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Wirtschaftsgeschichte Als die Bilder billig wurden

Einer musste den Job ja machen! In den bizarren Tätigkeiten vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte spiegelt sich der Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft. Die Autorin Michaela Vieser und die Illustratorin Irmela Schautz porträtieren ausgestorbene Berufe - wie etwa den des Lithografen.
Lithograf bei der Arbeit: Gutbezahlter Experte im Zylinderhut

Lithograf bei der Arbeit: Gutbezahlter Experte im Zylinderhut

Foto: Irmela Schautz

Lithograf: vervielfältigte Bilder im großen, oft auch bunten Stil

Erkennungszeichen: Selbstbewusstsein und Akribie

Aktive Zeit: von der Erfindung der Lithografie durch Alois Senefelder 1798 bis Anfang des 20. Jahrhunderts (Ablösung durch Offset-Printverfahren)

"Wer weiß die Hallen und dergleichen
So welthistorisch zu bestreichen?

Alfresko und für ewig fast, wenn's mittlerweile nicht verblasst.
Wer liefert uns die Genresachen, so rührend oder auch zum Lachen?
Wer schuf die grünen Landschaftsbilder,
die Wirtshaus- und die Wappenschilder?
Wer hat die Reihe deiner Väter
Seit tausend Jahren oder später
So meisterlich in Öl gesetzt,
Wer wird von allen hochgeschätzt?
Der Farbenkünstler! Und mit Grund!
Er macht uns diese Welt so bunt."

Wilhelm Buschs Verse bilden nur einen Bruchteil der Orte ab, an denen Bilder seinerzeit zu finden waren. Zu verdanken haben wir den Umstand dieser Bilderflut einem armen Theaterkünstler, Alois Senefelder, der Ende des 18. Jahrhunderts nach einem Weg suchte, seine selbstgeschriebenen Bühnenstücke billig zu duplizieren, und dabei die Lithografie erfand.

Senefelder: "Da wirst du, dachte ich, deine eigenen Geistesprodukte selbst drucken."

Noch zu Senefelders Zeiten wurde die Erfindung pathetisch dargestellt, als ob es sich um eine der größten der Weltgeschichte handelte:

"Eines Abends stand an den einsamen Ufern der Isar, nicht weit von den Thoren Münchens, finster und träumend ein junger Mann von abgezehrter Gestalt und fahler Gesichtsfarbe, mit wenigen krampfhaften Gebärden über einem düsteren Vorsatze brütend. Was war für ihn das Leben in dieser Welt des Elends und der Thränen? … Senefelder nähert sich mit festen Schritten dem Flusse, als zu seinen Füßen im Sande ein flacher, glatter, feinkörniger Stein sich seinem Blick darbietet. Bei diesem Anblicke blitzt in seinem Geiste ein leuchtender Gedanke auf."

Die Geschichte der Lithografie fängt mit dem Steindruck an

Senefelder entwickelte den Steindruck, ein chemisches Verfahren, bei dem Farbe auf einen Kalkstein geätzt und, auf der Basis des Wissens, dass Wasser und Öl sich abstoßen, Bilder reproduzierbar gemacht wurden. Ein komplexes Verfahren mit vielen Hürden, die Senefelder alle meisterte. Zunächst musste der richtige Stein gefunden werden, auf den das zu reproduzierende Bild gemalt wurde. Es stellte sich bald heraus, dass Solnhofener Naturstein durch seine Feinkörnigkeit und Reinheit die besten Qualitäten für die Lithografie aufwies - eine Tatsache, die dem Meer der Urzeit zu verdanken ist: Weil es im Urmeer um Solnhofen fast keine Strömungen gab, konnten die Gesteinsschichten "gemütlich" sedieren. (Legenden nach wurde dieser Stein schon für den Bau der Hagia Sophia in Istanbul verwendet, doch gibt es dafür keine Beweise.) Weit komplizierter war das Malen auf den Stein - das Motiv musste spiegelverkehrt gezeichnet werden, und künstlerische Neigung war notwendig. Senefelder bildete speziell für das lithografische Verfahren Lehrlinge aus. Die Entwicklung einer besonderen Druckerpresse, einer neuartigen "Reiberdruckpresse", in die man den Stein einspannen konnte und die genügend Druck entwickelte, ohne dabei den Stein zu versehren - auch hierfür fand Senefelder eine Lösung. Das Einzige, was ihm misslang, war, durch seine Erfindung reich zu werden.

