 400 der 2.256 Wahlbezirken neugewählt werden. Für die Union war das unzureichend, die eine Wiederholung in etwa 1000 Wahlbezirken fordert und deshalb vor Gericht zog.

Vor allem die Linke bangt wegen des Richterspruchs. Sie war bei der Bundestagswahl allein dank der Grundmandatsklausel ins Parlament gekommen. Sie erreichte keine fünf Prozent, gewann aber drei Direktmandate, davon mit Gesine Lötzsch und Gregor Gysi zwei in Berlin. Wegen dieser konnte sie entsprechend ihrem Zweistimmenergebnis ins Parlament ziehen. Wenn eines der Direktmandate wegfällt, verlieren 36 Abgeordnete, die über Landeslisten der Linken ins Parlament gekommen sind, ihr Mandat.

Berlin hat sich bereits auf eine Wiederholung der Wahl eingestellt. Im November schon wurden frühere Wahlhelferinnen und Wahlhelfer angeschrieben. »Im Februar 2024 finden voraussichtlich die Wiederholungswahlen zum Deutschen Bundestag statt«, heißt es in den Schreiben. »Hierfür brauchen wir Ihre tatkräftige Unterstützung.« Sollte es zu einer erneuten Wahl kommen, »wäre der Wahltermin voraussichtlich am Sonntag, den 11. Februar 2024.«

Wie könnte Karlsruhe am Dienstag entscheiden?

1. Der »Freispruch«

Diese Variante gilt eher als unwahrscheinlich, aber darauf hoffen die meisten Parteien. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet, dass keine neue Wahl stattfindet. Argumentiert werden könnte mit der Verhältnismäßigkeit. Die Mehrheitsverhältnisse im Parlament würden bei einer Wahlwiederholung in Berlin voraussichtlich nur geringfügig verändert. Die Ampel muss nicht um ihre Mehrheit fürchten, auch wenn SPD und FDP wahrscheinlich schlechter abschneiden dürften.

Hauptgrund, auf die Neuwahl zu verzichten, ist der Zeitpunkt. Eine Neuwahl müsste in wenigen Wochen nach der Verkündung vollzogen werden. Schon im Herbst 2025 findet jedoch die nächste Bundestagswahl statt. Der neue Termin wäre somit näher am Termin der regulären Neuwahl als am Wahltermin, der wiederholt werden soll.

2. Die kleine Lösung

Die Ampel schlug vor, in rund 400 Wahlbezirken neu zu wählen, die Union wollte etwa 1000. Je nach Kriterien, wie schwer die jeweiligen Wahlpannen zu werten sind, könnte das Gericht hier einer der beiden Seiten recht geben oder eine eigene Auswahl an Wahlbezirken festlegen, in denen sie eine Neuwahl als geboten erachtet.

Die Linke könnte damit wohl leben, denn die meisten angefochten Wahlbezirke – auch die zusätzlichen der CDU – befinden sich im Westen der Stadt. Dort ist die Linke schwächer, vor allem die CDU kann auf Geländegewinne hoffen.

Im Wahlkreis Köpenick, wo Gregor Gysi angetreten ist, gilt eine Wiederwahl als sicher. Gysi schaffte es immer, ein Direktmandat zu erlangen. Das Risiko ist Lichtenberg, wo die Ex-Linkenchefin Lötzsch antritt. Hier ging die Zustimmung für die Linken zurück in den vergangenen Jahren. Dennoch gibt es in ihrem Wahlkreis nur wenige der von den Querelen betroffenen Wahlbezirke, es wären kaum Auswirkungen auf das Erststimmenergebnis zu erwarten.

Möglich ist aber, dass das Zweitstimmenergebnis der Linken in Berlin insgesamt niedriger ausfällt und ihnen deshalb ein Mandat im Bundestag abhandenkommt. Das wiederum könnte aufgrund des komplexen deutschen Wahlrechts mit Ausgleichs- und Überhangmandaten Wirkung in anderen Bundesländern entfalten. Selbst eine niedrigere Wahlbeteiligung in Berlin könnte dafür sorgen, dass in einem anderen Bundesland ein Mandat wegfällt.

Linkenabgeordnete Gesine Lötzsch

Linkenabgeordnete Gesine Lötzsch

Foto: IMAGO / dts Nachrichtenagentur

3. Der worst case

Das Abgeordnetenhaus von Berlin musste wegen der Wahlpannen komplett neugewählt werden. Man könnte argumentieren, dass dies dann auch für die Bundestagswahl in der Hauptstadt geschehen muss.

Es wäre das Horrorszenario für die meisten Parteien, die sich auf einen teuren Kurzwahlkampf im Winter einstellen müssten. Bei einer vollständigen Wiederholung der Bundestagswahl in Berlin könnte zum Beispiel auch die frisch gewählte Berliner Grünenchefin Nina Stahr aus dem Parlament fliegen.

Die größte Gefahr besteht für die Linke – und für Sahra Wagenknecht. Sie und neun weitere Abgeordnete waren ausschließlich dank ihrer Ex-Partei und deren Direktmandate ins Parlament gekommen. Erst vor wenigen Wochen waren sie ausgetreten und wollen im Januar eine neue Partei gründen.

Wenn jedoch die Linke ihr drittes Direktmandat verliert, fliegen auch Wagenknecht und ihre Unterstützer aus dem Bundestag. Es könnte also der absurde Fall eintreten, dass Wagenknecht im eigenen Interesse noch mal Wahlkampf für die Linke machen müsste. Der »Süddeutschen Zeitung« sagte Wagenknecht bereits, ihr fiele es »nicht schwer«, Lötzsch für die Erststimme die Daumen zu drücken. Ausgerechnet in der Lichtenberger Linken hat Wagenknecht vergleichsweise viele Unterstützer, insgesamt ist die Abneigung im Landesverband der Linken aber groß.

Auch die Linke müsste sich für Personal des neuen »Bündnis Sahra Wagenknecht« ins Zeug legen. Im Wahlkreis Tempelhof-Schöneberg trat Alexander King als Direktmandat an, der zur neuen Wagenknecht-Formation zählt.