Bis zu Senefelders Erfindung der Lithografie, dem Flachdruck oder Öldruck, mussten Bilder im Hoch- oder Tiefdruckverfahren gefertigt werden, als Holzschnitt, Kupferstich, als Radierung oder Holzstich. All diese Verfahren hatten den Nachteil, dass die Zahl der möglichen Drucke endlich war: Beim Holzschnitt konnte man etwa tausend Kopien anfertigen, beim Kupferstich war das schon die absolute Höchstgrenze, und bei einer Radierung waren nur hundert bis zweihundert Abzüge möglich. Wollte man die Bilder farbig gestalten, musste mit Hand und Schablone nachkoloriert werden (eine Tätigkeit, die oft von Frauen ausgeübt wurde). Dafür gab es nur eine geringe Auswahl an Farben. Durch Senefelders Erfindung aber, und durch alle folgenden, die darauf aufbauten, waren bis zu zwanzig Farben in einem Bild möglich, das zudem schnell und auch noch unendlich oft vervielfältigt werden konnte. War das Bild auf dem Stein "abgenutzt", konnte man es auf einen weiteren Stein kopieren; meist hatte man einen Mutterstein, der als Vorlage diente. War man mit einem Motiv fertig, konnte der Stein millimeterdünn abgeschliffen und für ein neues Motiv verwendet werden. In den Fachblättern der Zeit wurden gebrauchte Lithosteine billig angeboten, teilweise noch mit der letzten Zeichnung, zum Nachdruck.

Bilder wurden zur Massenware

Das Potenzial dieses Verfahrens wurde von der Industrie sofort erkannt und revolutionierte das Leben aller. Das Zeitalter der Bilder war angebrochen.

Kolporteure - Bilderhändler - hatten schon im 16. und 17. Jahrhundert Bilderhandelsstraßen ausgebaut, die von Italien bis nach Sibirien reichten. Auf Jahrmärkten, an Stadtmauern oder an festen - "stationary" - Orten vor den Toren der Stadt (daher das englische Wort stationary für einen Papierverkäufer) boten sie ihre Bilder an. Es gibt unzählige Abbildungen von solchen Verkäufern. Dank Senefelders Erfindung wurde es möglich, selbst die Werke alter Meister zu reproduzieren und billig anzubieten, für weniger als die Hälfte des Preises anderer Druckmethoden. 1837 gab es in Berlin siebzehn Steindruckereien, knapp fünfzig Jahre später waren es tausendfünfhundert Betriebe, wenn man die freien Lithografen dazuzählte. Diese rasante Entwicklung war nur möglich durch eine Spezialisierung der Industrie, die die Arbeit der Lithografen in die der Steinmaler und die der Drucker unterteilte, ihre Produkte auf den internationalen Messen ausstellte und begann, durch Kataloge zu werben. Die Steinmaler bekamen, was sie verlangten, und wurden händeringend gesucht. Auch die Drucker, die den Stein vorbereiten mussten und dann den Druck durchführten, verdienten für die Verhältnisse der Zeit gut. Der Bedarf an Bildern aller Art schien unersättlich.

Denken in Bildern, Erziehen in Bildern, seinen Geschmack zeigen in Bildern. Man begann bunte Grußkarten zu Ostern oder Weihnachten zu verschicken. Geschäftspapiere wurden gedruckt, Produkte durch Plakate beworben. In den Schulen wurden Schulwandbilder aufgehängt und revolutionierten die Vorstellungswelt der Kinder. Lexika, die zuvor nur die Gelehrten benutzten, nannte man plötzlich "Konversationslexika" und illustrierte sie bunt. Bildungsbürger zeigten damit ihren guten Geschmack.

Wandbilder - für jedermann erschwinglich

Unvergessen sind Liebigs Fleischextrakt-Sammelbildchen, die jedem Liebig-Produkt beigelegt waren und Themen wie "Merkwürdige Bäume", "Straßenszenen der Welt" oder "Baustile" darstellten. Es waren dicht erzählende Bilder, natürlich stereotypisiert, aber so eindrücklich, dass ihre Bildsprache bis heute nachhallt. Und es waren nicht mehr nur die Reichen, die ihre Wohnungen mit Bildern schmückten - Wandbilder waren nun für jedermann erschwinglich. Auf alten Fotos von Berliner Mietwohnungen sieht man es deutlich: An jeder noch so abgewetzten Tapete zeigten ausgewählte Bilder ein bisschen Liebhaberei, Romantik, Mut zum eigenen Geschmack. Bilder bekamen den gleichen Stellenwert wie Möbel. Die Zeitschrift "Die Gartenlaube" schrieb 1884 dazu:

"Der schöne Luxus reichster Leute wird immer mehr zu einem bürgerlichen Gemeingut, so dass Schönheitssinn und durchheiterte Häuslichkeit aus den Bel-Etagen bis in die Dachkammer hinauf- und in die Keller hinuntersteigen, der Rohheit und Hässlichkeit den Mund stopfen und die Faust lähmen."

Es war ein aufkeimender Reformationswille, vor allem unter den Kunsthändlern und den gerade entstehenden Kunstvereinen, die hofften, durch klassische Bilder auch die klassische Bildung zu fördern. So erklärte der berühmte Kunstverleger Gaillard:

"Hier findet man in mancher kleinen Hütte, fern an den Grenzen der Kulturbezirke und tief im Lande, wo keine Straßen sonst die fortschreitende Bildung hintragen und der Weg zu den Bildergalerien großer Städte herzlich weit ist, treffliche Nachbildungen der besten Werke der größten Künstler an den Wänden, an denen sonst nur jämmerliche Machwerke farbenbeckleckster Bilderbogen zu finden waren. So macht der Öldruck unsere Kunst zum Gemeingut aller."

Bestes Schlafzimmerbild - für jeden Raum das passende Motiv

Die Kunstvereine und Kunstverleger arbeiteten zusammen und sprachen Empfehlungen aus, welche Art von Bild sich für welchen Raum eigne. Für den Salon wurden große historische Darstellungen und Landschaften empfohlen. Böcklins "Toteninsel", ein Bild, das 1880 entstand, wurde zu einem der beliebtesten Salonbilder, weil "es sich durch seine Größe am besten zur Ausschmückung der Sofawand eignet". Für das Speisezimmer wählte man "fröhliche, unbeschwerte Motive"90 wie die Stillleben der Niederländer. Im Herrenzimmer fanden sich orientalische Schönheiten, trinkende Mönche oder Bacchus-Darstellungen, und der Spitzenreiter für das Schlafzimmer war der Elfenreigen. Für das Kinderzimmer wurde eine -eigene Bildsprache entwickelt: Märchenszenen und Schutzengel; man versuchte sich an klaren Linien und kräftigen Farben. Auch der öffentliche Raum wurde bebildert: Handwerksstuben bevorzugten patriotische Motive an ihren Wänden, Handelskontore Kalender, und Friseure zeigten den Kaiser. Der Klassiker bei den Sozialdemokraten war ein gestickter Haussegen mit einem Porträt von Marx oder Engels. Für Krankenhäuser gabs Heiligenbilder. Selbst für Militärlazarette entdeckte man, dass "das Bild eines der wirkungsvollsten und edelsten Mittel bietet, den Krieger gewissermaßen herauszureißen aus Schrecken und Vernichtung".

Wie sehr man selbst beim Reisen erwartete, von interessanten Bildern umgeben zu sein, zeigt ein Ausschnitt aus dem Buch "Menschen im Hotel" mit einer Passage von 1929:

"Buchhalter Kringelein inspizierte sein Zimmer im Grand Hotel - die Möbel - Kringelein befühlte sie, waren aus poliertem Nussholz. Solche Möbel gab es in Fredersdorf auch. Ein Bismarckbild hing über dem Bett. Kringelein schüttelte den Kopf. Er hatte nichts gegen Bismarck, aber der hing auch zu Hause. Dunkel erwartete er im Grand Hotel andere Bilder über den Betten, üppige, bunte, außergewöhnliche Bilder, die Vergnügen machten."

"Sei gesegnet die Stunde, in der ich sie erfand"

Überhaupt empfahl die Zeitschrift "Der Kunstwart", für Reisen in die Sommerfrische sein eigenes Bild mitzunehmen, um den Aufenthalt erträglicher zu machen.

Unschlagbar waren die Heiligenbilder, ob ganz klein im Fensterrahmen oder groß, mit dramatischen Lichteffekten und kitschig verklärt. Christliche Bildvereine kämpften gegen den Massenschund der Kunstvereine und boten doch nur das Gleiche an. Die aufsteigenden Kunstdruckverlage priesen ihre Bilder in Katalogen: "Ein religiöser Wandschmuck allerersten Ranges", "Bestes Schlafzimmerbild!", "Interessante Szene aus dem Ballsaal, nicht ohne Pikanterie, aber trotzdem sehr dezent".

Senefelder, der Unschuldige, schrieb ein Buch über seine Erfindung des Steindrucks und beendete sein erstes Kapitel mit den Worten:

"Ich wünsche, dass sie bald auf der ganzen Welt verbreitet, der Menschheit durch viele vortreffliche Erzeugnisse vielfältigen Nutzen bringen, und zu ihrer größeren Veredelung gereichen, niemals aber zu einem bösen Zwecke missbraucht werden möge. Dies gebe der Allmächtige! Dann sei gesegnet die Stunde, in der ich sie erfand!"

Senefelders Erfindung machte Bilder zur Massenware. Sie werden nicht nur im Guten genutzt, Propagandabilder treffen tief ins Herz, Werbung weckt Gefühle, die ohne die Bilder nicht mit diesen in Verbindung gebracht werden würden. Das Medium Bild war so stark geworden, dass an seiner Reproduktion weiter gefeilt und entwickelt wurde. Das Offsetverfahren löste Mitte der zwanziger Jahre die Lithografie ab. Heute wird wieder anders gedruckt; vor allem im Digitaldruck: Grafiker am Computer erarbeiten die Bilder. Lithografen findet man nur noch vereinzelt in der Kunstszene, wo die Handwerklichkeit dieser Methode hoch geschätzt wird.


Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch von Michaela Vieser "Von Kaffeeriechern, Abtrittanbietern und Fischbeinreißern", illustriert von Irmela Schautz; erschienen im C. Bertelsmann Verlag.